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Regividerm: Chronik eines Medienskandals (Update 76)
Bin ich der einzige, der die gestrige ARD-Dokumentation über die von der bösen Pharmaindustrie seit 20 Jahren verhinderte rosafarbene Vitamin-B12-Salbe namens “Regividerm”, die Neurodermitis zu “heilen” in der Lage ist, spontan für einen aberwitzigen PR-Stunt erster Güte hält?
Hier der Link zur Sendung.
Die Süddeutsche Zeitung glaubt die Geschichte.
Fefe, unumstrittener Experte für Verschwörungen jeglicher Art, glaubt sie auch.
Die Home-Page des Herstellers: www.regividerm.de
Wir haben uns deshalb gegen alle Widerstände entschlossen, Regividerm® Salbe selbst zu produzieren und hoffen, damit schon bald den Betroffenen der großen Zivilisationskrankheiten Neurodermitis und Psoriasis (Schuppenflechte) wirksam und nebenwirkungsarm helfen zu können!
Update: Mehr über die Hintergründe gibt es in einem gut 5 Jahre alten Artikel der Boocompany.
Update 2: Vielleicht fehlt ja dem Autor auch ein wenig Abstand zu seiner Geschichte:
Update 3: Martens’ Rezeptbuch zur Doku erreicht Platz 5 der Amazon-Bestsellerliste.
Update 4, 14:30: Platz 3. Herta Müller ist gepackt. Da geht noch was.
Update 5, 17:45: Wer das Rezeptbuch noch nicht bestellt hat, kann sich auch gleich die fertig zusammengerührte Wundersalbe holen. Das ging ja dann doch erstaunlich fix, wenn man das resignierte Gejammer im Film noch vor Augen hat.
Update 6. 18:05: Die Süddeutsche Zeitung bringt einen weiteren Artikel und hat noch nicht Lunte gerochen:
So lange wird er jedenfalls nicht mehr auf Regividerm warten müssen, dem Mann kann geholfen werden. Siehe Update 5.
Update 7: Ich habe ja schon so manche Markteinführung von fragwürdigen Medikamenten und Medizinprodukten verfolgt. Aber diese Geschichte hier hätte man nicht besser inszenieren können. Allein das Timing ist schon ein Meisterstück.
Update 8: Meine absolute Lieblingsstelle im Film ist übrigens ein Zitat von Professor Peter Altmeyer, einem der verantwortlichen Wissenschaftler der beiden bislang bekanntgewordenen Regividerm-Studien (bei ca. 11:25):
Update 9: Hier hat sich jemand die beiden rosabedingt unverblindeten Studien genauer angesehen und ist nicht überzeugt.
Update 10: Die Süddeutsche Zeitung freut sich jetzt in ihrem dritten ahnungslosen Artikel mit uns, dass Regividerm überraschenderweise doch nicht erst in 14 Jahren zu haben sein wird.
TV wirkt.
Update 11: In einem hektisch nachgeschobenen vierten Artikel beginnt die Süddeutsche Zeitung jetzt, mit kräftigen Schlägen zurückzurudern. Aber sie glauben immer noch, dass die Studien verblindet gewesen seien:
Nein. Denn wir wissen ja:
[Edit: In der zweiten Studie ging es dann doch, obwohl “das rosa ist”. Der unglaubliche Trick: Die Placebosalbe war auch rosa!]
Und:
Hätte mich ehrlich gesagt auch überrascht.
Update 12: 21.10., 21:00 Jetzt übernimmt Spiegel Online die PR-Arbeit für die Wundersalbe.
Update 13: Martens bekommt bei Frank Plasberg mit einem seltsam deplaziert wirkenden Auftritt noch einmal eine Plattform für seine Wundersalbenmär, eiert aber gewaltig herum und kommt in der Diskussion mit den anderen Gästen schwer unter die Räder (gegen Ende der Sendung). Auch Markus Grill, nicht im Verdacht, ein Pharmalobbyist zu sein, zeigt sich überaus skeptisch. Er weist auf einen weiteren fundamentalen Denkfehler in der Geschichte hin: Der Preis der Zutaten bestimmt in diesem Markt bekanntermaßen nicht den Preis des Medikaments. Ganz im Gegenteil könnte ein Pharmaunternehmen, das die Patentrechte besitzt, nahezu jeden beliebigen Preis für die Salbe verlangen, wenn sie denn nur besser wirken würde als Vergleichspräparate (wofür es in den beiden vorliegenden Studien keinerlei Anhaltspunkte gibt). Eine zentrale Säule von Martens’ Verschwörungstheorie ist es ja, dass der “günstige” Preis der Salbe quasi vom Erfinder oder durch den geringen Preis der Zutaten vorgegeben sei, und dadurch im Falle einer Vermarktung der Salbe durch Big Pharma der bisherige große Reibach mit teuren (und schlechten) Präparaten ein Ende gehabt hätte.
Update 14: Jetzt ist die Story in den Nachrichten der ARD-Radiosender angekommen. Als Quelle für die Geschichte dient Spiegel Online. Märchen-Ping-Pong.
Update 15: Im Ökotest-Forum, in dem die Geschichte fachkundig kommentiert wird, ist ein weiterer eklatanter Widerspruch aufgefallen:
Er wurde gestern von Plasberg gefragt, was denn Klingelhöller von dem Spinner in der Garage unterscheide.
Martens (sinngemäß): er hat erst klinisch geprüft und dann versucht, zu vermarkten.
Ja klar. Augenrollen
Für das angebliche “Jahr Recherche” ist das aber sehr mager. Er widerspricht damit sogar seinem eigenen Bericht. Aus dem Bericht geht klar hervor, dass die Mini-Studien erst nach 2000 angeleiert wurden.
