Vernunft in der Medizin – Am Beispiel des künstlichen Kniegelenks 3

Das Beispiel
Das Thema Gelenkersatz wird zur Zeit heftig in den deutschen Medien diskutiert. Experten befürchten neuerdings öffentlich, dass in Deutschland zu viele Patienten mit künstlichen Gelenkimplantaten versorgt werden. Eine Vermutung, die Hausärzte, so wie ich es erlebe, seit Jahren äußern, wenn sie miteinander diskutieren. Allerdings tun sie das eher im stillen Kämmerlein, unter sich. So ist es meistens, wenn Hausärzte eine Meinung zur Medizin oder zur Gesundheitspolitik haben. Für Engagement, gar für Standes- oder Gesellschaftspolitik meinen sie keine Zeit zu haben. Sie müssen ihre Patienten versorgen. Dem Verfasser geht es seit Jahren ähnlich. Dieser Blog ist auch dazu da, das ein wenig zu ändern.
Gefühl gegen Verstand?
Andererseits: Wer interessiert sich in diesem Zusammenhang mit der modernen, vielleicht sogar großen Medizin, schon für die Meinung von Hausärzten? Eine hausärztliche Meinung ist eine Meinung und nichts Fundiertes, eher ein Gefühl, zwar durch tägliche Arbeit gewonnen, aber nicht durch statistische Erhebung belegt. Es ist das alte Problem: Gefühl, intuitive Wahrnehmung und letzten Endes Beurteilung mit Augenmaß sind Dinge, die heute wenig zählen. Fakten sind gefragt, nicht das Gefühl oder die Meinung von Quasi-Laien, als die Hausärzte beim Thema Implantologie zugegebenermaßen zu betrachten sind.
200.000 künstliche Hüftgelenke und fast ebenso viele künstliche Kniegelenke wurden im Jahr 2009 in Deutschland eingesetzt. Im gesamten Rest-Europa wurden im selben Zeitraum 300.000 künstliche Hüftgelenke implantiert. Ich kenne die Zahlen für das künstliche Kniegelenk nicht, vermute aber, dass hier die Unterschiede zwischen Deutschland und dem restlichen Europa noch deutlicher werden.
Wer bestimmt, ob ein künstliches Kniegelenk implantiert werden muss?
Die Frage ist ganz einfach beantwortet: In der Regel die, die es einsetzen, also die Fachärzte, die Operateure. Denken Sie beim Lesen dieser Artikelreihe daran, dass es im Falle des künstlichen Kniegelenks nur um ein Beispiel geht. Wenn Sie einen Akupunkteur fragen, ob Akupunktur notwendig ist, welche Antwort werden Sie in der Regel bekommen? Wenn Sie einen Apotheker fragen, ob man auch ohne Medikamente durchs Leben kommen kann, fragen Sie einfach den falschen.
Bei der Entscheidung Implantat ja oder nein, helfen am Rande Bekannte, Leidensgenossen, Funk und Fernsehen, die Presse, neuerdings das Internet, der Hausarzt und Fachärzte nicht-operativer Bereiche. Treffen Sie beispielsweise bei der Frage nach einer OP auf einen nicht-operierenden Orthopäden, wird dieser eventuell eine Injektionstherapie mit Präparaten für den Knorpelaufbau vorziehen. Ob er glaubt, dass es hilft? Eindeutig ja! Fragt sich nur wem.
Das klingt zynisch, aber so sieht die Realität aus. Der Patient muss wissen, was er tut. Deswegen schreibe ich solche Artikel.
Patient und Hausarzt
Ein Patient musste bereits in der Vergangenheit wissen, was er tut und muss es in der Gegenwart. Für die Zukunft wird dieses Wissen lebenswichtig.
Dass Patienten an ihre Ärzte glauben, davon lebt die Medizin, aber auch die Ärzte und ihre Familien. Auch wir Hausärzte leben von unseren Patienten, andererseits sind wir diejenigen, die als einzige die Chance haben, das gesamte Gesundheits- und Krankheitsmanagement unserer Patienten zu überblicken. Wer sonst?
Dass Hausarzt ein aussterbender Berufszweig zu werden scheint, ist für die Politik und die Ärzte selbst kein Problem. Politik wird weiterhin Politik machen, wie die Politiker und die entsprechende Lobby es für richtig halten. Ärzte werden das Problem lösen, indem sie in andere Fachbereiche streben oder ins Ausland. Aber was macht der Patient, wenn er am Ende dieser Entwicklung ohne Gesundheits- und Krankheitsberater dasteht?
Falls jemand egoistische Motive hinter dieser Schlussfolgerung zu erkennen glaubt, weil sie ausgerechnet ein Hausarzt zieht, kann ich sie entkräften: Meine Zeit als Hausarzt neigt sich dem Ende zu. Die verbleibenden acht bis zehn Jahre Berufstätigkeit werden nicht reichen, mir den Broterwerb streitig zu machen. Im Gegenteil, zur Zeit gehöre ich einer seltenen Rasse an, die eher zuviel zu tun hat als zu wenig. Es geht nicht um meine Zeit, es geht um die Zukunft der Patienten.
Lesen Sie weiter im nächsten Artikel dieser Reihe

Vernunft in der Medizin – Am Beispiel des künstlichen Kniegelenks 2

Ein ausführliches Vorwort Teil II
Vernunft bedeutet nicht Rückschritt
So wie die Dinge liegen, ist Stagnation oder gar ein Rückschritt der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung im menschlichen Erbgut nicht vorgesehen. Es muss immer weiter gehen, was dieses weiter auch bedeuten mag. Rückschritt wird nur von einzelnen Gruppen akzeptiert, die sich dann selbst als Aussteiger bezeichnen, nie von der Gesellschaft als Ganzes.
Vernunft soll nicht Rückschritt heißen. Vernunft kann allerdings Zurückhaltung bedeuten. Vernunft kann schon deshalb nicht Rückschritt heißen, weil früher nicht alles besser war. Im Gegenteil.
Früher war nicht alles besser
Nehmen wir nur die vielen Krankheiten, die uns früher vor Rätsel gestellt haben und die heute therapierbar sind. Oder die Verteilung von Therapiemitteln zwischen arm und reich, sie erscheint uns heute zwar noch immer ungerecht, früher aber war sie katastrophal. Oder nehmen wir Beispiele aus dem Organisationswesen eines Krankenhauses: Wie viel Schindluder wurde früher auf dem Gebiet der Materialbeschaffung getrieben. Das reichte von Verbandsmaterial und Medikamenten für die Hausapotheke von Ärzten, Schwestern und Pflegern, bis hin zu Büroartikeln, die für den persönlichen Gebrauch abgezweigt wurden. Ich weiß von ganzen Schreibmaschinen, die „über“ waren, wenn Büromittel geliefert wurden. Selbst die Zeit, der scheinbar große Trumpf früherer Tage, wurde nicht selten missbraucht, um irgendwo heimlich ein Nickerchen zu machen, dringende Geschäfte in der Stadt zu erledigen, oder in der Großküche etwas vom Mittagessen abzustauben.
Früher war nicht alles besser. Ob es heute besser ist? Jedenfalls sollte es morgen besser werden.
Warum sollten die Patienten beginnen?
Nicht, weil sie Schuld an allem wären. Der Patient ist genauso schuldig oder nicht schuldig, wie alle anderen am Gesundheitswesen beteiligten Gruppen. Jeder, vom Arzt bis zum Krankenkassenvorstand, vom Gesundheitsminister bis zum Medikamentenhersteller, vom Masseur bis zum Apotheker, vom Logotherapeuten bis zum Zahnarzt, vom ärztlichen Standesvertreter bis hin zum Patienten sitzt im Glashaus, nicht als Einzelner, aber als Teil einer fehlbaren Gruppe.
Der Patient hat deswegen die große Chance, und meines Erachtens die Aufgabe zu beginnen, weil auf ihn drei wichtige Punkte zutreffen:
1. Der Patient profitiert nicht finanziell am Gesundheitswesen, sondern ideell. Sein Gewinn ist die Genesung, nicht die Aufstockung des Bankkontos.
2. Der Patient ist als einziger in der Lage vollkommen individuell, also auf sich bezogen, mit der Einkehr der Vernunft zu beginnen. Er muss „nur“ wollen und wissen, dann kann er beginnen.
3. Der wichtigste Grund überhaupt, warum der Patient beginnen sollte: Er profitiert von Vernunft und Zurückhaltung.

Diesen letzten Punkt will ich am Beispiel des künstlichen Kniegelenks erläutern. Es gäbe viele Beispiele.
Lesen Sie den dritten Teil dieser Serie!

