In der Hospitalkirche in Riedstadt wurde am Dienstag den Opfern des Euthanasieerlasses gedacht. Der Erlass wurde auf den 1. September 1939 zurückdatiert. 596 seelisch kranke und geistig behinderte Menschen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus von Riedstadt aus dem Philippshospital abtransportiert und ermordet.
Seit über 25 Jahren besteht ein Arbeitskreis, der zum Ziel hat, an dieses dunkle Kapitel unserer Psychiatriegeschichte zu erinnern und aufzuzeigen, was nie mehr passieren darf. Insbesondere im Moment, wo der Hass, insbesondere gegenüber Menschen aus anderen ethnischen Gruppen hohe Wellen schlägt, ist das wichtiger denn je.
Thema ist in diesem Jahr die Auseinandersetzung und der Vergleich des Umgangs mit psychisch kranken Menschen, ausgehend von den 1930er Jahren bis heute.
Wie geht man mit der Geschichte richtig um?
Ermordung im Dritten Reich. Das Ganze ist jetzt schon über 70 Jahre her. Muss man das wirklich immer wieder hervorwühlen? Wir haben doch alle unseren Arbeitsalltag und wirklich keine Zeit, uns auch noch mit Dingen auseinanderzusetzen, die Jahrzehnte her sind. Ja, so könnte man es sehen. Doch wir sehen das anders. Wir haben ein sehr dunkles Kapitel in unserer Geschichte und gerade deswegen darf es nicht vergessen werden. Wir müssen daran erinnern, damit es nicht noch einmal passiert. Auch die junge Generation muss dafür sensibel bleiben und achtsam sein, wie schnell es so weit kommen kann, wie rücksichtslos Menschen werden können. Insbesondere, wenn ich mir die heutigen Entwicklungen in Bezug auf den Umgang mit Flüchtlingen und andere Randgruppen unserer Gesellschaft anschaue, bin ich überzeugt, dass wir nicht aufhören dürfen, laut zu sagen, was war und wie es nie wieder sein darf. Unser Gedenktag ist daher umso wichtiger. Wichtig, um zu erinnern. Wichtig, um nicht zu vergessen.
„Lieber Gott, mach, dass die bösen Leute nicht mehr schießen“
In meiner Kindheit wurde ich von meinen Eltern und Großeltern häufig während des Abendgebetes mit Kriegsereignissen konfrontiert. Ich musste gemeinsam mit meiner Schwester in das Nachtgebet einfließen lassen „Lieber Gott, mach, dass die bösen Leute nicht mehr schießen“. 25 Jahre später gab es bei meinen eigenen Kindern keine oder nur wenig Gelegenheiten, über Kriegsereignisse zu sprechen. Dies war nun Aufgabe der Schulen oder anderer Medien. Vieles blieb auch dem Zufall überlassen.
Aus diesem Grunde war es für mich sehr wichtig, bei den Vorbereitungen eines festen Gedenktags, wie den des 1. Septembers, unterstützend mit- und dem Vergessen entgegenzuwirken. Daher habe ich mich vor rund zehn Jahren an das Gernsheimer Gymnasium gewandt. Ich habe mich riesig gefreut, mit welcher großen Bereitschaft der damalige Schuldirektor Herr Dr. Bauß, mit welchem großen Engagement der damalige Oberstudiendirektor Herr Seelbach und heute der dortige Schulpfarrer, Herr Schnarrenberger, alljährlich den Gedenktag gemeinsam mit Schülern vorbereiten und mitgestalten.
Psychiatrie heute
Seit über 25 Jahren organisiert jedes Jahr ein anderer Betriebszweig von Vitos Riedstadt die Gedenkveranstaltung. Im Vorfeld der Gedenkveranstaltung zum 1. September suchen Schüler des Gymnasiums Gernsheim jedes Jahr einen anderen Betriebszweig auf und lernen diesen kennen, so 2015 die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es fanden mehrere Besuche in der Klinik Hofheim statt. Die Schüler haben sich mit Mitarbeitern ausgetauscht und auch eine ehemalige Patientin und deren Krankengeschichte kennengelernt.Durch diese Gespräche haben die Schüler gemerkt, dass das Thema Kinder- und Jugendpsychiatrie „gar nicht so weit weg ist“. Viele konnten Ansätze der Probleme der Ex-Patientin auch bei sich erkennen. Das Thema wurde nah- und greifbar. Sie haben einen Zugang zur Psychiatrie bekommen und verstanden, dass die Seele genauso erkranken kann, wie der Körper. Die Schüler haben ihre Gedanken und Eindrücke niedergeschrieben und diese in der Hospitalkirche während der Gedenkfeier vorgetragen, um die Psychiatrie heute aus ihrer Sicht zu beschreiben
1. September 2015 – Die Talkrunde
Anders als die letzten Jahre haben wir zum diesjährigen Gedenktag keinen auswärtigen Referenten eingeladen. Fünf Schüler trugen im Rahmen einer „gestellten Talkrunde“ Briefe des Psychiaters, Friedrich Mennecke vor, der während des Naziregimes als Arzt tätig war. Die literarische Quelle lieferte das Buch: „Friedrich Mennecke. Innenansichten eines medizinischen Täters im Nationalsozialismus: Eine Edition seiner Briefe 1935 – 1947“. In dem Buch sind Briefe von Mennecke an seine Mutter und Frau aufgeführt. Er beschreibt hier seinen ganz normalen Alltag, von Treffen mit seinen Arztkollegen, von Essen mit guten Weinen und ganz nebenbei auch vom Selektionieren nicht lebenswerter Menschen.
Ein Schüler stellte die Biografie Menneckes, sowie seinen rapiden beruflichen Aufstieg vor. Parallel hierzu lasen zwei Schüler aus Briefen von Patienten an ihre Angehörige, die letztere nie erhielten, weil die Briefe zu viele Klagen und Kritiken über die stationären Verhältnisse in den psychiatrischen Anstalten während der 1940er Jahre enthielten. Deshalb wurden sie von der Anstaltsleitung zurückgehalten. Innerhalb der gesamten Talkrunde vermieden die Schüler untereinander den Blickkontakt, um die ideologisch verstörte Arzt/Patientenbeziehung im Dritten Reich symbolisch wiederzugeben.
Das Publikum als aktiver Teil
Die Zuhörerschaft war nicht nur stiller Beobachter, sondern wirkte aktiv durch Zwischenrufe mit. Diese wurden aus der Rede Angela Merkels bei der Gedenkfeier zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz im Februar 2015 entnommen. Von der einen und der anderen Seite hörte man:
„Vergangenes wird nicht vergessen. Es geht uns alle an. Heute und morgen, nicht nur an Gedenktagen.“
„Eine wahnhafte Ideologie sprach Menschen das Menschsein ab.“
„Wie konnten intelligente und gebildete Menschen tagsüber mit Maschinengewehren auf Hunderte Kinder schießen und sich am Abend an den Versen Schillers oder einer Partitur von Bach erfreuen?“
„Verbrechen an der Menschheit verjähren nicht. Wir haben die immerwährende Verantwortung, das Wissen über die Gräueltaten von damals weiterzugeben und das Erinnern wach zu halten.“
Den Opfern ihre Identität zurückgeben
Nach einer Stunde ging es dann an den Gedenkstein. Um den 596 Opfern ihre Identität zurückzugeben, wurden nach einer Gedenkminute am Stein die Namen von 50 Opfern Schülern, Lehrern und Therapeuten verlesen.
Es ist wichtig, dass wir auch die dunklen Kapitel unserer Geschichten weitertragen und zusammenstehen, damit sie sich nicht mehr wiederholen.