Das Patent läuft dagegen auf 1994 und er hat das nach dem Bericht nach schon 1994 mehreren Firmen angeboten. hat Martens seinen eigene Film nicht gesehen?
Update 16: Ein Leser weist uns in den Kommentaren darauf hin, dass zur rechtzeitigen Erteilung der PZN (Pharmazentralnummer) für Regividerm eine Anmeldung spätestens am 25.9. notwendig war (links auf “Redaktionskalender” klicken). Dieser Termin liegt vor der ersten uns bekannten öffentlichen Erwähnung der Martens-Doku in einer KNA-Pressemeldung von 29.9. Ist noch irgendeine Aussage der Protagonisten übrig, die sich noch nicht als falsch entpuppt hat? (Siehe dazu auch
diesen Kommentarthread. )
Update 17: Regividerm: Wenn die Ethikkommission Urlaub hat…
Update 18: Wir begrüßen fast drei Tage nach der Sendung die Deutsche Apotheker Zeitung als das erste “Mainstream-Medium”, das den Verstand wenigstens nicht komplett an der Garderobe abgegeben hat.
Update 19: Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Augsburger Allgemeine – die seinerzeit sogar unser Bankhofer-Video eingebunden hatte – schenkt uns einen Link.
Update 20: Auch der zu Beginn des Artikels erwähnte Blogger Fefe rudert jetzt zurück:
Update 21: Nachdem die eidgenössische Presse erst in breiter Front unkritisch auf das Thema eingestiegen war, vernehmen wir jetzt deutliche Worte aus der Schweiz:
Update 22: Aus dem gleichen Text eine Passage, die meine Ausgangsthese noch einmal schwarz auf weiß bestätigt:
Update 23: Die dpa ist zwar spät dran, dafür hat sie trotzdem nichts kapiert. Erbärmlich.
Update 24: Wenigstens die Nachdenkseiten haben, wenn auch spät, das getan, was ihr Name verspricht.
Vielleicht auch ein Vorbild für andere?
Update 25: Der Deutsche Neurodermitis Bund meldet sich zu Wort:
[…]
Die ARD hat mit diesem Beitrag den etwa fünf Millionen Neurodermitikern einen Bärendienst erwiesen und sich selbst journalistisch ins Abseits gestellt.
Update 26: Unterdessen sackt der vom Lügengebäude übriggebliebene Trümmerhaufen noch weiter in sich zusammen (vgl. Update 16):
Update 27: Medienjournalist Stefan Niggemeier nimmt sich im FAZ-Fernsehblog den “Hart aber fair”-Moderator Frank Plasberg zur Brust:
Update 28: Hier noch ein pikantes Detail aus dem oben verlinkten Artikel der Deutschen Apotheker Zeitung:
Das würde man bei einer Bankhofer-Sendung in einem dubiosen Spartenkanal mit finanziellen Verbindungen zur Medienaufsicht eher erwarten. Allerdings gibt’s solcherart CDs für den Anbieter des angepriesenen Produkts dort üblicherweise nicht umsonst.
Update 29: Auch der Deutsche Psoriasis Bund (DPB) meldet sich zu Wort und fordert eine Entschuldigung von der ARD:
[…]
Der DPB hat den Vorsitzenden der ARD-Intendanten aufgefordert, sich mediengerecht, öffentlich für die Missachtung publizistischer Grundsätze bei den Menschen mit Schuppenflechte zu entschuldigen und den Deutschen Presserat angerufen.
Update 30, 23.10.: Eine recht nette Zusammenfassung der Ereignisse. Auszug:
Update 31: Es wird noch besser:
Update 32: Der WDR dokumentiert einige “kritische Reaktionen”. Vom Eingeständnis des eigenen Versagens keine Rede.
Update 33: Ein Betroffener berichtet, wie er die Kampagne erlebt hat.
Update 34: Einen schönen Überblick über den Fall mit lehrreichen Hinweisen für angehende Medizinjournalisten gibt es übrigens bei den Kollegen vom Esowatch-Blog.
Update 35: Die Kollegen von den ScienceBlogs haben sich die dürre Studienlage zu Gemüte geführt. Eine weitere Einschätzung hatten wir schon bei Update 9.
Update 36 Die Kollegen von Esowatch haben in kurzer Zeit einen beeindruckenden Artikel zum Stichwort Regividerm auf die Beine gestellt, der die bislang bekannten Fakten in klarer Sprache zusammenstellt. (Wenn man das jetzt mit dem vergleicht, was der preisgekrönte Starjournalist Klaus Martens nach “einem Jahr Recherche” herausgefunden hat…)
Update 37: Löscht der WDR kritische Kommentare zum Regividerm-Märchen?
Update 38, 24.10., 11:15: Spiegel Online rudert endlich zurück, hält es aber bislang nicht für notwendig, seine erste Version des Märchens wenigstens mit einem entsprechenden Hinweis zu versehen. (vgl. Update 12)
Update 39, 18:45 Danke.
Update 40 Wahrheit unerwünscht: WDR löscht kritische Kommentare zu Regividerm
Update 41, 25.10., Das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” hat in seiner morgigen Ausgabe auf S. 105 ein Stück mit dem Titel Übler Nachgeschmack: In einer Dokumentation und bei “Hart aber fair” propagierte die ARD eine Paste, die gegen Neurodermitis helfen soll. Doch wem nutzt die wirklich? Den Artikel habe ich noch nicht gelesen. Es ist jedoch absehbar, was uns erwartet. Zum einen räumt Plasberg Fehler ein und Martens zeigt sich verkatert, aber uneinsichtig. Das kann bei Spiegel Online nachgelesen werden. Zum anderen haben die Hamburger gewohnt knallhart recherchiert. Mit neuen Fakten ist daher eher nicht zu rechnen:
Das hatten wir schon am Donnerstag (bei Update 16) wesentlich genauer.