Vernunft in der Medizin – Am Beispiel des künstlichen Kniegelenks 1

Ein ausführliches Vorwort in zwei Teilen
Das deutschlandweite Verlangen nach Meinungsäußerungen von Leuten wie Helmut Schmidt und Richard von Weizäcker, ist auch ein Ruf nach Vernunft - nach unabhängiger Meinung mit Augenmaß, basierend auf Wissen und Erfahrung. Dieser Ruf wird umso lauter, je unvernünftiger und chaotischer Politik wird und wirkt. Sozial-, Verteidigungs- und Energiepolitik geben seit Jahren in Deutschland ein klägliches Bild ab. Reformen im Gesundheitswesen sind seit langem keine mehr, sondern allenfalls Herumwursteleien, Beschneidungen und Expansionsbemühungen, wenn es um Bürokratie geht.
Wahrhaftige Veränderungen wird es von oben auf absehbare Zeit nicht geben. Das System muss also vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Ob es um Super-Bahnhöfe, Schließungen von Kaufhausketten oder Verlängerungen von Atomkraftwerken geht, Volkes Meinung wird allein über den Wahlzettel kein Gehör mehr finden. Andere Mittel müssen genutzt werden.
Was für das Leben im Allgemeinen gilt, gilt für die Medizin im Speziellen. Grundlegende Veränderungen im System Gesundheit mit Augenmaß sind von der Politik nicht zu erwarten. Aber wer sind die Füße im Gesundheitswesen? Keine Frage - die Patienten. Aber die lassen sich seit Jahren alles gefallen. Sie sind halt keine homogene Masse, wie zum Beispiel die Stuttgarter, die Karstadt-Angestellten oder die AKW-Gegner. Patienten werden auch nicht von einer Organisation vertreten, jedenfalls nicht nennenswert.
Frage:
Was bleibt, wenn, wie im Gesundheitswesen, weder Regierung noch Volk funktionieren?
Antwort:
Das individuelle Handeln!
Wer fängt an?
Ich habe vor einigen Monaten in meiner Mini-Artikelserie Wer fängt an? behauptet, es müsse der Patient beginnen, wenn wieder mehr Vernunft im Gesundheitssystem einziehen soll. Die Patienten sind die „Füße“ des Gesundheitswesen, auf die es wieder gestellt zu werden gilt. Die Patienten müssen weg vom ständigen „teurer, besser, steht mir zu“. Die pauschalen Ansprüche an die Medizin und Angebote von der Medizin sind ähnlich schädlich wie das “ständige schneller, höher, weiter” in der Welt des Sports. Hier wie da führt überhöhter Anspruch zu einem kranken System.
Vertrauensverlust
Im Sport ist der Glaube an eine vollkommen saubere Sportart verloren gegangen. Ähnlich liegen die Dinge inzwischen in der Medizin. Kann man noch an eine Medizin jenseits von Politik und Profits glauben? Kann man noch glauben, dass irgendjemand, der vom System Gesundheitswesen lebt, an etwas anderes denkt als an seinen Vorteil?

Lesen Sie die Fortsetzung des Vorwortes im zweiten Teil dieser Serie, danach beleuchten wir das Thema am Beispiel des künstlichen Kniegelenks.

Telemedizin in Spelunkistan

Begeben wir uns wieder einmal nach Spelunkistan. Der gute Herr Krause ist nämlich letztens dorthin ausgewandert.
Seine Scheu davor, peinliche Dinge beim Arzt offenbaren zu müssen hat er inzwischen verloren. Erhobenen Kopfes berichtet er seinem neuen Hausarzt also von den Erektionsproblemen.
„Haben Sie schon einmal Medikamente genommen?“ fragt Dr. Kal-El.
Herr Krause nickt und nennt den uns allen wohlbekannten Namen seiner Tabletten (den ich hier mit Sorge um die Spamfilter der geneigten Leser hier nicht ausschreibe).
„Und gut vertragen?“
Herr Krause bejaht.
„Blutdruck in Ordnung, Herz und Kreislauf gesund, keine Allergien?“
Herr Krause nickt erneut. Dr. Kal-El stellt noch ein paar Fragen und unterschreibt dann das gewünschte Rezept.
„Beim nächsten Mal brauchen Sie nicht unbedingt in die Praxis zu kommen,“ sagt er noch bevor er Herrn Krause verabschiedet, „Eigentlich wäre es auch heute nicht notwendig gewesen!“
„Wirklich nicht?“
„Viele Patienten rufen einfach nur an.“
„Aber wenn Sie einen Patienten noch gar nicht kennen?“
„Wenn Sie wünschen, können Sie natürlich gerne in die Praxis kommen. Es ist aber nicht nötig.“
„Aber ich dachte, ohne vorherigen Arztbesuch gibt’s kein Rezept…“
„Bei uns Spelunkistan schon!“
„Ist das nicht gefährlich?“
„Warum?“
„Wenn Sie mich gar nicht kennen?“
„Ich frage Sie doch ausführlich nach Ihrer Vorgeschichte. Wenn mir da etwas auffallen würde, würde ich Sie schon bitten, hereinzukommen!“
„Aber so ganz ohne Untersuchung…?“
„Schauen Sie: Neunzig Prozent der notwendigen Informationen bekomme ich durch die Anamnese. Die kann ich auch telefonisch erheben. Wenn alles in Ordnung ist, interessiert mich noch Ihr Blutdruck. Den können Sie sich in der Apotheke messen lassen. Wenn er in Ordnung ist, kriegen Sie das Rezept.“
„Aber ich könnte Ihnen doch Wer Weiß was erzählen!“
„Warum sollten Sie mich beschummeln?“
„Um ein Rezept zu erschwindeln…“
„Wenn Sie wissen, dass Sie es nicht vertragen, sollten Sie es auch nicht nehmen. Wozu brauchen Sie dann ein Rezept? Damit schneiden Sie sich doch bloß ins eigene Fleisch!“
„Stehen Sie als Doktor dann nicht vor dem Kadi?“
„Nicht in Spelunkistan, Herr Krause. Hier sind die Gesetze anders. Mir reichen Ihre Angaben und die Dokumentation des Telefongespräches. Wenn Sie mich absichtlich anflunkern, bin ich nicht dafür nicht verantwortlich!“


Krank durch Diagnose 1

Zugegeben, der Titel dieser neuen kleinen Artikelserie klingt paradox. Normalerweise gibt die ermittelte Diagnose vorhandenen Symptomen einen Namen, fasst also die Summe der Beschwerden zusammen und ordnet sie einer Krankheit zu. Der Name der Krankheit entspricht der Diagnose. Eine Diagnose ist also eher Folge und nicht Ursache von Krankheit. Fragt sich, warum der Titel trotzdem stimmen kann.
Teil 1 Die Diagnose
Sehen wir uns den Ablauf der Diagnosestellung an, wie sie beispielsweise beim Hausarzt typisch ist:
Am Anfang steht die Anamnese, die Befragung des Patienten hinsichtlich seiner Beschwerden und des Beschwerdeverlaufs. Es kann nötig sein, diesen Teil auszudehnen, beispielsweise auf länger zurückliegende Erkrankungen, auf Erkrankungen der Familie, auf die berufliche Situation und vieles andere mehr.
Danach folgt die Untersuchung. Hier setzt der Arzt seine Sinne ein.
das Sehen für die Inspektion (Betrachtung)
das Fühlen für die Palpation (Abtasten)
das Hören für die Perkussion (Klopfschall) und die Auskultation (Abhorchen mit dem Stethoskop)
das Riechen für die Wahrnehmung von Ausdünstungen einer Unterzuckerung bis hin zum Fäulnisgestank eines Furunkels
(der Geschmackssinn entfällt heutzutage, früher wurde der Urin von den Ärzten abgeschmeckt. Der süße Geschmack bewies beispielsweise das Vorliegen einer Zuckerkrankheit.)
Technische Untersuchungen
Sollte es an dieser Stelle nötig sein, folgen vielfältige Untersuchungsmethoden. Von der Blutuntersuchung bis zum Röntgen, vom Ultraschall bis zur Spiegelung reichen ungezählte diagnostische Mittel und Eingriffe.
Die gesamte Prozedur der Diagnosestellung kann unterschiedlich viel Zeit kosten. Das reicht von einer Sekunde bis zu Tagen, Wochen und Monaten
Die Blickdiagnose
Kommt eine Kind ins Sprechzimmer, mit laufender Nase und tränenden Augen, dazu das Gesicht übersät mit Bläschen, Krusten und Kratzspuren, die auch an den Händen zu sehen sind, ist die Diagnose mit einem Blick gestellt. Das Kind hat Windpocken. Nachfragen und Untersuchungen bestätigen die Diagnose nur. So etwas nennt man eine Blickdiagnose.
Die Fahndung nach einer Diagnose
Das Gegenteil von einer Blickdiagnose ist das Suchen nach und Ringen um eine Diagnose. Der Patient bietet möglicherweise eine Menge teils präziser, teils unklarer Beschwerden und Symptome, nichts passt zusammen und die normalen Untersuchungen bringen kein Ergebnis. Ist der Leidensdruck des Patienten und die Bedeutung der Symptome groß genug, geht man auf die Suche. Umgangssprachlich heißt das, der Patient wird auf den Kopf gestellt. So eine detektivische Arbeit kann unterschiedlich lange dauern und Fahrten von Facharzt zu Facharzt nach sich ziehen oder gar einen Krankenhausaufenthalt.
Wie zäh so etwas sein kann und wohin die Suche nach einer Diagnose heutzutage führen kann, folgt im nächsten Artikel.

