Zecken, Borreliose, FSME und Co. (2)

Was das Thema Zecken und die Borreliose in unseren Regionen (Lyme-Erkrankung) betrifft, gelten vor den Sorgen erst einmal drei beruhigende Aussagen, die häufig zutreffen:
Gefahr erkannt – Gefahr gebannt!
Wenn wir unter der Dusche eine Zecke an unserem Körper krabbeln sehen, erschrecken wir nicht, sondern sein wir froh.
Eine rechtzeitig entfernte Zecke ist eine harmlose Zecke.
Sitzt eine Zecke fest und bleiben nach dem Entfernen schwarze, punktförmige Reste, beängstigen die uns ebenfalls nicht. Derlei Kleinigkeiten beseitigt unser Körper ganz allein. In den allermeisten Fällen verletzen uns die rigorose und vollständige Entfernung jeglicher Zeckenanteile mehr, als es die Zecke jemals hätte tun können.
Zeckenreste lösen keine Borreliose oder FSME aus, allenfalls leichte örtliche Entzündungsreaktionen.
Dazu zusammenfassend ein paar Erkenntnisse, die auch zeigen, dass es ganz ohne Sorge nicht geht. Allerdings stehen Sorge und Angst nicht an alleroberster Stelle, wie es gern verbreitet wird.
1. eine Zecke, die noch nicht gestochen (oder gebissen, es ist eine Kombination von beidem) hat, wird keine Borrelien übertragen
2. eine Zecke, braucht für die Übertragung evtl. vorhandener Borrelien Zeit. Die Angaben hierzu schwanken von etwa 6 Stunden bis zu 48 Stunden. Das Absuchen des Körpers nach einem Garteneinsatz oder einem Aufenthalt im Wald ist daher äußerst effektiv. Hier gilt der Grundsatz: Je kürzer eine borreliendurchseuchte Zecke gesaugt hat, umso geringer das Risiko einer Übertragung (oder es trifft sogar Punkt 1. zu)
3. Zecken, die noch auf unserem Körper umher krabbeln, können einfach mit den Fingern entfernt werden
4. eine festsitzende Zecke sollte möglichst vollständig gepackt (dicht über der Hautoberfläche) und abgezogen werden, dazu  sollte eine Pinzette oder Zange benutzt werden. Nur falls dergleichen nicht greifbar ist, nehmen wir die Finger. Dies birgt allerdings den Nachteil, dass der Zeckenkörper meist stark gequetscht, regelrecht ausgequetscht, wird. Sinnvoll ist ein langsamer, nachhaltiger Zug am gefangenen Holzbock, weil sich dabei dessen Mundwerkzeuge öffnen können. Drehen gegen oder mit dem Uhrzeigersinn spielt keine Rolle. Betäuben Sie die Zecke nicht mit Schnaps, vergiften Sie sie nicht mit Uhu oder Pattex, ziehen Sie sie einfach ab. Winzige Reste, die in der Haut bleiben sind ungefährlich und werden vom Körper mit der Zeit beseitigt. Eine entsprechende Hautreizung an der Einstichstelle ist normal und nicht mit der Wanderröte zu verwechseln. Sind Sie unsicher, wenden Sie sich an Ihren Arzt
5. eine Zecke, die Borrelien in sich trägt, uns beißt, sich erbricht, kann Borrelien übertragen
6. nicht jede übertragene Borrelie löst eine Borreliose aus, sondern zunächst einmal recht effektive Abwehrmechanismen unseres Körpers
7. nicht jede tatsächlich sich entwickelnde Borreliose durchläuft alle Stadien. Unser Körper ist in der Lage eine Borreliose ohne Hilfe auszuheilen
8. eine Impfung gegen Borreliose ist nicht möglich
9. eine vom Körper nicht beherrschte Borreliose ist im 1. Stadium (Wanderröte) recht problemlos mit einem Antibiotikum heilbar. Im 2. und 3. Stadium ist das komplizierter
10. eine direkte Übertragung von Mensch zu Mensch ist nicht bekannt. Erkrankte Personen sind also nicht ansteckend. Ebenso ist eine Übertragung durch Bluttransfusion nicht bekannt

Zur Stadieneinteilung der Borreliose, der Problematik der Blutuntersuchung und der FSME erfahren Sie mehr in den nächsten Artikeln dieser Reihe

 

Ärzteliebe: die Geschichte von Dr. MacButterbread… ein melodramatischer Schwank aus Schottland oder so…


Dr. Colin MacButterbread ist Landarzt, irgendwo in den schottischen Highlands. Er ist Anfang-Mitte vierzig, hat graumeliertes haar und wohnt in einem schönen großen uralten Herrenhaus inmitten eines Rosengarten mit knorrigen alten Bäumen, umgeben von einer bröckeligen Natursteinmauer mit einem schmiedeeisernen Tor und jeden Abend steigt er, nachdem er vor dem Kamin einen kleinen Schlummertrunk-Whisky zu sich genommen und eine Pfeife geraucht hat ganz allein in sein vier Quadratmeter großes Teakholzbett.
Morgens weckt ihn seine Haushälterin – die weißhaarige Miss Pumblechook – mit einer Tasse Tee ans Bett. Anschließend macht sich Dr. MacButterbread in seinem betagten, aber tipptoppgepflegten Rover auf den Weg in die Praxis und wenn er mit der Sprechstunde fertig ist, zieht er mit seiner ledernen Arzttasche (selbstverständlich trägt er ein kariertes Tweed-Sakko mit Lederflicken an den Ellenbogen) los auf seine Hausbesuchstour.
Abends spielt er dann vielleicht noch eine Runde Golf mit seinen Freunden vom Country-Club, aber nur wenn es nicht regnet, was in den Highlands bekanntlichermaßen eher selten ist.
Seitdem ihn seine Frau vor fünf Jahren verlassen hat (als Städterin mochte sie das Landleben nicht) ist Dr. MacButterbread ganz allein.
Dabei ist er seit drei Jahren in die schöne Miss Thistlethorne verliebt, die Lehrerin im Dorf (früher, als Studentin hat sie übrigens auch als Stewardess gejobbt).
Aber Miss Thistlethorne war vor vier Jahren einmal wegen eines gebrochenen Fußes bei ihm in der Praxis.
Also dürfen sie nicht.
Das hat er schließlich vor einiger Zeit so in der Zeitung gelesen.
Schnief.