Die ARD macht bislang keine Anstalten, auf die bevorstehenden Ausstrahlungen der Wundersalben-Werbesendung am 30.10. 30.11. und 4.11. zu verzichten, warnt aber in ihrem Videotext-Angebot seit Samstag vor Regividerm.
Update 42, 26.10.: Noch einmal Stefan Niggemeier: Das Wundersalbenmassaker
Update 43.: Und gleich noch einmal:
Sogar Journalisten.
Update 44:: Ebenfalls in der FAZ ein ordentlich recherchierter Beitrag zum Thema mit Schwerpunkt auf den medizinischen Hintergründen:
Update 45: Ein offenkundig in Biochemie bewanderter Kommentator auf der Seite Psoriasis-Netz.de hält die Salbe für gefährlich und potentiell krebserregend und begründet dies im Detail. Seine Vermutung ist, dass es aufgrund der speziellen Absorptionseigenschaften von Vitamin B12 im Zusammenwirken mit Tageslicht zur Bildung von hoch reaktivem Singulettsauerstoff kommt, der auf der Haut zur Schädigung von Zellen führt. Die in einer der Studien beschriebenen Nebenwirkungen könnten durch diesen Effekt zu erklären sein. (Seine Aussagen zum Singulettsauerstoff sind nach meinem Kenntnisstand korrekt; das Thema hat mich in einem anderen Zusammenhang schon einmal interessiert. Wir würden uns über eine Kontaktaufnahme freuen.)
Update 46: Chemiker und Wissenschaftsblogger Lars Fischer hält den beschriebenen Mechanismus für plausibel. Ich würde lieber erst einmal abwarten, bevor ich die Salbe nach der ARD-Rezeptur anrühren lasse und einem Kind auf die Haut schmiere. Die Redaktion des Arzneitelegramms habe ich um eine Einschätzung gebeten.
Update 47: Überraschung: Dr. Dr. Michael Kroll, der in der Dokumentation einen absurden Laienspiel-Auftritt als “Hautarzt” hat (wie mehrfach betont wird), dem die Vorräte an der Wundercreme zur Neige gehen, und der deshalb vor laufender Kamera den Regividerm-Vermarkter telefonisch kontaktiert und im fahrenden Auto erwischt, wo durch viel Glück gerade ein zweites Kamerateam seinen Gesprächspartner im Bild hat, ist gar kein Hautarzt, sondern Chemiker und Allgemeinarzt.
(Screenshot aus der ARD-Dokumentation “Heilung unerwünscht”)
Dafür findet sich im Internet-Archiv der Auftritt einer “Klifo-Med Dr. Dr. Kroll GmbH”, die sich folgendermaßen beschreibt:
Die Auftritt von Kroll in der Dokumentation ist ganz großes Kino, nur noch bei Youtube zu sehen, ab ca. 6:41.
Update 48: Post vom Arzneitelegramm zu der Hypothese, dass Regividerm aufgrund der photochemischen Eigenschaften von Vitamin B12 krebserregend sein könnte (vgl. Update 45 u. 46):
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang BECKER-BRÜSER (Arzt und Apotheker)
Redaktion arznei-telegramm
Update 49: Phiola reicht gerade ein aufschlussreiches Impressum aus dem Internet-Archiv herein:
Kroll kennen wir schon aus Update 47, das ist der Herr, der in der besagten Szene den um das Wohlergehen seines Patienten besorgten Hautarzt mimt. Merges ist sein Gesprächspartner am Handy, der, bei dem Martens Kamerateam just im rechten Moment im Auto sitzt.
(Screenshot aus der ARD-Dokumentation “Heilung unerwünscht”)
Mehr über die Firma auf ihrem aktuellen Web-Auftritt www.mit-gesundheit.com.
Starjournalist Martens kommt aus meiner Sicht allmählich in Erklärungsnot.
Update 50, 29.10.: NDR Zapp hat gestern abend über den Fall berichtet. Die Sendung bleibt eher an der Oberfläche und vermeidet es, dahin zu gehen, wo es richtig weh tut (vgl. Update 47, 49). Immerhin steuert sie ein paar neue Erkenntnisse bei, die die Sache immer wahnsinniger erscheinen lassen. “Hart aber Fair” spricht auf einmal von sechs (!) Studien (“valide”, “seriös”!). Und der WDR hatte schon vor einiger Zeit mit dem Bremer Pharmakologen Peter Schönhofer Kontakt aufgenommen. (Nach meiner Vermutung deshalb, weil dieser als scharfer Kritiker der Pharmaindustrie bekannt ist und somit in den Augen des WDR-Redakteurs vielleicht zur Unterfütterung der Verschwörungstheorie hätte beitragen können.) Schönhofer warnte den WDR-Redakteur jedoch statt dessen vor der Salbengeschichte, weil die Datenlage dazu vollkommend unzureichend sei, worauf er in der Sache nie wieder etwas vom WDR hörte. Dazu die Diskussion bei uns in den Kommentaren.
Update 51: Nach der “Augsburger Allgemeinen” riskiert jetzt auch “Zeit Online” einen Link auf uns: Medien-Kontrolle:
Internet prangert allzu unkritischen WDR-Bericht an.
Update 52: Übrigens ist auch der angebliche Hautarzt Januchowski allem Anschein nach kein Hautarzt. Die Kollegen von Esowatch schreiben dazu:
Update 53: Zur Vorlage bei der ARD: Auszüge aus dem Heilmittelwerbegesetz
Wenn sie das Stück morgen und am 4.11. noch einmal senden, dürfte sich das vor Gericht nicht unbedingt positiv auf die Prognose auswirken. Herr Martens selbst kann die Summe nötigenfalls sicher aus seinen Tantiemen bestreiten.