Dr. Kunze hört (nicht) auf 19

Januar 2010
Praxisalltag und Weltanschauung
Hausarzt Dr. Kunze ging im Verbandsraum einer seiner „Lieblingsbeschäftigungen“ nach: Er pulte einen Ohrstecker aus dem Ohrläppchen eines dreijährigen Mädchens. Das Kind brüllte wie am Spieß. Kein Wunder. Der rückwärtige Verschluss war vollkommen unter der Haut verschwunden. Entsprechend musste Dr. Kunze die eitrige Wunde mit der Pinzette ein wenig spreizen und gleichzeitig von vorn gegen das Ohrläppchen drücken. Christine hielt den Kopf und die Oberarme des Mädchens, die Mutter die Beine, so gut sie konnte.
Der Clip quoll aus dem Eiter hervor. Mit einer Fremdkörperzange zog der Arzt ihn ab. Danach ließ sich der Ohrstecker auf der Vorderseite aus dem Ohrläppchen ziehen. Es war geschafft. Das kleine Mädchen wollte weg von dem bösen Mann, in die Arme der Mutter. Die blickte ihrerseits nicht besonders freundlich. Mitfühlend streichelte sie über den Kopf ihres Kindes, drückte es an sich und flüsterte mit kaum verborgenem Vorwurf:
„Hätte man nicht eine Betäubung machen können? Musste sich die Kleine so quälen!“
„In eine eitrige Infektion hinein darf keine örtliche Betäubung gespritzt werden. Außerdem wäre eine Betäubungsspritze mindestens ebenso schmerzhaft gewesen wie die ganze Aktion an sich. Eine Vollnarkose wäre die Alternative gewesen, allerdings…“
Dr. med. Anselm Kunze verstummte. Was ihm auf der Zunge lag, war der Vorschlag, wie solche ärztlichen Maßnahmen ganz und gar zu vermeiden waren, zumal bei dreijährigen Kindern. Er verkniff sich die Bemerkung. Stattdessen strich er eine desinfizierende Salbe auf die Wunde, legte eine Kompresse darüber und klebte sie vorsichtig fest. Das kleine Mädchen schrie auf.
„Vorsichtig! Sie tun ihr ja weh!“ Die Mutter war den Tränen nahe.
Dr. Kunze war zeitlebens ein ruhiger Mensch, aber manchmal hatte er das Gefühl, sich wehren zu müssen.
„Apropos, Vorsicht! Wenn wir schon dabei sind: Dieses Ohr ist für einen Ohrring, Piercings und dergleichen für die nächsten Jahre nicht zu gebrauchen. Die Gefahr einer chronischen Knorpelentzündung ist zu groß. Zum Thema Vorsicht noch eines: Dem Kind hätte dieser kleine Eingriff komplett erspart werden können, wenn es nicht zuvor eine vollkommen überflüssige Operation hätte erleiden müssen.“
„Mein Kind ist nicht überflüssig operiert worden.“
„Und ob! Ihm ist eine Operationswunde zur Einbringung eines Fremdkörpers zugefügt worden.“
„Wann?“
Die Mutter begriff nicht.
„Ich weiß nicht, wann. Das müssen Sie wissen, wann die Kleine ihre Ohrlöcher bekommen hat. Gleichwie, ich möchte die Wunde übermorgen kontrollieren. Heute im Verlauf des Tages kann ihre Tochter noch ein oder zwei Schmerzzäpfchen nötig haben. Haben Sie noch welche?“
„Mit Zäpfchen brauchen Sie Kathleen nicht zu kommen. Schreiben Sie bitte Saft auf.“
Hausarzt Dr. Anselm Kunze ärgerte sich über den Streit mit der Mutter der kleinen Patientin, den er vom Zaun gebrochen hatte. Er ärgerte sich, dass er nicht einfach seinen Mund gehalten hatte. Jetzt lag ihm der nächste Kommentar zum Thema „Zäpfchen nimmt mein Kind nicht“ auf den Lippen. Das Kind war drei Jahre alt. Diese Art Gespräche ließen sich beliebig ausweiten: „Den Saft mag mein Kind nicht“, „Da können Sie sich auf den Kopf stellen, das Pulver trinkt mein Kind nicht“, „Da können Sie meinem Kind nichts vormachen, die Tropfen schmeckt es raus“ und so weiter und so fort. Lag es an seinem Alter, dass ihn solche Aussagen reizten? War das Zeitgeist und hatte man das als alternder Mensch und Arzt zu akzeptieren? War das ein Zeichen von Altersstarrsinn, wenn man nicht akzeptierte? Oder war es auch in dieser modernen Zeit objektiv falsch, sich am Gängelband des Nachwuchses führen zu lassen?
Anselm Kunze mochte diesen Umgang mit Kindern nicht. In Notzeiten – und Zeiten von Krankheit zählten für ihn dazu – musste es möglich sein, den Nachwuchs zu führen. Für eine optimale medizinische Hilfe war das wichtig. Seiner Meinung nach war es vor allem Bequemlichkeit der Eltern und nicht deren Weltanschauung, wenn Sie den Widerständen ihrer Kleinen allzu bereitwillig nachgaben. Sicher, man konnte sich darüber unterhalten, ob dieser oder jene medizinische Einsatz notwendig war, aber wenn die Erwachsenen entschieden hatten, musste das ohne einen Einwand der Kinder, zumal dreijähriger, durchsetzbar sein. Denn, und das war die Crux, nicht immer ging es um Schnupfen oder eitrige Wunden, gelegentlich ging es um mehr. Er hatte schon Kinder ins Krankenhaus einweisen müssen, weil sie ein Antibiotikum nicht hatten einnehmen wollen und die Eltern sich nicht durchsetzen konnten.
Noch viel weniger mochte Anselm Kunze, wenn er sich dabei erwischte, wie er sich selbst die heimliche Frage stellte, was aus dieser Welt noch werden sollte. Diese verbrieft mehr als zweitausend Jahre alte Angst, die Welt in die Hände der Jüngeren zu geben, trieb schon Sokrates um. Sie war ein Armutszeugnis viel mehr für die Alten als für die Jungen. Also rezeptierte er kommentarlos den Saft statt der Zäpfchen.
Hausarzt Dr. Kunze wechselte das Sprechzimmer und begrüßte Gerhard Krone, Filialleiter seiner Hausbank, ein guter Bekannter und Patient.  Gerhard Krone und Anselm Kunze waren Männer im gleichen Alter, aber der Bankkaufmann wirkte dynamischer und voller Leben, gelegentlich war allerdings auch das Gegenteil der Fall. Anselm Kunzes Gefühlswelt glich einem Plateau, manchmal beneidete er Gerhard Krone um dessen Höhen, natürlich nicht um seine Tiefen und keinesfalls um seine Leibesfülle.
„Anselm, du musst mir helfen. Bei mir ist eine Grippe im Anmarsch und in drei Tagen fliegen Traudl und ich in die Domrep.  Ich brauche ein Antibiotika. Du weißt doch, dieses Zeug da, was sogar die Bundesregierung einlagert, wenn die Schweine- oder Vogelgrippe droht!“
Gerd Krone lachte aufgeräumt, schwärmte wortreich vom bevorstehenden Tauchurlaub in der Karibik und den abendlichen Genüssen, was Meeresfrüchte und Cocktails betraf. Hausarzt Dr. Kunze lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Das Anliegen seines Freundes war haarsträubend. Was machte die moderne Kommunikation nur aus dieser Welt? Da saß ein gebildeter Mann vor ihm, der in seinem Beruf einiges erreicht hatte und redete medizinisch gesehen kompletten Unsinn, bei obendrein fragwürdiger Lebenseinstellung. Eine Grippe war im Anmarsch. Was er meinte, war eine Erkältung mit Schnupfen, Halsschmerzen und möglicherweise Husten. Das war allenfalls ein grippeähnlicher Infekt, von einer echten Grippe konnte keine Rede sein. Für deren „Anmarsch“ gab es nicht den Hauch eines Verdachts. Eine Grippe war ein heftiger Infekt mit schlagartig heftigen Symptomen. Eine Grippe haute einen sozusagen um. Aber der Freund saß reichlich munter vor ihm. Sei es drum, dachte der Hausarzt, so sprach der Volksmund.
Dann war da noch die Ansicht, die Medizin könnte innerhalb von drei Tagen etwas gegen eine drohende oder bereits manifeste Erkältung, Grippe oder dergleichen ausrichten. In diesem Punkt galt, entgegen aller Meldungen in Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet, noch immer die alte Wahrheit, dass eine Erkältung mit ärztlicher Behandlung eine Woche dauerte und ohne sieben Tage. Was eine echte Grippe betraf, machten sich die Leute nicht klar, dass deren Auswirkungen über Monate andauern konnten.
Ein Antibiotika. Das war wie „ein Häuser“ oder „ein Autos“. Die Einzahl von Antibiotika war und blieb Antibiotikum, aber vielleicht gehörte das auch in den Bereich von Besserwisserei, einer der Lieblingscharakterzüge von Ärzten und so klugen Menschen wie Bastian Sick, der behauptete, dass der Dativ dem Genitiv sein Tod sei. Dann war da noch das „Zeug“ gegen Schweine- und Vogelgrippe, was die Bundesregierung für den Fall einer Grippeepidemie einlagerte. Tamiflu hieß das Mittel und war weder ein Antibiotika, noch ein Antibiotikum, sondern ein Virustatikum, also eine Mittel gegen Virusinfektionen, nicht gegen bakterielle Entzündungen. Als Virustatikum besaß es eine gewisse Berechtigung im Kampf gegen Viren, also auch gegen Grippeviren. Allerdings galt das, wenn überhaupt, nur im Falle der korrekten Einnahme und die begann am Tag der ersten Symptome, besser noch einen Tag vor der Infektion, was grundsätzlich eher einer Hoffnung entsprach als Wissen. Im Falle von Gerhard Krone war die Einnahme dieses Mittels kompletter Unsinn, zumal mit einigen Nebenwirkungen verbunden.
Vom Medizinischen ganz abgesehen verkniff sich Anselm Kunze hörbare Gedanken zu Kürzeln wie Malle für Mallorca und Domrep für die Dominikanische Republik. Sein Wartezimmer war voll besetzt und außerdem war das ganz bestimmt Besserwisserei.
Der Hausarzt tippte auf seiner Tastatur eine Rezeptur und legte ein Privatrezept in den Druckerschacht. Gerhard Krone erzählte weiter von Korallen und Langusten. Schließlich druckte der hausärztliche Freund das Rezept aus, unterschrieb es und reichte es seinem Gegenüber.
„Hier! Steht alles drauf, Gerd. Ich wünsche euch einen tollen Urlaub. Grüß Traudl herzlich von mir.“
„Ich danke dir, mein Freund. Schöne Grüße auch an deine Frau. Ich erzähl dir hinterher mal, wie es war. Ciao.“
Und weg war Filialleiter Gerhard Krone mit italienischem Gruß in Richtung spanischsprachiges Land. – Nicht ganz. – Sein Kopf tauchte noch einmal in der Tür auf. Das Rezept flatterte im Türspalt.
„Was soll das heißen? ‚Drei Tage ruhen. Früh schlafen gehen. Vitaminreiche Kost. Viel trinken, aber auf Alkohol verzichten. Vor allem – nicht rauchen! Bei Bedarf eine Aspirin. Die ersten Tage in der Dominikanischen Republik ruhig angehen lassen.‘ Mehr hast du nicht zu bieten? Ich dachte, du…“
„Das ist alles, was du brauchst, glaub mir und vor allem – das ist alles, was es gibt. Auch wenn man anderes liest und hört.“
„Aber…“
„Schöne Reise wünsche ich euch.“
„Du bist unmöglich.“
„Wie lange schon?“
„Schon immer.“
„Warum wechselst du nicht deinen Hausarzt?“
„So unmöglich bist du nun auch wieder nicht.“
Gerhard Krone zwinkerte ihm zu und fügte mit theatralisch erhobener Faust hinzu:
„Mach’s gut, Desperado. Kämpfe weiter für eine bessere Welt. Ich gönne mir derweil einen Cuba libre und trinke auf dich.“
Anselm Kunze lachte und ballte ebenfalls die Faust, schwenkte sie in Richtung seines Freundes, so dass dieser mit gespielter Angst verschwand.
Cuba libre – freies Kuba, ein Cocktail zu Ehren der Befreiung Kubas von Spanien. Das war nicht unpassend, immerhin lag Kuba nicht weit von der Dominikanischen Republik entfernt. Allerdings befreite sich Kuba von Spanien zum Preis der Unterwerfung unter die USA, deswegen hieß dieser Drink auch gelegentlich Mentirita – die kleine Lüge.
Dr. Kunze schüttelte den Kopf. Ja, ja, er war Arzt und – Besserwisser.