AOK plant Ärzte-Bewertung im Internet

Die AOK will ihre 25 Millionen Versicherten zu einer öffentlichen Bewertung der jeweils behandelnden Ärzte im Internet animieren. Der AOK-Bundesvize Jürgen Graalmann behauptet obendrein, dass es dazu ein Aufschrei unter Deutschlands Ärzten geben wird.
Das ist eine Schlagzeile!
Ich behaupte, 80 - 90 Prozent der Ärzte wird sich wenig um dieses Internetportal kümmern. Die Ärzte, die aufschreien und große Statements abgeben, werden natürlich in den Medien erwähnt. Der große Rest wird weiter einfach seine Arbeit machen wie bisher: engagiert, einfühlsam, gehetzt, fahrig, konzentriert, überarbeitet, entspannt, arrogant und mit dem festen Vorsatz möglichst wenig Fehler zu machen. Ärzte sind so vielfältig wie Menschen sind.
Nur eines ist klar: Die Einrichtung dieses Internetportals wird Geld kosten - das Geld der Versicherten.

Aber ehrlich gesagt, ein bisschen neidisch bin ich schon auf die AOK. Ich könnte mir gut ein Internetportal aller Ärzte vorstellen, in denen sie die Mitarbeiter und Filialleiter von Krankenkassen, Rentenversicherern, Unfallversicherungen, Lebensversicherungen und Versorgungsämtern bewerten. Das würde ein Spaß der besonderen Art werden. Aber Ärzte haben für solche Späße keine Zeit, sie kümmern sich um ihre Patienten.

Ein Intermezzo für “Zecken, Borrelien, FSME und Co.”

Der folgende Text von Prof. Dr. med. Füeßl erklärt die Motivation zur Veröffentlichung der kleinen Artikelreihe über “Zecken, Borrelien, FSME und Co.” besser, als es Der andere Hausarzt hätte ausdrücken können. Weder der Verfasser des untenstehenden Textes (da bin ich sicher), noch der Autor dieses Blogs (das weiß ich) wollen an Borreliose erkrankte Personen beleidigen oder geringschätzen. Es geht lediglich um eine unschöne Tendenz in der Medizin, die nicht nur das Thema Zecken betrifft. Diese Tendenz ist im unten zitierten Artikel hinreichend erklärt.
Nebenbei bemerkt: Der Zugang einer Zecke über die Haut zum Blut oder zur Lymphe ihres Opfers ist ein Ritzen oder Beißen mit anschließendem Saugen durch einen Stechapparat. So spricht man also wissenschaftlich von einem Zeckenstich. Diese Veränderung in der Nomenklatur hat der Autor dieses Blogs tatsächlich übersehen. Die süffisante Bemerkung dazu im Vorartikel war unnötig und wurde nachträglich gestrichen. 
Aus einem Artikel in der Zeitschrift MMW (Münchner Medizinische Wochenschrift) Fortschritte der Medizin Heft 22/2009 von Prof. Dr. H.S. Füeßl (Facharzt für Labormedizin)
„Was man nicht erklären kann, sieht man gern als Borreliose an“
Im Folgenden der komplette Schluss-Kommentar von Prof. Füeßl als Abschrift:
„Borreliose als Büchse der Pandora, Antibiotika als Panazee [Allheilmittel]“
Als kritisch denkender Arzt mag man manchmal verzweifeln, doch ist die Borreliose in vielerlei Hinsicht fast so notwendig wie das Böse in der Welt, ohne das es das Gute nicht gäbe. Viele Patienten sind geradezu dankbar, wenn ihnen ein Arzt die Diagnose einer Borreliose bescheinigt, selbst wenn sie nach wissenschaftlichen Kriterien gar nicht vorhanden sein kann. Millionen von Patienten mit Befindensstörungen, die sich mit der Frage quälen, woher ihre Beschwerden kommen, wird ein positives und sozial akzeptiertes Modell angeboten. Die Akquisition der Krankheit erfolgt im Rahmen akzeptierter gesundheitserhaltender Maßnahmen wie Wandern, Aufenthalt im Wald und an der frischen Luft. Zudem hat die Zecke ein archaisches Stigma des Unheimlichen und Heimtückischen und wirkt insbesondere auf rasterelektronischen Aufnahmen als ausgenommen abstoßend. Dem Kranken wird durch die antibiotische Behandlung eine plausible Hoffnung auf Heilung angeboten.
Auch für den Arzt birgt das Borreliosekonstrukt manche Vorteile. Es schafft lang anhaltende Abhängigkeiten eines vordergründig dankbaren Patienten. Die Diagnostik beinhaltet umfangreiche Laboruntersuchungen, die von interessierter Seite durch wissenschaftlich sinnlose Maßnahmen wie z.B. den Lymphozyten-Transformationstest noch erweitert werden. Die vielfältige Symptomatik der Lyme-Borreliose lässt bei nicht erfolgter Besserung durch Antibiotika auch Raum für zahlreiche alternative Therapieansätze wie die Gabe von Vitaminen, Spurenelementen und Nahrungsergänzungsmitteln.
Geschäfte mit der Angst
Diese Gemengelage ließ die Lyme-Borreliose zum Betätigungsfeld von Alternativmedizinern, Lyme-Gurus und obskuren Borreliosezentren werden, die in inniger Verflechtung mit Selbsthilfegruppen ein vordergründig humanitäres, tatsächlich aber kommerziell getriebenes System unterhalten. In dieser Hinsicht steht die Lymeerkrankung in einer Reihe mit der Fibromyalgie, dem chronischen Müdigkeitssyndrom und der multiplen chemischen Sensitivität. Sie darf aber noch das „Sahnehäubchen“ einer durch Zecken übertragenen Infektionskrankheit für sich reklamieren. 
Auf der einen Seite stehen Millionen von Patienten mit medizinisch nicht erklärten Symptomen, die oft verzweifelt nach einer Ursache für ihre Beschwerden suchen. Auf der anderen Seite stehen manchmal nicht gut informierte Ärzte, welche sich in dem durchaus komplexen Gebiet der Infektionsserologie nicht zurechtfinden können oder wollen. Und schließlich gibt es in dem Spiel auch noch die großen Vereinfacher, die für alles eine Erklärung haben und sich allein im Besitz der Wahrheit glauben. Teils aus inbrünstiger bis fast fanatischer Überzeugung, häufig aber auch aus schierem Gewinnstreben nutzen sie die Ängste der Betroffenen, um dauerhafte Abhängigkeit zu schaffen. Ich fürchte, dass auch mit diesem Report die Diskussion um das richtige Vorgehen bei Diagnostik und Therapie der Lyme-Borreliose nicht beendet sein wird.
Prof. Dr. H. S. Füeßl
Der komplette Artikel ist hier nachlesbar.