Update 54: Der WDR hat nach eigenen Angaben ein journalistisches Selbstverständnis. Mehr noch, dieses sei mit einer Beteiligung an einer PR-Aktion nicht vereinbar. Deshalb kann der WDR diese Möglichkeit überzeugend ausschließen:
Update 55, 31.10.: Ich habe diesem Artikel, der bis gerade eben schlicht “Frage” hieß, einen etwas aussagekräftigeren Titel gegeben.
Update 56, 1.11.: Die österreichische Tageszeitung “Der Standard” erlaubt sich in ihrer morgigen Ausgabe als erstes “Mainstream-Medium”, die Rolle von “Hautarzt” Dr. Kroll anzusprechen:
Update 57: Der Kommentator, der auf Psoriasis-Netz.de vor möglichen schwerwiegenden Gesundheitsschäden durch auf die Haut aufgetragenes Vitamin B12 unter dem Einfluss von Tageslicht gewarnt hat, hat seine Theorie in einem weiteren Kommentar zurückgezogen:
geschrieben von Biochemiker48 , 28.102009
Nach weiteren Nachforschungen und Rücksprache mit einem weltweit führenden Experten kann ich Entwarnung geben:
Vitamin B12 scheint bei Belichten die Ausbildung von Singulettsauerstoff nur in einem sehr geringen, insignifikanten Ausmass zu bewirken.
Dennoch bleibt zu beachten, dass in der zweiten klinischen Studie bei 5 von 45 Patienten, die Behandlung mit Revigiderm wegen gravierender Nebenwirkungen abgebrochen werden musste.
Zu diesem Thema gibt es auch einen weiteren Artikel auf Psoriasis-Netz.de.
Update 58, 2.11.: Hinweis an den Tagesspiegel und andere: Die weitere, vielleicht auch betont kritische Beschäftigung der Medien mit einer wissenschaftstheoretisch nicht auszuschließenden begrenzten Wirksamkeit der rosa Salbe, die feige darauf verzichtet, die Manipulationen, handfesten Lügen und Widersprüche in Martens’ Stück aufzudecken, spielt alleine den Profiteuren der Kampagne in die Hände und hat mit Journalismus nichts zu tun. Es gibt vermutlich hunderte, wenn nicht tausende von windigen Präparaten und Heilmethoden, zu denen es bessere Ministudien gibt als zu Regividerm, über die aus guten Gründen trotzdem nicht in der Tagespresse berichtet wird.
Update 59, 4.11.: Es geht “überraschend früh” los. Auch Österreich darf sich auf die Supersalbe freuen:
Update 60: So richtig scheint das Selberanrühren auf Basis des veröffentlichten Rezepts nicht zu funktionieren:
In eigenen Versuchen ist es Wolf nicht gelungen, mit der vom Hersteller publizierten Rezeptur eine stabile hydrophile Creme herzustellen.
Das wäre bestimmt ein quotenträchtiges Thema für eine Kochsendung mit Kerner und seinen Fernsehköchen. Vielleicht hilft noch ein wenig frisches Basilikum?
Update 61: Ob das für die Trittbrettfahrer mit ihren “Startersets” ein Grund ist, nachzubessern (z.B. www.suppenkoechin.de/pflegeprodukte/starterset.php)? (via)
Update 62, 5.11.: Die Dr. August Wolff GmbH ist eines der 16 Unternehmen, dessen Desinteresse an der Salbe in der vom WDR veröffentlichten Liste von Absagen von Pharmakontakten zur Untermauerung von Martens’ Verschwörungstheorie herhalten musste. Vermittler in Diensten der Regeneratio-Salber war dem Dokument zufolge auch hier Dr. Merges (vgl. Update 49). Der knappe Kommentar zu dem Wolff-Kontakt in der Liste beschränkt sich auf das Ergebnis: “28.07.05 Absage”. Christoph Abels, der als habilitierter Hautarzt und medizinischer Direktor bei Wolff tätig ist, erklärt nun gegenüber der “Neuen Westfälischen”, warum er die Salbe nicht für erfolgversprechend gehalten hat:
(Nachtrag: Ein Leser weist darauf hin, dass eigentlich nicht das Molekulargewicht, sondern die räumliche Struktur des Moleküls dafür entscheidend sei, ob es in die Haut eindringen könne oder nicht, und wundert sich, dass Abels hier so ungenau argumentiert.)
Update 63: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Noch immer traut sich kein deutscher Journalist, die Lügen, Widersprüche und Manipulationen in Martens’ Film offen anzusprechen. Eines von vielen Beispielen der zwar kritische, aber in der Sache windelweiche Artikel von Werner Bartens in der SZ.
Update 64: In unseren Kommentaren haben schon mehrere Leser über das “Buch zum Film” berichtet. Die Begeisterung über das Werk hält sich bislang eher in Grenzen. Exemplarisch ein Zitat von Kommentator “hema”:
Also, selbst wenn die Geschichte nicht so zusammengeklebt wäre UND nicht so reißerisch UND nicht so unwahr in etlichen Aspekten UND etliche Dinge nicht verschwiegen würden, hätte sich Martens mit diesem Buch keinen Gefallen getan. Einfach zu schlecht nach meiner Meinung.
Das bestätigt ungefähr den Eindruck, den mir die offizielle Leseprobe vermittelt hat.