Chronik eines angekündigten Freitodes 6

Nachtrag
Zehn Tage nachdem ich zum letzten Mal von Walter Gensch gehört hatte, erfuhr ich von seinem Tod. Auf dem kleinen Pult, auf dem ich Wiederholungsrezepte oder Überweisungen unterschreibe, haftete ein Klebezettel. Ich erkannte die Schrift einer meiner Helferinnen. Sie hatte ein Kreuz gezeichnet, ein Datum daneben geschrieben, das drei Tage zurücklag und den Namen von Walter Gensch notiert, in Klammern darunter stand: Tel. Tochter.
Das war‘s also, dachte ich. Die Tochter vermeldet den Tod ihres Vaters und lässt mir die Nachricht ausrichten. Ein wenig enttäuscht war ich schon. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber sicher ein bisschen mehr als das. Eine Woche später bestand wohl auch auf der anderen Seite das Bedürfnis nach mehr.
Abschließendes Telefonat
Gut zwei Wochen nach dem organisierten Freitod meines Patienten erhielt ich einen Anruf von Monika Müller, geborene Gensch. Sie wollte mir etwas näher berichten, wie die letzten Tage mit ihrem Vater verlaufen waren. Mit trauriger Stimme vergewisserte sich die Frau am anderen Ende der Leitung, dass sie mich mit ihrem Anliegen nicht störte.
„Keineswegs,“ antwortete ich, „ich bin froh, dass Sie anrufen. Das Ende wäre sonst seltsam abrupt.“
„Ja, das empfinde ich auch so: Außerdem habe ich, ehrlich gesagt, das Bedürfnis mit jemandem zu reden, der meine Gedanken nachvollziehen kann. Ich bin zwar nicht ihre Patientin, aber vielleicht haben sie zehn Minuten Zeit.“
Das hatte ich. Allein schon, um diese Angelegenheit für mich abzurunden, war mir das Telefonat wichtig.
Was folgte war eine kurze Zusammenfassung der letzten Tage im Leben von Walter Gensch. Während mir Tochter Monika am Telefon berichtete und kaum ihre Tränen im Zaum halten konnte, versuchte ich mich in die Situation hineinzuversetzen, von der sie erzählte.
Es begann mit der Zugfahrt. Eine Zugfahrt in den Tod.
Letzte Reise
Selbst, wenn man vollkommen entschlossen ist zu sterben und der Begleiter einen in jeder Hinsicht unterstützt, muss das eine zutiefst seltsame und traurige Fahrt gewesen sein. Dazu dauerte sie über viele Stunden, vom Norden Deutschlands bis nach Zürich ist es kein Katzensprung.
Es folgten drei Tage im Hotel vor Ort in der Schweiz. Weil noch einige Formalien zu erledigen waren und ein genauer Termin gesetzt werden musste, lag dieser Zeitraum zwischen Ankunft und Endpunkt der Reise. Drei Tage.
„Was macht man in diesen drei Tagen? Was macht man in solchen drei Tagen?“ fragte mich die Tochter am Telefon. Ich wusste es nicht und blieb stumm. Stadtbummel, Museumsbesichtigungen, Theaterbesuch, all das wird wohl kaum in Frage gekommen sein. Sie fuhr fort:
„Ich weiß nicht, was man macht. Ich weiß nur, was wir gemacht haben. Wir haben viel geweint.“
Monika Müller weinte wieder. Sie führte die teils schönen, teils skurrilen und makabren letzten Stunden mit ihrem Vater noch ein wenig aus. Noch ergreifender als ihr Weinen waren ihre tapferen Versuche nicht zu weinen.
Ihren letzten Satz werde ich nie vergessen.
Bitteres Fazit
„So eine Reise wünsche ich meinem ärgsten Feind nicht.“
Dieses bittere Fazit wird meine Beratung lenken, wenn ich jemals wieder in einem solchen Fall zu beraten habe. Die Worte erinnern an die riesige Kluft zwischen Theorie und Praxis, gerade wenn es um das Thema „Selbstbestimmtes Sterben“ geht. Die Worte haben schon den Tenor dieser Artikelserie gelenkt, denn eigentlich bin ich ein Verfechter von Selbstbestimmung jeder Art.
Aber auch die andere Seite muss gesehen werden. Das Sterben in der Gegenwart ist häufig lang und wenig würdevoll. Für die Zukunft steht zu befürchten, dass es länger und unwürdiger wird.
Geschwiegen wurde lange genug. Wir werden darüber reden müssen.