Zecken, Borreliose, FSME und Co. (1)

Mit dem heutigen Artikel startet eine Mini-Serie über Zeckenbisse und die Folgen. Die Zeit dafür ist reif, denn die Zecken beißen wieder - uns und unsere Haustiere. Der Hausarzt ist oft gefordert, wenn nicht gar der Chirurg, der Mikrobiologe oder die Universitätsklinik. Zecken verbreiten mit ihren Bissen oft Unsicherheit, wenn nicht Angst und Schrecken. Darüberhinaus wird im Zusammenhang mit Zeckenbissen mindestens ebenso epidemisch allerhand Unsinn verbreitet und angewandt. Das gilt für Patienten ebenso, wie für behandelnde Ärzte, Presse, Radio und Fernsehen

1. Teil: Allgemeines
Es gibt in unseren Breitengraden zwei wichtige Erkrankungen, die durch Zecken übertragen werden:
Die Borreliose (Lyme-Krankheit) und die FSME=FrühSommer-Meningo-Enzephalitis (Frühsommer-Hirnhaut-Hirnentzündung). Zur FSME kommen wir zu einem späteren Artikel.
Es herrscht genügend Verwirrung in Deutschland und anderswo, was dieses Thema betrifft, um eine ausführliche Erörterung zu rechtfertigen und vor allen die verschiedenen Aspekte getrennt abzuhandeln.
Zunächst drei wichtige und entspannende Aussagen, was das Thema Holzböcke betrifft:
1. Zecken sind winzige Spinnentiere – keine riesigen Ungeheuer. Zu Ungeheuern werden sie erst durch Vergrößerung unter dem Mikroskop
2. wir Menschen sind den Zecken größenmäßig, kräftemäßig und in Sachen Intelligenz überlegen, auch wenn es in den Medien gelegentlich anders klingt
(Zeckenstich ist richtig, siehe Artikel vom 11. 06. 2009 in diesem Blog)
3. nicht jeder Zeckenbiss birgt die Gefahr einer Infektion. Im Gegenteil - es verhält sich genau umgekehrt: Einen Zeckenbiss vollkommen gesund zu überstehen, ist weitaus wahrscheinlicher, als daran zu erkranken. 
Erstes Fazit:
Bleiben Sie gelassen, wenn Sie eine Zecke an sich oder Ihren Liebsten entdecken. Sie stehen keinem fauchenden Tiger oder stampfenden Nashorn gegenüber.
Zweites Fazit:
Denken Sie an die gemeine Schmeißfliege, die direkt von einem Hundehaufen auf ihre Torte draußen beim Kaffee unterm Holunderbusch fliegt. Schön ist das nicht. Wir verscheuchen sie – das war’s. Kaum ein Gedanke an die mikrobiologische Fracht an den Beinen, dem Rüssel oder dem Leib der Fliege. Warum auch? Selbst, wenn wir ein paar Bazillen vom Hundehaufen verzehren, bringt uns das nicht um. Unser Körper wird damit fertig.
In der Regel wird unser Körper auch mit einer Zecke fertig, sogar mit Bakterien der Sorte Borrelien und dem FSME-Virus. Selbst Infektionen mit diesen Keimen werden in den allermeisten Fällen durch unser Immunsystem beherrscht. Worum wir uns zu kümmern haben, sind die seltenen Ausnahmen. Es geht dabei nicht um eine fürchterliche grassierende, unbesiegbare Seuche wie beispielsweise die Pocken.
Drittes Fazit:
Das Seltene ist selten! Nur jeder etwa 25. Zeckenbiss löst eine Reaktion des Körpers auf Borrelien aus. Davon führen wiederum nur 1/10 zur Erkrankung. Die Rate kann noch drastisch gesenkt werden, wenn der Biss nicht zustande kommt (Absuchen des Körpers) oder die Zecken noch nicht vollgesogen sind.
Die Serie Zecken, Borrelien, FSME und Co. wird fortgesetzt.