Update 65: Wie schon den Begriff “Hautarzt” legt Martens auch den Begriff “Pharmaunternehmen” sehr weit aus, damit seine Verschwörungstheorie nicht schon im Ansatz zusammenfällt. Das erste, angeblich unter höchst konspirativen Bedingungen telefonisch eingegangene Angebot eines “großen Pharmaunternehmens” und “Pharmaherstellers”, das Klingelhöller per Telefon erhalten haben will, kann – glaubt man der Beschreibung in Martens’ Buch – wohl nur aus den Reihen des Kosmetik- und Konsumgüterkonzerns Beiersdorf (u.a. “Tesa”, “Nivea”) gekommen sein (vgl. auch
Pharmaunternehmen).
[Nachtrag: Im Film wird der Name “Beiersdorf”, anders als im Buch, in diesem Zusammenhang sogar explizit genannt. ]
Unter dem Titel “Die Nivea-Connection” wäre der Film vielleicht nicht so ein Reißer gewesen.
Und: Die Beiersdorf-Salbe “Laceran”, derentwegen das Regividerm-Patent vom bösen “großen Pharmaunternehmen” nach Martens’ Theorie gekauft und unterdrückt werden sollte, um sich die damit erzielten horrenden Gewinne auf Kosten der Patienten rücksichtslos für alle Zukunft zu sichern, erhält man beim gut sortierten Online-Versand seines Vertrauens nicht für 25,10 Euro, sondern – seit 1998 unter Namen wie “Eucerin Urea” – bereits zu Preisen zwischen 5,44 und 12,38 Euro.
[Anmerkung: Die hier ursprünglich genannte noch niedrigere Preisangabe von 1,93 Euro beruhte auf einem Datenbankproblem von “medvergleich.de”, das dazu führt, dass die “Laceran-Salbe UREA, 150ml” einem Proteinpülverchen eines anderen Herstellers zugeordnet wird. Dank an “lostinnl”.]
Update 66: Das Eso-Blog veröffentlicht eine Medienbetrachtung zum Regividerm-Skandal:
Update 67, 7.11.: Die Fachpublikationen “Laborjournal” und “arznei-telegramm” thematisieren in ihren November-Ausgaben die rosa Salbe und nennen dabei die Dinge beim Namen. Im “Laborjournal” heißt der Artikel “Schleichwerbung für Quacksalbe und Wunderbuch” (im Inhaltsverzeichnis “Verschwörungstheorien: Schleichwerbung für eine Quacksalbe”), eine Zusammenfassung findet sich bereits in der Wikipedia. Im “arznei-telegramm” heißt der Artikel “Vorsicht Desinformation – Regividerm: ARD als Marketinghelfer”. Eine Zusammenfassung dieses Artikels folgt.
Update 68, 8.11.: Aus dem Artikel des “arznei-telegramms” (a-t):
[…]
In Blogs und auf anderen Internetseiten werden zahlreiche, zum Teil groteske Ungereimtheiten und Widersprüche der Sendung diskutiert und aufgedeckt.
Nach Einschätzung des a-t lässt sich ein Nutzen der Salbe durch die vorliegenden Studien nicht hinreichend belegen. Hinzu komme, dass die häufigen lokalen Unverträglichkeiten, entgegen der Behauptung der ARD, die Salbe habe “keine Nebenwirkungen”, in einer der Studien auffallend seien. Fazit:
Update 69: Filmautor Klaus Martens möchte “zur Zeit mit niemandem mehr über dieses Projekt reden”.
Update 70, 10.11.: Der Deutsche Neurodermitis Bund veröffentlicht noch einmal (vgl. Update 25) eine Stellungnahme zu Regividerm, dieses Mal mit einem umfangreichen Überblick über zahlreiche Ungereimtheiten in der Geschichte, und tritt damit Vorwürfen entgegen, er stecke “mit den kriminellen Machenschaften der gesamten Pharmaindustrie unter einer Decke”.
Update 71: Das Magazin “Focus” hatte bereits am 26.10. einen ordentlichen Artikel zum Thema.
Update 72, 11.11.: Der WDR, der sich bislang öffentlich noch keinen Millimeter von Martens’ Stück distanziert hat, verzichtet anscheinend klammheimlich auf die für den 30.11. um 22:00 Uhr geplante Wiederholung des Films im WDR-Fernsehen und kündigt am vorgesehenen Sendeplatz statt dessen die Sendung “Ware Haare – Das weltweite Geschäft mit der Schönheit” an. Die Sendung stammt aus dem Archiv der gleichen Reihe (“die story”), wurde aber bereits im Februar ausgestrahlt. (Dank an “lostinnl”)
Update 73: Das “Laborjournal” hat den bereits erwähnten Artikel (vgl. Update 67, 69) dankenswerterweise (in leicht erweiterter Fassung) online verfügbar gemacht. Wie kein anderer Presseartikel bisher bringt Winfried Köppelles Text die Dinge in klaren Worten auf den Punkt. Kostproben:
[…]
Martens’ Rührstück, das beim WDR in der Sendereihe „die story“ lief (Selbstbeschreibung: „Gute Recherche, klarer Erzählstil, berührende Themen“), kam bei den Kommentatoren vieler Qualitätsmedien hervorragend an. Die Fernsehkritikerin der Süddeutschen Zeitung etwa lobhudelte: „[…] Ein Beitrag, in dem sich die Guten und die Bösen sehr klar voneinander unterscheiden lassen, fast so, dass es einen schon wieder misstrauisch machen könnte. Dass man es am Schluss doch nicht ist, spricht für die Sorgfalt des […] Klaus Martens, für seine Recherche und seine Art der Aufarbeitung.“
[…]
Ob Martens wirklich weiß, wovon er spricht? Ein volles Jahr will der WDR-Mann recherchiert haben – fragt sich bloß wo, angesichts der Fülle an Ungereimtheiten, peinlichen Fehlern und Täuschungsmanövern, die sein Film enthält.