Chronik eines angekündigten Todes 5

Das Ende
Bis zum Tag der  vorgesehenen Abreise war die Angelegenheit Freitod für Walter Gensch zu einem ausgewachsenen Verwaltungsakt geworden. Anträge mussten gestellt, ein lebenslaufartiger Aufsatz geschrieben, Überweisungen getätigt werden, neben meinen Bescheinigungen wurden psychiatrische Gutachten angefordert. Mehrfach war die Rede davon, dass sich die Schweizer Firma gegenüber der Schweizer Regierung und der Öffentlichkeit absichern müsste. Manchmal fragte ich mich, wer die größeren Probleme hatte, der Sterbewillige oder die Sterbehelfer. Mit Pietät hatte das meiner Meinung nach wenig zu tun.
Gesundheitliche Sorgen
Die Abreise in die Schweiz wurde schließlich wegen einer Erkältung des Patienten verschoben. Husten, Fieber und Kopfschmerz machten den Patienten reiseunfähig. Tochter Monika, inzwischen als Begleitung angereist, machte sich Sorgen um ihren Vater. Sie befürchtete eine Lungenentzündung und bat um einen Hausbesuch. „Befürchten“ empfand ich in diesem Zusammenhang als eine eher skurrile Wortwahl, spiegelt andererseits die Unsicherheit. Eine Lungenentzündung hätte eine Chance auf passive Sterbehilfe geboten, aber dazu schwieg ich.
Im Rahmen meines Hausbesuches untersuchte ich meinen langjährigen Patienten, stellte die Diagnose einer fieberhaften Bronchitis und verschrieb Medikamente, inklusive Antibiotika. Die Einlösung des Rezepts beziehungsweise die Einnahme der Medikamente stellte ich frei. Patient und Tochter sahen mich fragend an und mein Antwortblick war sicher eine einzige Gegenfrage, denn alle drei schwiegen wir.
Wiederholte Abschiede
Ich wusste nicht, ob ich mich nun meinerseits endgültig von meinem Patienten zu verabschieden hatte. Falls er keine Kontrolluntersuchung von mir wünschte, was in diesem Zusammenhang denkbar war, würde er einfach losfahren, wenn er wieder reisefähig war. Ob er in diesem Zustand und zu diesem Zwecke reisefähig war oder nicht, grenzte für mich an eine philosophische Frage. Zugegeben, der Patient fühlte sich nicht wohl und eine Auto- oder Zugfahrt in die Schweiz wäre eine Strapaze gewesen. Der wesentliche Punkt, der sonst in einer ähnlichen Situation die Reisefähigkeit einschränkte, entfiel in diesem Fall: Eine Reise hätte die Krankheit verschlimmern können, und man hätte mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Aber war das Schlimmste in diesem Fall das Schlimmste oder das Erhoffte?
Endgültiger Abschied
Ich verabschiedete mich und kündigte eine Kontrolluntersuchung in fünf Tagen an. Diese Form ließ alles offen. Und tatsächlich sah ich meinen Patienten Walter Gensch nie wieder.
Drei Tage später war er soweit hergestellt, dass er mit seiner älteren Tochter Monika in die Schweiz fuhr. Die jüngere Tochter Lisa war zwar inzwischen eingeweiht, machte dem Vater auch keine Vorwürfe mehr, wie sie es anfangs getan hatte, wollte aber auf keinen Fall mit in die Schweiz fahren.
Beide Töchter reagierten auf ihre Weise.  Jede der vier in den Freitod von Walter Gensch einbezogenen Personen reagierte auf eigene Weise, alle Reaktionen waren verständlich und nachvollziehbar. Das machte die Angelegenheit so schwierig.
Die Beteiligten
Person Nummer eins war Walter Gensch. Er wollte einfach nur sterben. Das war verständlich. Andererseits war er nicht dafür geschaffen, selbst Hand an sich zu legen, das war verständlich. Er suchte sein Heil in einer kommerziellen Schweizer Firma, verständlich. Er entwickelte Zweifel auf seinem Weg, sehr verständlich.
Person Nummer zwei war Tochter Monika. Sie war die ältere von beiden Töchtern. Sie verstand die Todessehnsucht ihres Vaters und wollte, was er wollte. Sie begleitete ihn in die Schweiz. Alles sehr verständlich und nachvollziehbar. Tochter Monika würde sich zwei weitere Wochen später noch meine Hochachtung verdienen.
Person Nummer drei war Tochter Lisa. Die jüngere der beiden Töchter war von Anfang an verschreckt vom Sterbewunsch ihres Vaters. Verständlich. Sie ergab sich aber schließlich den Wünschen des Vater, weil er und nicht sie die wichtigste Person in diesem Drama war und, weil sie keinen letzten Streit mit Vater und Schwester wollte. Anerkennenswert. Aber sie fühlte sich nicht in der Lage mit in die Schweiz zu fahren. Verständlich.
Person Nummer vier war ich, der Hausarzt. Ein Arzt ist einer solchen Situation besonders als Berater und Begleiter herausgefordert. Aber er hat sich selbst zurückzustellen, denn er ist nicht wichtig. Trotzdem ist ein Arzt ein Mensch, zumal ein Hausarzt. Ob der Leser es glauben mag oder nicht, am Ende hat mich die Nachricht vom Tode Walter Gensch sehr berührt.

Walter Gensch ist also tot. Er starb kurz vor Weihnachten 2009 in der Schweiz.
Aber, die inzwischen Jahre währende Geschichte seines Freitodes ist damit nicht zu Ende. Ein emotional sehr berührendes Kapitel lag noch vor mir. Es ist nicht mehr lang, aber es ist mir so wichtig, dass es einen eigenen Artikel bekommen soll.

Chronik eines angekündigten Freitodes 4

Teil 4 Organisiertes Sterben
Walter Gensch durchschaute mich und lehnte meinen Vorschlag ab. Er tat das sogar mit einem verschmitzten Lächeln, wie ich es schon lange nicht mehr bei ihm gesehen hatte und meinte: „Guter Versuch.“
Er war jetzt entschlossen zu sterben. Kurz vor Weihnachten 2008 eröffnete er mir, dass er alles Nötige in die Wege geleitet habe. Er käme nur noch einmal, um sich von mir zu verabschieden. Er dankte mir für die Fürsorge und für die jahrelange Begleitung, auch im Namen seiner Ehefrau. Ein paar Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber er wischte sie schnell beiseite und richtete sich auf.
Ich schluckte und wollte Näheres wissen. Er erzählte mir von einem Schweizer Unternehmen, das sich rührend um Menschen wie ihn kümmerte, für die sonst niemand bereit war, etwas zu tun. In der Schweiz würde er eine Spritze bekommen und die würde ihn endlich sterben lassen.
Geschäft mit dem Tod
Als Arzt weiß ich um diese Praktiken im Ausland, weiß auch, dass man in Holland Zyankalikapseln kaufen kann. Persönlich habe ich mich in meiner Einstellung aber gegen die Lösung einer Art kommerziellen Todesfabrik entschieden. Die Sache mit dem Erwerb einer Zyankalikapsel steht auf einem anderen Blatt Papier und birgt meiner Meinung nach ihre ganz eigenen Probleme.
Manchmal bin ich so schrecklich nüchtern und deswegen fragte ich:
„Müssen Sie etwas bezahlen?“.
„Natürlich. Der Tod ist nicht umsonst, der Freitod erst recht nicht.“
Ein Satz für ein Buch.
„Mögen Sie mir sagen wie viel?“
Genau genommen war es reine Neugier, aber auch der Wunsch nach Information, falls ein anderer Patient mal danach fragen würde. Wir Hausärzte benutzen Patienten oft und gern als Informationsquelle für andere Patienten. An die genaue Summe erinnere ich mich nicht mehr, aber es waren einige tausend Franken Anzahlung, somit auch einige tausend Euro. Eine Anzahlung auf den Tod.
„Was heißt das, Anzahlung?“
„Das ist eine ganz seriöse Firma. Die wollen und müssen alles genau prüfen. Dafür ist die Anzahlung da. Unter anderem müssen sie auch prüfen, ob die Entscheidung zu sterben, tatsächlich meine freie Entscheidung ist, die ich mit klarem Verstand getroffen habe. Ob ich wirklich so krank bin, dass der Tod für mich eine Erlösung wäre.“
„Also wird es noch mehr Zahlungen geben?“
„Ja, noch zwei. Eine weitere, wenn alles klar ist und der Termin anberaumt wird und eine dritte sozusagen posthum.“
Verwaltungsakt: Sterben
Anschließend bat mich Walter Gensch um eine Bescheinigung, in der ich als Hausarzt bestätigte, dass der Kunde beide Voraussetzungen für den organisierten Freitod erfüllte. Daran war nicht zu zweifeln. Und wer war ich, der einem Entschlossenem dieses Papier vorenthalten wollte? Aber ich stellte eine Bedingung, ich wollte den Briefwechsel mit der Firma einsehen.
Um es kurz zu machen, der Patient und ich sahen uns doch noch einmal wieder, allein deswegen, weil ich das Attest persönlich aushändigen wollte. Falls die Frage beim Leser auftaucht: Eine Gebühr nahm ich für die erste Version nicht. Das Gebühren erheben konnte einem in diesem Fall verlitten werden. Allerdings folgten noch mindestens zwei weitere Versionen von Bescheinigungen, soweit ich mich erinnere, außerdem noch etwa 12-15 weitere Wiedersehen mit Walter Gensch.
Die neuen Attestanforderungen hingen mit den Wünschen der Schweizer Sterbefirma zusammen. Allerdings konnte ich den Leuten nicht weiterhelfen. Ich formulierte die Bescheinigungen zwar um, aber viel Neues gaben sie nicht her. Hier wurde mehr oder weniger von mir verlangt, ich möge eine tödliche, unheilbare Krankheit bescheinigen. Das konnte ich nicht. So war es einfach nicht. Hier ging es, wie so oft in meinem Beruf, um das Verschieben des Schwarzen Peters.
Problem: Töchter
Die häufigen Begegnungen mit dem Patienten hatten einen weiteren Grund. Zwar verabschiedete sich Walter Gensch beinahe jedesmal für immer von mir, aber manchmal eben nicht. Die Male, die er es nicht tat, schwankte er in seiner Entscheidung, seinen Tod zu organisieren. Ich hatte das Gefühl auch die Grundfesten seines Atheismus schwankten. Manchmal sprach er davon, dass ein Gott, wenn es ihn denn gäbe, so ein Leben wie seines nicht gewollt haben konnte.
Für sein Schwanken machte er seine Töchter verantwortlich. Konnte er es den beiden „Mädchen“ antun, war die Dauerfrage. Mit seiner älteren Tochter, Monika, hatte er inzwischen geredet. Sie war die einfachere von beiden. Von ihr wusste er, dass sie ihn in jedweder Richtung unterstützen würde. Lisa, die Jüngere, durfte von nichts wissen.
„Die würde Zeter und Mordio schreien,“ sagte Walter Gensch. Und ich antwortete:
„Das geht nicht. Sie können Ihre Tochter nicht mit Ihrer letzten Tat hintergehen. Dann hätten Sie zu beiden nichts sagen dürfen und in einem posthumen Brief an sie um Verständnis bitten müssen. Aber Sie können nicht mit der einen reden und mit der anderen nicht.“
Ob das, was ich tat oder sagte, richtig war oder nicht, wusste ich nicht. Aber ich wollte so antworten und so raten, wie ich es all die Jahre getan hatte – so wie ich selbst dachte und empfand. Immerhin kam der Patient zu mir. Warum hätte er zu mir kommen sollen, wenn er nicht meinen Rat hätte haben wollen.
Dann folgte der Tag der Abreise in die Schweiz.

Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe. 
Zum Thema selbst bestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben.

Chronik eines angekündigten Freitodes 3

Teil 3 Der Suizidversuch
(Teil 1 bitte hier klicken, Teil 2 hier)
Ich hatte Walter Gensch ein Notrufsystem aufschwatzen können, bei dem er sich jeden Morgen telefonisch zu melden hatte. Rief er nicht an, fuhr jemand vom ambulanten Pflegedienst zu ihm und öffnete mit einem zu diesem Zweck deponierten Schlüssel, seine Wohnung und sah nach ihm.
So wurde Walter Gensch gefunden. Er hatte etwa dreißig Schlaftabletten auf einmal genommen, nicht ahnend, dass ich ihm eine Medizin verschrieben hatte, mit der es praktisch nicht möglich war, sich selbst zu töten. Dazu hatte er selbst den Zeitpunkt der Einnahme mit sieben Uhr morgens gewählt, um acht Uhr war sein Kontrollanruf fällig. Wollte Walter Gensch wirklich nicht mehr leben oder wollte er demonstrieren wie schlecht es ihm ging? Die Frage war für mich als Hausarzt schwer zu beantworten, spielte aber zunächst keine wichtige Rolle.
Missglückter Neustart
Für Herrn Gensch folgten sieben Wochen stationärer Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, in denen er sich zunehmend stabilisierte, obwohl er selbst am Ende meinte, diese Zeit hätte ihm überhaupt nichts genützt. Er vermisste seine Frau und hatte Schmerzen, wo genau, konnte er nicht sagen, der Rücken, die Gelenke, alles tat weh.
Die in der Klinik verordneten Antidepressiva ließ er sich zwar von mir weiter verschreiben, ich kam aber ziemlich bald zu der Überzeugung, dass er sie nicht mehr einnahm. Die Einschätzung meines Patienten war bis hierher schon schwierig gewesen, wurde aber in der Folgezeit immer schwieriger.
Einerseits klagte er über Schmerzen, wollte aber keine stärkeren Medikamente, erst recht keine morphinartigen, weil die süchtig machen konnten. Ein des Lebens müder, Schmerz geplagter sorgte sich um Sucht?
Im Zwiespalt
Einerseits wollte Walter Gensch keine aufwändige medizinische Therapie mehr, sorgte sich aber um einen Leberfleck, dessen Harmlosigkeit ich ihm wieder und wieder bestätigen musste. Eines Tages hatte er einen Termin bei mir zum Fäden entfernen. Er hatte sich den Leberfleck bei einem Chirurgen entfernen lassen. Die Hautveränderung war tatsächlich harmlos gewesen, aber das war nicht das Entscheidende.
Walter Gensch erwartete nichts mehr von der Medizin, erschien aber mindestens einmal die Woche in meiner Sprechstunde, wenn nicht öfter. Das wäre noch mit Einsamkeit zu erklären gewesen, aber er verlangte darüber hinaus jedes Quartal mindestens drei oder vier Überweisungen zu irgendwelchen Spezialisten. Eines Tages erschien er bei mir und erzählte mir von einem Besuch bei einem Kniespezialisten, der ihm ein neues Knie einpflanzen wollte. Ich sollte nur bestätigen, dass er dafür gesund genug war und außerdem sollte ich ihm Nachhinein eine Überweisung ausstellen, damit er einen Teil der vierhundert Euro Privatrechnung nicht selbst tragen musste. Wir waren uns zuvor mehr als einmal einig geworden, dass seine Gesundheit so einen Eingriff nicht zuließ. Ganz zu schweigen von der psychischen und physischen Kraft, die man im Anschluss an so eine Operation bedurfte.
Wunsch zu sterben
So ging es viele Monate hin und her. Einerseits der Wunsch nach dem Sterben mit Standardsätzen wie „ach, wäre ich doch schon tot“ oder „warum kann ich nicht einfach sterben“ oder „am liebsten wäre ich jetzt bei meiner Frau“. Im selben Tenor der schriftlich verfügte Wunsch nach Minimaltherapie, andererseits immer wieder eingeforderte maximale Medizin.
Allein sieben verschiedene Augenoperationen ließ Walter Gensch über sich ergehen, von denen ich überzeugt war, dass keine einzige ihn weitergebracht hatte. Allenfalls die Operateure, aber das ist ein anderes Kapitel der Medizin.
Dann überraschte er mich mit einem neuen Gedanken: Ich sollte ihm beim Sterben helfen, und es sollte mein Schaden nicht sein. Er wollte eine Spritze von mir, aber seinen Töchtern sollte ich um Himmels Willen nichts davon erzählen.
Meine Überlegungen dazu: Dieser Mann hatte jedes Recht zu sterben. Das Jahr 2008 neigte sich dem Ende zu und er war 83 Jahre alt. Seine Schmerzen waren unerträglich und wurden zeitweise nur noch vom Grad seiner Depression übertroffen. Aber wollte er wirklich sterben? Oder war er im Grunde nur einsam?
Ich schlug einen Handel vor, mit dem ich genauso gut ein Eigentor schießen konnte. Aber Patienten erwarten eine Antwort von ihren Hausärzten. Die Situation um den Wunsch nach Sterben ist nicht so Schwarz oder Weiß, wie sie gern in den Medien dargestellt wird, dies kann man leicht aus dem bisherigen Text erkennen. Was hilft es dem Patienten, wenn ich sage: „So etwas mache ich nicht. Das ist verboten.“ Das weiß er selbst. Er will Hilfe und dafür bin ich als Arzt eigentlich da.
Ungewöhnlicher Handel
Mein Vorschlag war folgender: Der Patient sollte für ein Jahr in eine der besten Senioreneinrichtungen des Ortes ziehen. Wollte er nach diesem Jahr noch immer sterben, würde ich ihm dabei in irgendeiner Form helfen. Wie genau, sagte ich nicht, wusste ich auch nicht. Aktive Sterbehilfe kam für mich in diesem Fall aus vielerlei Gründen auch nicht in Frage.
Mein Hintergedanke war, dass sich das vorgeschlagene Seniorenwohnheim sehr stark um den sozialen Kontakt der älteren Herrschaften kümmerte. Meiner Meinung nach war Einsamkeit zentrale Problem in Walter Gensch‘ Leben. Zum anderen herrschte in dieser, wie in jeder anderen Wohneinrichtung für ältere Menschen, ein Mangel an männlichen Mitbewohnern. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau, war Walter Gensch vielleicht reif für ein neues Beziehungspflänzchen.
Sollte dieses Jahr auf Probe den gewünschten Erfolg bringen, war ich aus der Sache raus und dem Patienten wäre gedient. Sollte Walter Gensch allerdings nach wie vor von der Sehnsucht zu sterben beherrscht sein, hätte ich ein Problem. Aber wie sagt Sam Shem in seinem House of God so treffend? Der Patient ist der Kranke.
Walter Gensch wollte sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen lassen.

Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.
Zum Thema selbst bestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben.

Chronik eines angekündigten Freitodes 2

Teil 2 Der Anfang vom Ende
(wenn Sie Teil 1 Vorbemerkung lesen möchten, bitte hier klicken)
Walter Gensch war 81 Jahre alt als er im Frühjahr 2006 seine Frau verlor. Das Ehepaar Gensch lebte bis dahin in der typisch symbiotischen Gemeinschaft vieler älterer Leute, die im Alter noch ihren Wohnort wechseln. Sie waren auf sich allein gestellt und ließen selbst wenig Kontakt nach außen zu. Zudem hatten sie ständig das Gefühl als Zugereiste angesehen zu werden, die nicht in die Kleinstadt gehörten, in der sie nun lebten. Obwohl sie seit 15 Jahren dort wohnten.
Andererseits waren sie sich selbst genug. Alle ehemaligen Freunde und Bekannten lebten in Hamburg und waren, wie sie selbst, nicht mehr mobil genug, sich noch gegenseitig zu besuchen, oder es fehlte am nötigen Elan. Die beiden Töchter des Ehepaares Gensch lebten in eigenen Familien, jeweils über dreihundert Kilometer entfernt. Sie besuchten ihre Eltern mit einer Frequenz von etwa sechs Besuchen im Jahr, was immer mit zeitlichem und organisatorischem Aufwand verbunden war.
Tod der Ehefrau
Als Erika Gensch starb, verlor ihr Ehemann Walter nicht nur seine geliebte Ehefrau, sondern auch den einzigen Menschen, mit dem er regelmäßig sprach oder etwas unternahm. Er verlor die Frau, mit der er in die Stadt spazierte, die sich um ihn kümmerte oder um die er sich zu kümmern hatte und mit der er streiten konnte.
Walter Gensch war Witwer, plötzlich und unerwartet, im Alter von 81 Jahren. Obwohl seine Frau noch zwei Jahre älter war als er und wesentlich kränker, hatte keiner von beiden damit gerechnet, eines Tages allein in der Welt zu stehen. Dafür gab es keinen Plan.
Walter Gensch wurde von einer Welle der Trauer erfasst, die ihn vollkommen aus der Bahn warf. Er war nicht nur traurig, er war traurig und einsam. Dieser Zustand dauerte an. Die Zeit heilte seine Wunden nicht. Ein Jahr später war er noch genauso tieftraurig wie kurz nach dem Tode seiner Erika. Die Trauer begann längst sich zu verselbstständigen und verstärkte seinen ohnehin vorhandenen Hang zur Schwermut. Akademisch betrachtet wandelte er auf dem schmalen Grat zwischen einer mittelschweren und schweren Depression. Manchmal war er kaum noch in der Lage seinen Alltag zu bewältigen. Walter Gensch wollte sterben, starb aber nicht. Er verlor an Gewicht, weil er weder kochen noch essen mochte. Seine Kleidung war nicht mehr von einwandfreier Sauberkeit und gelegentlich roch man, dass er seine Körperhygiene vernachlässigte.
Kranke Seele, kranker Körper
Dazu geschah ihm, was in der Altersdepression häufig geschieht: Bereits vorhandene Schmerzen verstärkten sich. Sein Rücken, sein Nacken, der Kopf und die Gelenke schmerzten mit zunehmender Intensität. Statt im Nachtschlaf für wenige Stunden Entspannung zu finden, quälte er sich wach im Bett, weil er nicht schlafen konnte.
Walter Gensch ließ sich von mir, seinem Hausarzt, unter gutem Zureden Schmerz- und Schlafmittel verschreiben, Antidepressiva oder gar eine Gesprächstherapie verweigerte er.
Nach etwa eineinhalb Jahren der Einsamkeit, im Herbst 2007, in einer Phase leidlicher psychischer Stabilisierung, entschloss Walter Gensch sich zu einem Umzug in eine andere Wohnung. Dort sollte alles besser werden. Die Erinnerung an seine Frau würde nicht in jeder Nische lauern. Dazu lag seine neue Wohnung im Parterre, außerdem war sie preiswerter, obwohl sie sogar ein bisschen größer war als die alte Wohnung. Allerdings spielte Geld im Leben von Walter Gensch keine entscheidende Rolle.
Fehler in der Lebensorganisation
An dieser Stelle passierten gleich mehrere Fehler auf einmal, die auch durch den Hausarzt nicht zu verhindern waren. Der Umzug geschah nicht zur besseren Versorgung, also etwa hin zu irgendeiner Form der Betreuung. Mit dem Umzug verließ Walter Gensch das Zentrum der Kleinstadt und zog in die Peripherie. Mit dem Umzug in die Peripherie entfernte sich Walter Gensch nicht nur von allen Versorgungsstellen, wie Einkaufsmöglichkeiten, Apotheken, Banken und Ärzte, sondern er trieb seine ohnehin quälende Einsamkeit noch voran. In der alten Wohnung konnte er wenigstens theoretisch vor die Tür treten und war in der Stadt unter Leuten. Statt sich zu verkleinern, da er bereits mit der Pflege der alten Wohnung überfordert war, wurde die neue Wohnung noch größer.
Walter Gensch war jetzt traurig, einsam, überfordert und zusätzlich fremd in seiner Umgebung. Seine Töchter erhöhten zwar die Besuchsfrequenz, aber ein Angebot in die Nähe einer seiner beiden Töchter zu ziehen, lehnte Walter Gensch mit dem Verweis auf die Grabstelle seiner Ehefrau ab. Nebenbei gesagt, hätte das die Situation auch nicht vereinfacht.
Thema Patientenverfügung
Neben vielen anderen Aspekten einer zwar von Sympathie getragenen, aber schwierigen Patient-Arzt-Beziehung zwischen Walter Gensch und mir, kam immer häufiger das Thema Patientenverfügung auf den Tisch. Walter Gensch wollte möglichst bald sterben und nicht durch intensiven medizinischen Einsatz daran gehindert werden. Schließlich wurde eine Variante der Patientenverfügung verfasst, die nur die nötigste Pflege und eine großzügige Schmerztherapie noch zuließ. Die Grundzüge seiner Verfügung wollte Walter Gensch auch für den Zustand des klaren Bewusstseins angewandt wissen. Das hieß, ich sollte als Hausarzt nur noch Untersuchungen und Therapien durchführen, die das Leben erträglicher gestalteten, es aber nicht verlängerten.
Daraus ergaben sich einige gravierende Konsequenzen. Beispielsweise war Walter Gensch Hypertoniker (Bluthochdruck), litt aber nicht darunter. Er verlangte also von mir die Blutdrucktabletten abzusetzen. Als Hausarzt sehe ich bei einem, zu diesem Zeitpunkt 82-jährigen, jedes Recht, dies zu verlangen und entsprach nach eingehender Beratung des Für und Wider den Wünschen des Patienten. Am Ende blieben die Schmerztherapie und die Mittel gegen Herzschwäche, die ich so veränderte, dass eine gewisse Bluthochdrucktherapie darin enthalten war. Dazu kamen Schlaftabletten, die Walter Gensch ohne mein Wissen zu sammeln begann, bis er meinte genügend zusammenzuhaben.
Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.
Zum Thema „Selbstbestimmtes Altern“ empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erscheinen im Verlag Leben&Schreiben

Neue Geschichte um Dr. med. Kunze Ende Januar

Ab dem Neuen Jahr erscheinen die Geschichten um Dr. med. Kunze immer am Monatsende. Die nächste Episode um den Hausarzt wird am 28. Januar 2010 veröffentlicht.
In der 19. Ausgabe der Kolumne erhält der Leser wieder ausführlich Einblick in den Ablauf des Praxisalltags eines Hausarztes. Darüber hinaus denkt Dr. med. Anselm Kunze über die Art und Weise wie Medizin heutzutage läuft so intensiv nach, dass der Blogbesucher seine Gedanken verfolgen kann.
Schauen Sie also ab dem 28. Januar 2010 in den Kopf eines Hausarztes, mit der neuen Kolumne um den Allgemeinmediziner Dr. med. Anselm Kunze.