Dr. Kunze hört (nicht) auf 12

Juni 2009
Herr Gabriel
Herr Gabriel saß auf dem Patientenstuhl als Dr. med. Anselm Kunze sein Sprechzimmer betrat. Noch vor Jahren wäre der Hausarzt in diesem Moment verzagt. Herr Gabriel wäre der Grund für eine kleine morgendliche Krise gewesen. Jetzt war dieser spezielle Patient zu Dr. Kunzes mentaler Übung geworden. Diese Wandlung hatte der Arzt einer Selbsterfahrungsgruppe für Therapeuten zu verdanken.
Nachdem in jüngeren Jahren Dr. Kunze der Gruppe mehrfach sein Leid über bestimmte Patienten geklagt hatte, hatten andere Teilnehmer ihm geraten, jene Patienten, unter denen er zu stark litt, um einen Hausarztwechsel zu bitten. Entweder löste man sich von einem Patienten, der einem über Jahre die Nerven raubte oder man ließ ihn zu einer mentalen Übung werden, hatte der Gruppenleiter ergänzt. Eine Übung für Selbstbeherrschung und Gelassenheit, so der leitende Psychologe. Nur wenige Tage später bat Dr. Kunze zum ersten Mal nach zehn Jahren Praxistätigkeit zwei Patienten, sich einen anderen Hausarzt zu suchen. Nummer drei auf seiner speziellen Liste war Herr Gabriel gewesen. Aber der durfte bleiben und wurde von diesem Tage an zur psychologischen Übung für Dr. med. Anselm Kunze.
Herr Gabriel war etwas jünger als der Hausarzt und ein Patient der ersten Stunde, in des Wortes ursprünglicher Bedeutung. Dr. Kunze hatte noch keine Stunde in dem frisch tapezierten Sprechzimmer seiner nagelneuen Praxis behandelt, als Herr Gabriel auftauchte und sein siebter Patient wurde – Karteinummer 007. Das war ein Witz, denn Herr Gabriel war nichts weniger als ein durchtrainierter Superagent mit stahlharten Fäusten und ebensolchem Gemüt. Herr Gabriel war krank und brauchte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung – einen gelben Schein. Gleich an diesem ersten Tag.
An diesem ersten Tag wusste der frischgebackene Hausarzt allerdings noch nicht, dass dies achtundzwanzig Jahre so bleiben würde. Der Patient ging jetzt auf die Sechzig zu, der Arzt hatte sie überschritten und von dieser ersten Stunde an bis zu diesem Morgen hatte Herr Gabriel keinen vollständigen Tag gearbeitet. Anfang der Neunziger hatte es zwar einen Arbeitsversuch gegeben, in einer Fabrik, als Bote, aber das war nur dreieinhalb Stunden gut gegangen. Herr Gabriels Körper ließ Arbeit einfach nicht zu und kein Arzt fand je eine schlüssige Erklärung dafür.
Im Laufe dieser achtundzwanzig Jahre hatte ihn Dr. Kunze gebeten, ihn überredet, ihm gedroht oder einfach angeordnet, aber nichts hatte gefruchtet. Herr Gabriel konnte nicht arbeiten. Unter der Mithilfe diverser Fachärzte wurde er hier und da operiert, an Bandscheiben, Schultern, Leisten und Kniegelenken. Nichts half auf Dauer. Herr Gabriel wurde nicht arbeitsfähig. Allerdings, und das hielt sich Dr. Kunze zu Gute, der sich manchmal schämte, Hausarzt eines solchen Patienten zu sein, allerdings reichte es für Herrn Gabriel nie für einen positiven Rentenbescheid trotz diverser Anträge. Da leistete der Hausarzt äußersten Widerstand.
Dieser Teilerfolg und der Ratschlag des Seminarleiters aus der Selbsterfahrungsgruppe ließen Herrn Gabriel über all die Jahre Dr. Kunzes Patient bleiben.
Als der Hausarzt an diesem Morgen den Patienten vor sich auf dem Stuhl sitzen sah, fragte er sich, welches Zipperlein, welche Überweisung, welche Einweisung zur Operation heute fällig war. Letztere lehnte Dr. Kunze übrigens seit nunmehr elf Jahren erfolgreich ab. Er wollte nicht Schuld sein an Körperverletzungen, die scheinbar medizinisch legitimiert waren.
Nach achtundzwanzig gemeinsamen Jahren entspann sich folgendes Gespräch, an dessen Ende sich Dr. Kunze fragte, ob er nicht doch noch ein paar Jahre in seiner Praxis weitermachen sollte. Nicht, weil er noch nicht reif für den Ruhestand wäre, sondern weil er doch noch nicht alles in seinem Berufsleben erlebt hatte, wie er gern in leutseligen Gesprächsrunden behauptete. An diesem Tag geschah etwas sensationell Neues.
„Nun, Herr Gabriel, was kann ich heute für Sie tun?“
Das klang nicht genervt, sondern vollkommen neutral, geradezu entspannt und nicht nur das, Dr. Kunze empfand auch so. Er war stolz auf sich.
„Ja, ich weiß auch nicht so genau.“
„Hhm.“
„Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll, es…“
Das war in den letzten Jahren gern der Auftakt zu einer ganz neuen Krankheit. Sehr wahrscheinlich war ein ganz neuer Abschnitt des Körpers betroffen. Wie damals, als nach vier Jahren Kniebeschwerden plötzlich ein Leistenbruch aufgetreten war, der sich zweieinhalb Jahre als Ursache der Arbeitsunfähigkeit hielt, um wieder vom Knie abgelöst zu werden, allerdings diesmal vom rechten.
„Hhm.“
„…es ist so anders, so neu…“
Dr. Kunze hatte es gewusst, eine neue Krankheit.
„Hhm.“
„Ich dachte…“
„Hhm.“
„Ich dachte, ich versuche es mal…“
…mit dem Herzen oder der Leber, ergänzte Dr. Kunze in Gedanken. Dies waren nämlich zwei Organe, die in den ganzen Jahren unberührt geblieben waren. In den Nieren waren angeblich Steine gewesen, seine Lungen von Asbest verseucht, im Kopf war wiederholt ein Tumor gewachsen. Arzt und Patient hatten sich phasenweise auf psychische Ursachen geeinigt, dann wieder war der Bewegungsapparat marode oder die Haut von allergischen Symptomen geplagt. Also versucht er es diesmal mit dem Herzen oder der Leber, dachte Dr. med. Anselm Kunze. Nur dass Patient Gabriel das so offensichtlich ankündigte, das war neu. Er hielt sonst gern auf Etikette, was seine Krankheiten und seine Arbeitsunfähigkeit betraf und hätte nie zugegeben, sich mit einer Krankheit vorm Arbeiten zu drücken.
„Ich habe mir halt gedacht, ich versuche es mal…Ich versuche es mal…“
Seit wann hatte Herr Gabriel solche Schwierigkeiten.
„Hhm.“
Dr. Kunze wartete weiter ab. Da platzte es aus dem Patienten heraus.
„Ich wollte es halt mal mit Arbeit versuchen.“
Im Sprechzimmer herrschte die Stille nach dem Schuss. Dr. Kunze ließ sich mit all seinem Gewicht in die Rückenlehne seines Schreibtischstuhls fallen.
„Nein!“ entfuhr es ihm.
Er hatte schon viel erlebt. Eigentlich hatte er angenommen, er hatte alles erlebt, alles, was einem Hausarzt in seiner Praxis widerfahren konnte. Er war perplex. Angezählt wie ein Boxer im Ring, den ein unerwarteter Kinnhaken getroffen hatte.
„Nein!“ wiederholte er.
Der Patient erhob sich, während Dr. Kunze noch durch den Ring taumelte. Patient Gabriel stand in der offenen Tür und sprach:
„Nun, gut, wenn Sie meinen. Dann sage ich das dem Herrn von der Arbeitsvermittlung. Sie bleiben also bei Ihrem Nein, Herr Doktor?“
Der Arzt schwieg und Herr Gabriel zögerte. Schließlich schloss er die Tür hinter sich. Er schüttelte den Kopf. Dr. Kunze erschien ihm nicht vollkommen gesund, er wirkte blass.