[…]
Wie ging nochmal dieser GEZ-Werbespot? „Mit Ihren Rundfunkgebühren sorgen Sie für echte Qualität. Auch in Zukunft möchte ich nicht auf außergewöhnliche Fernsehfilme und Reportagen verzichten.”
Es scheint tatsächlich, dass den WDR-Oberen nichts und niemand peinlich ist.
Update 74: Der ARD-Sender rbb (Rundfunk Berlin-Brandenburg) setzt die ARD-Schleichwerbekampagne zur Markteinführung von Regividerm ungeniert fort. Die Zuschauer der Gesundheitssendung “Quivive” werden dabei in vorbildlicher Weise im Rahmen einer Art Mitmach-Reality-TV-Arzneimittelstudie in die PR-Arbeit eingebunden:
Wenn Sie vorhaben, am Besten gemeinsam mit Ihrem Arzt eine Behandlung mit der Salbe Regividerm zu beginnen, dann melden Sie sich bei uns! Wir sind an Ihren Erfahrungen interessiert und würden das gern mit der Kamera begleiten. Bei Interesse melden Sie sich unter folgender Telefon-Nummer: 01805 – 21 71 21 (14 Ct./Min. aus dem dt. Festnetz)
Ausgesuchte Serviceinformationen ergänzen das Angebot von “Quivive” auf der Webseite. Erwähnt wird zum einen die Psoriasis Selbsthilfe Arbeitsgemeinschaft e.V., vielleicht weil sie sich als einzige betroffene Patientenorganisation nicht empört über den ARD-Werbefeldzug für die rosa Salbe gezeigt hat (aber sicherheitshalber ohne Homepage und Link, nicht dass der informationssuchende ARD-Zuschauer noch mit einem weiteren Klick auf psoriasis-netz.de gelangt). Weiterhin darf ein “Buchtipp” (“Heilung unerwünscht – Die dramatische Geschichte eines Medikaments”, das Wort “verhinderten” hat der DuMont-Verlag inzwischen getilgt) ebenso wenig fehlen wie Hinweise auf “Infos im WWW”. Die gibt es an zwei Stellen. Zum einen auf der Website des Herstellers der Salbe (natürlich mit Link), zum anderen bei der ARD, wo man sich den Martens-Märchenfilm in der Mediathek in voller Länge zu Gemüte führen kann. (Dank an “tritta”!)
Update 75, 12.11.: Das Magazin “Stern” berichtet in seiner heute erschienenen Ausgabe unter der Überschrift “Wie die ARD einer Neurodermitis-Creme zu einem Verkaufserfolg verhalf, obwohl deren Wirksamkeit umstritten ist” ausgiebig über den Fall. Nach einer ersten groben Durchsicht enthält der Artikel viele der bekannten und auch ein paar neue Informationen. Nach Stern-Informationen wurde etwa der Hautarztdarsteller Kroll vom Unternehmensberater Merges für die Rolle an Martens vermittelt (das passt zu der von mir vermuteten Rollenverteilung). Es ist auch von einer WDR-internen “Prüfung” die Rede.
Update 76, 13.11.: Nach der Einschätzung von WDR-Programmdirektorin Verena Kulenkampff hat Autor Martens nach journalistischen Grundsätzen gearbeitet.
„Watson“ ist Special Guest
12. GESUNDHEITSWIRTSCHAFTSKONGRESS beginnt am Mittwoch in Hamburg „Medizinisches Wissen nur zu generieren, hat keinen Sinn, es muss die Patienten erreichen“, fordert der Präsident des 12. GESUNDHEITSWIRTSCHAFTSKONGRESSES, Prof. Heinz Lohmann. Weil aber kein Mensch alle relevanten neuen wissenschaftlichen Studien auch nur annähernd … Read more →
Der Beitrag „Watson“ ist Special Guest erschien zuerst auf lohmannblog.
Bericht zur Tagung "Braucht es eine neue Wissenschaftskultur?" der nationalen Akademien D/A/CH, 7. Juli 2014
Am 7. Juli fand an der Universität Zürich die Tagung „Braucht es eine neue Wissenschaftskultur?“ der nationalen Akademien der Schweiz, Österreichs und Deutschlands statt.
Was habe ich gelernt? Was ist mir aufgefallen?
Wie misst man eine Forschungsleistung? Was ist ein guter Forscher? Was zeichnet gute Forscher aus?
Wissenschaftskultur
Ich möchte dementsprechend unter „Wissenschaftskultur“ im Folgenden die Gesamtheit derjenigen Werte und Prinzipien verstehen, an denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in ihrem Umgang miteinander orientieren.
Damit unterstelle ich nicht, dass sich alle Forscherinnen und Forscher jederzeit und überall bei ihrer Forschung und Lehre an die Grundregeln der Wissenschaftskultur hielten. Aber das Entscheidende ist, dass es solche Regeln gibt, die von ihnen als gültig anerkannt werden müssen, wenn sie der „Scientific Community“ angehören wollen.
Anerkannte Werte und Prinzipien der Wissenschaft, trotz ganz unterschiedlichen Fachrichtungen wie Germanistik oder Maschinenbau.
Kernelement: Vertrauen
Die Wissenschaft als gemeinsame Leistung unzähliger Forscherinnen und Forscher basiert ganz wesentlich auf Vertrauen, und alle Faktoren, die das Vertrauen zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in die Ergebnisse ihrer Arbeit stärken, gehören meines Erachtens zu den
Kernelementen der Wissenschaftskultur. Prof. Sigmar Wittig (in Vertretung von Prof. Jörg Hacker), Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina
- Ehrliche Kommunikation der Resultate, z.B. Ergebnisse vollständig präsentieren und nicht nachteiliges weglassen
- Grösstmögliche Nachvollziehbarkeit eigener Forschungsergebnisse durch transparente Darstellung der Vorgehensweise und möglichst offene Zugänglichkeit der verwendeten Forschungsdaten
- Fairer Umgang mit wissenschaftlichen Beiträgen anderer, unabhängig von deren Reputation, z.B. keine Gutachten erstellen, bei vorhandenen eigenen Interessenkonflikten
- Skeptische Haltung: Fähigkeit zu zweifeln ein Leben lang kultivieren – und dieser Zweifel sollte nicht nur die Resultate anderer betreffen
Werte und Prinzipien: Bericht der internationalen Akademien, 2012
Die InterAcademy Council (IAC) und des InterAcademy Panels (IAP) – globale Netzwerke nationaler Wissenschaftsakademien – hat 2012 den Bericht „Responsible Conduct in the Global Research Enterprise“ („Verantwortungsvolles Verhalten im weltweiten Forschungsbetrieb“) verfasst.
[Ich möchte] nachdrücklich auf eine Veröffentlichung des InterAcademy Council und des InterAcademy Panels aus dem Jahre 2012 hinweisen, deren Lektüre allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern uneingeschränkt empfohlen werden kann.
Eine gute Wissenschaftskultur ist von enormer Bedeutung.
Ansonsten wäre der Erfolg des weltweiten Gemeinschaftsprojekts „Wissenschaft“ grundsätzlich bedroht.
Die Selbstorganisation der Wissenschaft funktioniert nur, wenn die Forscherinnen und Forscher sich Werten wie Fairness, Transparenz und Objektivität verpflichtet fühlen.
Unsere Tagung fände nicht statt, wenn es mit der Umsetzung des von mir skizzierten Berufsethos im Alltag von Forschung und Lehre zum Besten bestellt wäre.
Peer Review (Begutachtung)
Die heutige Wissenschaft ist ohne Peer Review nicht denkbar. Forschungsanträge und Publikationen werden durch andere Forscher begutachtet und beurteilt.
Der Peer Review ist etwa 250 Jahre alt und wurde von den „Philosophical Transactions“, dem offiziellen Publikationsorgan der Royal Society (London), im Jahr 1752 eingeführt. Um die Aufnahme zweifelhafter Manuskripte in die „Transactions“ zu vermeiden, wurden Mitglieder der Royal Society um Gutachten gebeten. Da fast alle Mitglieder Peers, also geadelte Angehörige des Oberhauses waren, entstand so der Ausdruck Peer Review. Nach heutigem Verständnis sind Peers ebenbürtige Fachkolleginnen und -kollegen.
In anderen Worten, die Begutachtung durch andere Forscher des gleichen Gebiets wurde eingeführt, weil die Herausgeber der Fachzeitschrift die Qualität der Forschung nicht mehr selbst beurteilen konnten. Die Spezialisierung war zu weit fortgeschritten.
Der Peer Review ist ein Qualitätskontrollsystem der Wissenschaft.
Bibliometrie/Scientometrie
Wie misst man gute Forschung?
Aktuell, vereinfacht gesagt, man zählt die Anzahl Publikationen, abgestuft nach dem Renommee der Fachzeitschriften und zählt die Anzahl Zitationen.
Sehr lohnenswert für Zitationen ist das Mitverfassen von Konsensberichten und Richtlinien. Solche Publikationen werden sehr häufig zitiert.
Alternative Qualitätsmessungen, wie Resonanz in sozialen Medien, haben auch ihre Tücken. „Tweets und Likes“ sind einfach zu erstellen.
Meine Meinung
Wenn der Gemessene die Messung kennt, versucht er die Messwerte positiv zu beeinflussen, auch durch Tricks und Manipulation. Gute und einfache Messsysteme können so schnell wertlos werden.
Geheime Messverfahren sind jedoch keine Lösung. Ohne Transparenz sind die Messresultate nicht vertrauenswürdig und kaum brauchbar.
Doch wie wäre es, wenn es unterschiedliche Messverfahren gäbe und diese zufällig gewichtet würden? Also die Einführung des Zufalls (Randomisierung). Wenn etwas objektiv sein soll, es aber schwierig ist, so kann der Zufall gute Dienste leisten. In der Medizin werden beispielsweise seit Jahrzehnten randomisierte, doppelblinde Studien durchgeführt.
Ansehen, Anreizsysteme
[Als wäre] die Wissenschaft ein reiner Wettkampf dessen einziges Ziel darin besteht, möglichst viele Gegner zu schlagen. Ist der internationale Wettbewerb ein reiner Selbstzweck, in dem es allein ums Prestige geht? Sollte die Funktion der Wissenschaft nicht eher darin bestehen, einen gut
ausgebildeten und motivierten Nachwuchs heranzuziehen und gesellschaftlich relevantes Wissen zu erzeugen? Prof. Marcel Weber, Département de philosophie, Université de Genéve
Was motiviert Forscher? Wie werden Forscher für gute Arbeiten belohnt?
Belohnungssystem der Wissenschaft
„Die Wissenschaftssoziologen Bruno Latour und Steve Woolgar haben 1979 in ihrem einflussreichen Buch ‚Laboratory Life‘ ein Modell dieses Belohnungssystems entwickelt. Darin postulieren sie, dass dieses System im Wesentlichen aus so genannten „cycles of credibility“ (Reputationszyklen) besteht. Ein solcher Abschluss stattet eine junge Wissenschaftlerin oder einen jungen Wissenschaftler mit einem Startkapital aus. Die Währung dieses Startkapitals ist „credibility“ oder wissenschaftliche Reputation. Wenn die Nachwuchswissenschaftlerin nun eine Stelle in einem Labor oder einer Arbeitsgruppe antritt, investiert sie dieses Kapital, und zwar den gesamten Betrag. Sie kann das Startkapital vermehren, indem sie Papers produziert. Gelingt ihr das über längere Zeit nicht, ist das Startkapital aufgefressen. Publish or perish [„Publiziere oder krepiere“], wie man sagt. Ein Reputationszyklus kommt an sein Ende, wenn unsere Forscherin eine neue Stelle antritt, oder ein eigenes Forschungsprojekt erhält, und so weiter.