Neuer Volksport: Coronarangiographie

Ärzte können gelegentlich zynisch sein, vor allem unter sich und besonders, wenn sie überarbeitet sind oder von den Umständen genervt (Verwaltung, Gesetzgebung, Krankenkassen usw.). Manchmal sind Ärzte auch öffentlich zynisch, Blogs, wie www.medizynicus.de oder www.monsterdoc.de und andere sprechen da eine herrlich witzige und deutliche Sprache.
Manch flotter Spruch ist unter Arztkollegen üblich und nicht ganz so gemeint, wie er über die Lippen kommt
“Nur eine entfernte Bandscheibe ist eine gute Bandscheibe” oder “Wer nicht schnell genug auf dem Baum ist, bekommt heutzutage ein CT” und dergleichen mehr.
Einer der neueren Sprüche lautet:
“Leute seid vorsichtig, schlaft nicht auf einer Parkbank ein, ihr könntet in einem Herzkatheter-Labor aufwachen.”
Diese Überspitzung spiegelt die Realität wider, auf mehr oder weniger zynische Weise. Als Hausarzt hat man tatsächlich das Gefühl, in Deutschland wird derzeit auf Teufel komm’ raus herzkathetert. Nie sind mir so viele Herzkatheterbefunde ins Haus geflattert, wie in den letzten Wochen und Monaten. Nie waren so viele Befunde negativ (kein krankhafter Befund) oder ohne therapeutische Bedeutung.
Hier ein typisches Beispiel von übertriebenem Aktionismus:
Eine Frau, Anfang sechzig, geht an einem heißen Tag mit ihrem Mann mittags zum Kroaten essen. Schwitzend lassen sich die beiden auf ihren Plätzen nieder. Der Raum ist stickig, das Mahl üppig, wird aber vollständig verzehrt, schließlich muss man ja auch vollständig bezahlen. Irgendwann spielt der Kreislauf der Frau nicht mehr mit. Sie verspürt eine kurze Übelkeit, dann sackt sie ohnmächtig vom Stuhl. Sie ist kreidebleich, nicht ansprechbar und erbricht sich, die Einzelheiten kroatischer Kost erspare ich dem Leser. Die Ohnmächtige wird korrekt auf der Seite gelagert und der Notarzt gerufen. Dieser ist schnell zur Stelle ist. Inzwischen ist die Frau wieder ansprechbar, klappt aber sofort wieder zusammen, als sie gegen alle Anweisung versucht sich zu erheben. Der Kreislauf ist im wesentlichen stabil, der Blutdruck schwankt zwischen niedrig und erhöht, der Puls rast (120 Schläge/Minute), Reflexe sind vorhanden!
Zwänge der modernen Medizin
Die Frau wird ins Krankenhaus gefahren, eine andere Möglichkeit besteht an dieser Stelle in der heutigen Zeit für einen fremden Arzt kaum mehr. Obwohl vielleicht ein bisschen Geduld, ein Glas Wasser, ein kalter Lappen auf die Stirn auch gereicht hätten. Aber diese therapeutischen Optionen wären für einen richtigen Notarzt zu einfach, draußen steht der Hubschrauber auf dem Rathausplatz. Außerdem: Welche rechtlichen Konsequenzen wären zu fürchten, wenn die Frau wirklich ernsthaft krank wäre. Also wird die Frau eingeladen und los geht’s. Bis zu diesem Zeitpunkt würde ich als alt eingesessener Hausarzt sagen: Ziemlich großer Aufwand, aber gut, so sind die Zeiten.
Im Krankenhaus sind ein Glas Wasser und ein kalter Lappen keinen Gedanken wert. Stattdessen werden in kürzester Zeit alle Untersuchungen durchgeführt, die gut und teuer sind. Von der Blutentnahme zum EKG, vom Herz-Ultraschall zum Kopf-CT und der Durchblutungsmessung des Gehirns. Krankhafte Ergebnisse ergeben sich keine. Die Frau ist auch längst wieder wach. Es folgt die Fahrt ins Katheterlabor. Eine Herzkatheteruntersuchung wird durchgeführt. Dort findet sich nicht die Spur einer Verengung der Herzkrankgefäße, was auch kaum zu erwarten war. Der gesamte Fall und die Zwischenergebnisse geben so einen Verdacht nicht her, und die Krankheitsgeschichte der Patientin erst recht nicht. Die normalgewichtige Nichtraucherin leidet weder unter Diabetes noch Bluthochdruck und der Zwischenfall im kroatischen Restaurant ist auf Grund der Umstände mit einem Kreislaufkollaps erklärt.
Diese “gründliche” Untersuchung ist nicht ohne Risiko für Leib und Seele. Es gibt eine zugegeben geringe Zahl von Zwischenfällen und Nachblutungen im Zuge von Herzkatheteruntersuchungen. Dazu setzen harmlose Ergebnisse, wie leichte Gefäßverkalkung, manchmal nicht unerhebliche Ängste beim Patienten, was die Gesundheit des eigenen Herzens betrifft. Ganz davon abgesehen hat dieser Fall einige tausend Euro verschlungen, begonnen beim Notarzteinsatz per Hubschrauber und dazu vier Tage Krankenhausaufenthalt mit teils extrem teuren Untersuchungen.
Der Clou: Die Patienten war ein halbes Jahr zuvor wegen einer Wirbelsäulenverspannung herzkathetert worden. Die Untersuchung zeigte das Bild einwandfreier Herzkrankgefäße. Die Patientin konnte in der Aufregung nicht davon berichten. Der Ehemann hätte sich erinnert, wurde aber nicht gezielt gefragt (aus gutem Grund?) und war selbst nicht in der Lage mitzudenken.