Auch etablierte Forschende machen nach Latour und Woolgar nichts anderes: Sie investieren und reinvestieren laufend ihre wissenschaftliche Reputation und versuchen diese so zu vermehren. Der Reputationsmechanismus sorgt für eine angemessene Ressourcenallokation, für eine Arbeitsteilung und er ist auch Garant für die Qualität von Daten.“1
Karriere
Das Thema Karriere hat an der Tagung weitaus am meisten Raum eingenommen. Alle Vorträge gingen in irgendeiner Form auf das Thema ein. Wie lange dauert die Anstellung? Befristung auf ein, zwei Jahre oder unbefristet? Wer bekommt eine Chance? Wer wird Professor?
Die aktuelle Personalpolitik bringt verschiedene Probleme:
- Unmöglichkeit der Karriereplanung durch Kurzfristigkeit (kurze befristete Verträge) und Zufälligkeiten, mehr als in anderen Berufen
- Spätes Ausscheiden aus dem universitären Betrieb, z.B. mit 40 Jahren, also bereits nach grossen „persönlichen Investitionen“
- Bevorzugung von Männern
Erstaunlicherweise sind diese Probleme nicht neu. Sie sind schon seit fast 100 Jahren bekannt. Max Weber schrieb in „Wissenschaft als Beruf“, 1919:2
Ob es einem […] Privatdozenten, vollends einem Assistenten, jemals gelingt, in die Stelle eines
vollen Ordinarius und gar eines Institutsvorstandes einzurücken, ist eine Angelegenheit, die einfach
Hazard ist. Gewiß: nicht nur der Zufall herrscht, aber er herrscht doch in ungewöhnlich hohem
Grade. Ich kenne kaum eine Laufbahn auf Erden, wo er eine solche Rolle spielt. […] Das akademische
Leben ist also ein wilder Hazard.
Warum also ist nichts gegangen? Vielleicht, weil die Motivation jener, die es geschafft haben, plötzlich erlahmt, da sie dann Privilegien und Macht abgeben müssten. Als Professor sind einem fünf ergebene Assistenten lieber, als zwei unabhängige, eigenständige Assistenzprofessoren.
Gleichberechtigung, Frauenförderung
Prof. Brigitte von Rechenberg, Veterinärmedizinerin, ging in ihrem Vortag auf die Chancengleichheit in der Forschung ein. Vieles was sie sagte ist auch gültig ausserhalb der Forschung.
Plakative Kernsätze:
- Die Attraktivität sinkt bei Frauen mit zunehmendem Erfolg, bei Männern steigt sie.
- Karriereratgeber für Frauen beschreiben in der Regel „Wie sich Frauen am besten wie Männer verhalten können“.
Probleme
Obwohl alle Fachrichtungen sich zu den gemeinsamen Prinzipien der Forschung stützen, haben die verschiedenen Fachrichtungen interessanterweise ganz unterschiedliche Probleme:
In einigen Disziplinen ist der „Missbrauch“ („Dual Use“) von Forschungsresultaten ein Problem.
Prof. Peter Meier-Abt, der Präsident der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften warf ein, dass auf ein Problem (der Medizin) in den Vorträgen überhaupt nicht eingegangen wurde: der Forschungsmüll („Waste-Problem“). Nicht verwertbare Ergebnisse. Resultate ohne Aussagekraft. Verschwendete Forschungsressourcen, (Siehe Blogartikel).
Forschungsmüll entsteht z.B durch
- Nicht reproduzierbare Resultate,
- Zu kleine Studien,
- Forschungsfragen, die bereits geklärt sind.
In der Medizin wird nur rund die Hälfte der durchgeführten Studien publiziert, wobei Studien mit „positiven“ oder schmeichelhaften Resultaten rund doppelt so häufig publiziert werden wie Studien mit negativen Resultaten, (siehe Blogartikel).
Fazit
Es war eine interessante Fachveranstaltung. Ich habe einiges gelernt, auch zu Dingen, die ich gar nicht erwartet hatte, z.B. Gleichberechtigung.
Persönlich hat mich die argumentative Herleitung des Philosophieprofessors beeindruckt. Wahrscheinlich ein Merkmal seiner Disziplin: der Philosophie. Fasziniert hat mich auch die streitbare Art von Brigitte von Rechenberg. Einen Spiegel vorhalten und den Finger auf den wunden Punkt legen. Bei beiden hat nur schon die Art und Weise des Vortrags Freude gemacht.
Das Kennenlernen des Belohnungsmodells der Wissenschaft war sehr interessant.
Enttäuschend war für mich, dass es eigentlich den Hauptteil der Veranstaltung um „Stühle“ ging. Wer bekommt welchen Platz. Ich bin von der medizinischen Forschung geprägt und bin mit Peter Meier-Abt einer Meinung, dass wesentliche Probleme der aktuellen Wissenschaftskultur an der Tagung nicht angesprochen wurden. Diese Veranstaltung kann deshalb nur ein Anfang gewesen sein.
-
Prof. Marcel Weber, Département de philosophie, Université de Genéve ↩
-
Weber, Max: „Wissenschaft als Beruf“. In: Mommsen, Wolfgang J.; Schluchter, Wolfgang (Hrsg.): Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe. Bd. I/17. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1994, S. 3ff. ↩