Hausarzt Dr. Kunze ist perplex

Am 4. Juni erscheint eine neue Kolumne aus der Reihe Dr. Kunze hört (nicht) auf. Der Leser erfährt in dieser Folge, dass ein Patient für seinen Hausarzt durchaus eine mentale Übung sein kann. Außerdem wird Hausarzt Dr. med. Kunze in dieser Folge klar, dass er noch gar nicht aufhören kann. Im Gegensatz zu dem, was er bisher immer geglaubt hat, hat er längst noch nicht alles erlebt, was ein langjähriger Arzt erleben kann. Es gibt immer noch Neues. Lesen Sie dazu mehr in der nächsten Woche.

Alle bisher erschienenen Geschichten dieser Serie sind nachzulesen unter dem Thema Kolumne des Monats.

Verschreibungspolitik am Beispiel von Simvastatin

Simvastatin ist ein Mittel, das den Cholesterinspiegel senkt. Der Effekt ist bei jedem Menschen unterschiedlich stark, aber unbestritten. Zweifelhaft ist eher, ob ein Cholesterinspiegel gesenkt werden muss und wer, wie, welche Richtgrößen ermittelt. Je strenger der Oberwert gehandhabt wird, um so mehr Bevölkerungsanteil ist “krank” und um so mehr fettsenkende Medikamente können umgesetzt werden. Aber stellen wir dieses Problem zurück. Es gibt neuerdings ein ganz anderes Problem mit den Cholesterinsenkern und in diesem Zusammenhang ist das Beispiel Simvastatin nur eines von vielen.
Verschreibungsfähigkeit von Simvastatin ist beschränkt worden.
Bislang wurde die eindeutige Marschroute für uns Hausärzte ausgegeben, dass ein erhöhter Cholesterinwert behandelt werden sollte, je nach Höhe und Bedeutung auch medikamentös. Richtgrößen für einen behandlungsbedürftigen Cholesterinspiegel gab und gibt es viele, hier seien nur einige aufgezählt:
200 + Alter, auf jeden Fall unter 200, höchstens 250, über 300 ist katastrophal und, und, und. Hierbei ist die Trennung von “gutem” und “schlechtem” Cholesterin noch gar nicht berücksichtigt. Alles in allem ist Simvastatin zu einem Rezeptschlager unter den Medikamenten geworden. Seit dem 1.4.09 gibt es neue Verschreibungsrichtlinien, die unter anderem auch das Simvastatin betreffen. Da heißt es frei zusammengefasst:
Simvastatin ist nur noch zu Lasten der Krankenkassen verschreibungsfähig, wenn
1.
  der betreffende Patient einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall in seiner Vergangenheit erlitten hat oder eine Krankheit von vergleichbarer Bedeutung (Bypass, Stent, Halsschlagader-OP), oder
2. der betreffende Patient mehr als 20% Risiko in sich trägt, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall in den nächsten 10 Jahren zu erleiden.
Diese Anordnung lässt man sich als Hausarzt gern auf der Zunge zergehen. Da werden also plötzlich keine Laborwerterhöhungen mehr therapiert (was im Grunde sehr vernünftig ist), sondern da muss Risiko abgeschätzt werden. Das heißt, grob von mir geschätzt fallen etwa 60 - 70% aller Simvastatin-Verschreibungen nicht mehr in die Zuständigkeit der Krankenkassen und müssen vom Patienten selbst getragen werden. Einsparung im Medikamenten-Budget in Millionenhöhe sind hier zu erwarten. 
Komplette Kehrtwende in der Therapie
Diese nahezu revolutionäre Veränderung der Rezeptierfähigkeit von Simvastatin findet sich in einem kleinen Absatz innerhalb einer viele Seiten umfassenden Bekanntmachung, geradezu versteckt als ob sie sich schämt. Müsste sie nicht, der Ansatz ist ja gut. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie als Hausarzt übersehen so eine Bekanntmachung (was sehr leicht passieren kannt). Dann passiert Folgendes: Liegen Sie irgendwann mit Ihrem Verschreibungsverhalten zu hoch, werden Sie geprüft. Dann wird festgestellt, dass Ihr Verschreibungsverhalten, was Simvastatin betrifft, ja vollkommen falsch war. Schwupp, werden Ihnen ein paar tausend Euro vom Honorar abgezogen, gern mit drei bis fünf Jahren Verzögerung.
Merkt der geneigte Leser, wohin die Last solcher Richtlinien geht? Zum Hausarzt und zum Patienten, beide die letzten Glieder in einer langen Kette der Gesundheitspolitik. Gern werden diesen beiden in neueren Zeiten auch aufeinander gehetzt, oder wer, glauben Sie, hat die Diskussion mit den Patienten, die zurecht verwundert bis empört sind, bei so einer gravierenden Veränderung im Verschreibungsverhalten?
Das sind genau die Dinge, die deutschen Ärzten den Hausarzt-Beruf verleiden, und warum wir keinen Nachwuchs bekommen.

Interessiert sich jemand für ärztliche Honorarabrechnung?

Das Thema Geld in Zusammenhang mit dem Beruf Arzt hängt sicher den meisten Patienten und vielen Ärzten langsam zum Hals heraus. Deswegen gibt’s hier keinen weiteren Jammerartikel, sondern ein paar möglichst sachliche Informationen.
Das ärztliche Honorarabrechnungssystem seit dem 1.1.2009
Der Hausarzt staunt, der Kaufmann wundert sich (warum erst jetzt?). Seit dem 1. Januar 2009 wird das Abrechnungssystem für Ärzte vom Kopf auf die Füße gestellt. Zumindest wird es versucht. Das System kippelt noch und hat gute Chancen auf die Nase zu fallen. Aber das bleibt abzuwarten.
Die Honorarabrechnung der Ärzte hat sich seit dem Beginn dieses Jahres komplett geändert. Davon wissen Patienten nichts. Das soll sich mit diesem Artikel ändern. Patienten, die sich für die Sorgen und Nöte ihres Hausarztes interessieren, lesen hier weiter, die anderen haben vielleicht Besseres zu tun. Keine Angst: Dieser Artikel wird keiner der üblichen Jammertexte zum Thema Hausarzt-Honorar mit von Tränen verwischten Buchstaben. Der Text stellt eine möglichst objektive Information zum Thema Honorarabrechnung dar. Der andere Hausarzt ist mit seinen Einkünften zufrieden, nur nicht mit den Umständen, wie er an diese gelangt.
Euro-EBM (einheitlicher Bewertungsmaßstab auf Euro-Basis)
Seit dem 1. Januar 2009 gibt es also den sogenannten Euro-EBM, darüberhinaus das im Voraus ermittelte RLV (Regelleistungsvolumen) für niedergelassene Ärzte. Das sagt Ihnen nichts? Aber das ist schon fast die ganze Revolution: Die Ärzte erhalten zum ersten Mal nach Jahrzehnten wieder Geld für ihre Leistungen (Euros statt Punkte!), und zum ersten Mal seit 20 Jahren können niedergelassene Ärzte am Tag der Quartalsabrechnung selbst ausrechnen, was sie umgesetzt (nicht verdient!) haben. Sie müssen nicht dreieinhalb Monate auf den Honorarbescheid warten, meist mit mehr oder weniger unliebsamen Überraschungen.
Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung
Unabhängig von dem, was am Ende bei diesen Neuerungen herauskommt, ist dies ein erster Schritt in die richtige Richtung seit vielen, vielen Jahren. Denn, einerlei wie es Patienten, Krankenkassen und Ärzte selbst sehen, wir Ärzte sind mit unserer Praxis auch Unternehmer. Dies beinhaltet Arbeitsverträge mit Angestellten, Fixkosten, variable Kosten, Rentabilitätsberechnungen und Investitionsplanungen. Bisher fußten eigene Honorarberechnungen auf schwammigem Grund. Kalkulation und Personalplanung hatten mehr mit einem Blick in eine Glaskugel zu tun als mit vernünftiger geschäftlicher Strategie. Den real erwirtschafteten Umsatz erst mit über einem halben Jahr Verzögerung erkennen zu können, machte Praxisführung schwierig. Darüberhinaus brachte jede Honorarabrechnung Überraschungen und die allermeisten waren nicht positiv.
Arzthonorar soll kalkulierbar werden
Mit dem Euro-EBM und dem vorausberechneten RLV (Regelleistungsvolumen) soll das anders werden. Eine Basis ist geschaffen. Wir Ärzte haben unseren möglichen Grundumsatz für das 1. Quartal 2009 und inzwischen für das 2. Quartal 2009 mitgeteilt bekommen. Ein Rahmen, in dem wir uns bewegen können und eine Summe, die wir bisher raten durften. Dazu kommen Zuschläge je nach Angebot in der Praxis (sprich: Ultraschall, Psychotherapie, kleine Chirurgie, Langzeit-EKG usw.) und Honorare für Leistungen außerhalb des RLV, wie Impfungen, Notdienst und Vorsorgeuntersuchungen. Der Betrag für das 1. Quartal 2009 beruht übrigens auf der Patientenzahl und dem Umsatz des 1. Quartals 2008. Sollten wir mehr oder weniger Patienten im 1. Quartal 2009 behandeln, schlägt das erst im 1. Quartal 2010 zu Buche. Eine der Schwächen dieses Systems.
Das wär’s in groben Zügen! Soweit die Theorie. Wie die Praxis aussieht bleibt abzuwarten. Abzuwarten übrigens bis Mitte Juli 2009, dann kommt die Honorarabrechnung für das 1. Quartal 2009 ins Haus geflattert und wird zeigen, ob Theorie und Praxis übereinstimmen. Ich bin gespannt und mit mir tausende Ärzte.

Aber ein Hausarzt hat mit viel mehr finanziellen Problemen in der täglichen Praxis zu tun, als nur mit seinem eigenen Honorar. Dazu mehr in einem späteren Artikel.

Unsinn “Tamiflu” entlarvt

Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Im Spiegel Nr. 20/2009 erklärt ein angesehener Pharmakologe, dass Händewaschen effektiver gegen Ansteckung mit dem Grippevirus hilft als die Einahme von Tamiflu. Danke! Danke, für diese Offenheit und Klarheit und danke, für den offensichtlichen Verzicht auf Pharma-Sponsering bei diesem Spiegel-Interview.
Als alter Werder-Fan freut es mich, dass dieses selten offene Interview gegen den Tamiflu-Unsinn aus Bremen kommt. Professor Dr. med. Bernd Mühlbauer ist Direktor des Instituts für Klinische Pharmakologie am Klinikum Bremen Mitte.
Hier einige Quintessenzen aus dem Interview:
1. ob Tamiflu im Fall von Schweinegrippe hilft, ist bislang unbewiesen
2. bei normaler Grippe wirkt es allenfalls schwach
3. es ist nicht nur zweifelhaft, dass Tamiflu bei Grippeinfektionen hilft. Es ist auch nicht bekannt, ob es überhaupt gegen Infektionen helfen kann 
4. prophylaktische -also vorbeugende- Einnahme von Tamiflu ist nicht nur übertrieben, sondern sogar unverantwortlich, insbesondere bei Kindern. Tamiflu-Tabletten sind keine Smarties und haben nicht unerhebliche Nebenwirkungen
Am Ende des Interviews ereilt den Herrn Professor dann aber doch noch eine kleine Realitätsschwäche. Er meint, die Bevorratung von Tamiflu und die entsprechende Ausgabe bei Epidemien sollte für besonders gefährdete Personen (medizinisches Personal und anderes Einsatz-Personal) begrenzt bleiben. Und man (wer?) sollte im Notfall dafür Sorge tragen, dass die Vorräte sinnvoll verteilt werden.
Weiß der Herr Professor nicht, dass jeder für Geld alles kaufen kann, und das auch tun wird? Und dass jeder für Geld alles verkauft, und das auch tun wird?

Alkoholsucht…(6)

…ist eine Krankheit, die im Falle des fortgesetzten Missbrauchs zum Tode führt.
Im letzten Artikel wurden die direkten und indirekten Folgen der alkoholischen Lebererkrankung beschrieben. Die meisten anderen Organe des menschlichen Körpers leiden ebenfalls mehr oder weniger unter den Folgen einer anhaltenden Vergiftung. Besonders erwähnt seien die Bauchspeicheldrüse, das Herz und das Gehirn.
Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
Was die alkoholbedingte Schädigung der Bauchspeicheldrüse betrifft, ist hier besonders die akute Entzündung des Organs gefürchtet (Pankreatitis). Die Pankreatitis kann so vehement verlaufen, dass sie medizinisch nicht beherrschbar ist und tödlich endet. Die Drüse staut sich selbst an, was zum Untergang von Organteilen führt, die chirurgisch entfernt werden müssen. Bei dieser sogenannten nekrotisierenden Pankreatitis ist ärztliches Handeln oft nur noch verzweifelter Aktionismus, die Überlebensrate niedrig.
Eine weitere Komplikation, die das Organ Bauchspeicheldrüse betrifft, ist die Störung der eigentlichen Funktion. Verdauungssäfte werden nicht mehr in ausreichender Form gebildet, die Minderproduktion des Hormons Insulin führt zur alkoholbedingten Zuckererkrankung (Diabetes mellitus). Ein weiterer Schritt in den körperlichen Ruin, weil, wie man sich leicht vorstellen kann, keine optimale Führung und Einstellung dieser Patienten möglich ist.
Herzschaden durch Alkoholmissbrauch
Eine chronische Alkoholvergiftung kann zu einem Herzschaden führen. Geschädigt wird dabei das Herzmuskelgewebe, das schwach wird und sich ausweitet. Die Pumpleistung des Herzens nimmt ab, mit allen Folgen der Herzschwäche: verminderte Leistungsfähigkeit, Wasseransammlung in den Beinen, verkürzte Lebenserwartung.
Die vielfältigen Auswirkungen der Alkoholsucht auf das zentrale Nervensystem sind Thema des nächsten Artikels.

Lesen Sie zum körperlichen und geistigen Verfall im Verlauf einer nicht oder nur unzulänglich therapierten Alkoholkrankheit den Familienroman Der Verlust.