Der andere Hausarzt wünscht all seinen Besuchern ein frohes und gesundes Neues Jahr. Gleichzeitig bedanke ich mich für die regen Besuche (weit über 30.000) und die überwiegend anregenden und wohlmeinenden Kommentare.

Chronik eines angekündigten Freitodes 1

Die Artikelserie Chronik eines angekündigten Freitodes beschäftigt sich mit dem Thema Selbstbestimmtes Sterben im Hochalter.

Der andere Hausarzt hat sich mit diesem schwierigen Kapitel der Medizin in den letzten Wochen und Monaten intensiv befassen müssen. Der wahre Fall eines Patienten hat aufgezeigt, wie weit Theorie und Praxis voneinander entfernt sein können und welche Schwierigkeiten diese Entfernung birgt. Der Fall ist so interessant und so erschütternd zugleich, dass ich ihn ausführlich schildere. Die realen Personen werden selbstverständlich durch Änderung der Charaktere und der Namen geschützt. Die Geschichte selbst verliert dadurch nicht an Wahrheit.
Teil 1 Vorbemerkungen
Die Debatte um den selbst bestimmten Tod im Alter wird so lange kein Ende nehmen, wie es die moderne Medizin und unterschiedliche Weltanschauungen sowie Religionen gibt. Die Debatte wird also voraussichtlich ewig fortgesetzt. Ein Ende ist nicht absehbar. Im Gegenteil. Es kann davon ausgegangen werden, dass die moderne Medizin immer mehr Lebenszeit schafft. Dieses Mehr, dieser Gewinn, wird vorrangig die Anzahl der Lebensjahre betreffen.  Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die Qualität der hinzu gewonnenen Lebensjahre zunächst einmal zweitrangig ist. Das ist kein böser Wille, hier geht es um das Machbare. Die Geschichte der Menschheit zeigt, dass das Machbare gemacht wird, eben auch um den Preis, dass es dem, was geschaffen wurde noch an Qualität mangelt. So geschieht Fortschritt. Johannes Gutenberg hat seine technischen Erfindungen mit beweglichen Lettern begonnen und niemand hat ihm je vorgeworfen, warum er nicht gleich den Offset- oder Digitaldruck erfunden hat.
Wenn also eine Lebensverlängerung möglich ist, so wird diese auch angestrebt. Das gilt für das Leben des Menschen an sich ebenso wie für den Einzelfall.
Verschiedene Wege
Hochalte, kranke und sterbende Menschen besitzen im Wesentlichen drei Instrumente mit dieser Entwicklung zurecht zu kommen oder ihr entgegen zu wirken:
Sie begeben sich in die Hände des Schicksals oder die einer höheren Macht und harren der Dinge, die da kommen mögen - in Zuversicht, Gleichgültigkeit oder Angst.
Sie bedienen sich des Instruments der Verfügung und legen fest, wie im Falle der eigenen Entscheidungsunfähigkeit mit ihnen verfahren werden soll. In aller Regel bedeutet dies eine aktive Beschneidung der medizinischen Möglichkeiten. Denn ohne Verfügung liefe das „volle Programm“.
Sie kümmern sich frühzeitig um einem aktiven Freitod. In der Diskussion sind hier verschiedene Varianten, vom professionellen Unternehmen bis zur halblegal besorgten Zyankalikapsel aus Holland.
Theorie und Praxis
Im vorliegenden Fall wurden die drei oben genannten Wege als verschiedene „Stadien“ durchlebt. Vom „Es wird schon werden“, über das Aufsetzen einer Patientenverfügung, bis hin zum organisierten Freitod. Eine bewegender letzter Lebensabschnitt.
Der  Personenkreis, der sich um einen guten Zeitpunkt des eigenen Todes Gedanken macht, wird mit zunehmender Lebenserwartung größer. Das ist insofern logisch, als dass es immer mehr alte und hochalte Menschen gibt und geben wird, die den Zeitpunkt eines würdigen Todes zu verpassen fürchten. Die Angst vor Siechtum, Schmerz und Belästigung anderer nimmt mit dem Alter zu. Jeder Mensch weiß im Prinzip um die hohe Lebenserwartung und jeder Mensch kennt Fälle, deren Lebensphase des Hochalters und des Sterbens unwürdig verlaufen sind oder noch verlaufen. Der Gedanke an den selbstbestimmten Tod liegt da offenbar näher als noch vor Jahren und Jahrzehnten.
Dieser Artikel will nicht die Diskussion um den selbstbestimmten Tod fortführen oder gar das Für und Wider abwägen. Darum wird es im folgenden Text nicht gehen. Die wahre Geschichte soll ein Bild von der Realität eines Problems geben über das gern hitzig und theoretisch diskutiert wird, wobei der rein praktische Blickwinkel gern außer Acht gelassen wird. Am Ende wird die Geschichte wohl denjenigen die Augen öffnen, die glauben, die Freiheit, den Zeitpunkt des eigenen Todes wählen zu können, wäre an sich schon etwas Erstrebenswertes und ein hohes Gut.
Ernüchtert wurde unter anderem auch der Verfasser dieses Textes selbst, der im Grunde zu einem Maximum an Selbstbestimmung für den Menschen im Allgemeinen und den Kranken oder den Hochalten im Besonderen tendiert. Theorie und Praxis sind zwei Welten, auch und gerade bei diesem Thema.
Der Fall
Es geht um Walter Gensch, 84 Jahre alt. Die Geschichte beginnt ungefähr Mitte des Jahres 2006. Zu diesem Zeitpunkt ist mir der Patient Gensch seit Jahren bekannt. Herr Gensch ist chronisch krank, leidet vor allem unter einem chronischen Schmerzsyndrom, Polyarthrose, Herzschwäche und seit 2006 verstärkt sich eine seit langem vorhandene Depression
Fortsetzung folgt im nächsten Artikel dieser Reihe.

Zum Thema selbstbestimmtes Altern empfehle ich die Erzählung Spätvorstellung, geschrieben vom Autor dieses Blogs, erschienen im Verlag Leben&Schreiben

Neue Diskussion um Numerus clausus

In der Öffentlichkeit gibt es wiedermal eine Diskussion um den Numerus clausus im Zusammenhang mit dem Medizinstudium. Endlich, kann man da nur sagen. Denn: Ein Ausnahme-Notendurchschnitt im Abitur macht noch lange keinen guten Arzt. Leider dauert diese Diskussion, mehr oder weniger intensiv, schon so lange an wie es den NC gibt.
Allerdings: So sehr ich für die Abschaffung des NC war und bin, so sehr bin ich auch davon überzeugt, dass der Wegfall des NC nicht die Probleme um den Ärztemangel in Deutschland löst. Ein eben approbierter Jungarzt entscheidet ja nicht vor seinem Studium schon, ob er danach ins Ausland gehen wird. Um junge Leute, die in Deutschland Medizin studiert haben, auch in deutschen Krankenhäusern und Praxen zu halten, braucht es mehr als die Abschaffung des NC. Dieses wäre nur ein erster Schritt, der allerdings, wenn er richtig gegangen würde, positive Wirkung auf die Jungmediziner in Deutschland haben könnte. Mein Vorschlag wäre deswegen ein
Duales Studium
einzuführen. Gemeint ist damit ein duales Studiensystem, wie es dies bereits in der freien Wirtschaft gibt, also büffeln und praktisch arbeiten. Im Falle der Medizin könnte das beispielsweise heißen, die ersten drei bis vier Jahre des Studiums sehr stark mit pflegerischer und organisatorischer Arbeit in Krankenhäusern zu verbinden. Allerdings sollten in diesem System die Medizinstudenten nicht im Stellenschlüssel der Pflege eingeplant werden. Auf diese Weise hätte man gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen:
1. gäbe es mehr Arbeitskraft in der Pflege
2. studierten die künftigen Mediziner wesentlich näher an der Praxis, will heißen am Patienten
3. würde der elitäre Beigeschmack des Medizinstudiums durch Wegfall des NC und Aufwertung der pflegerischen Arbeit reduziert.
Harte Zwischenprüfung
Eine bestandene Zwischenprüfung nach drei oder vier Jahren dualem Medizinstudium könnte in so einem System die Qualifikation zur Fortführung des Studiums zum Arzt darstellen. Wer diese Zwischenprüfung nicht mit der Qualität besteht, die nötig ist, um weiter studieren zu können, könnte dann evtl. als höher qualifizierte Pflegekraft ausgebildet werden (Stationsleitung, Hygiene-Fachkraft, OP-Assistenz u.ä.) Das muss gar nicht negativ gesehen werden, denn so manch ein junger Mensch kann auf diese Weise feststellen, dass ihm die pflegerische oder organisatorische Seite mehr liegt als die ärztliche. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass auch das gesamte pflegerische Management eine Anpassung der Ausbildung an moderne Zeiten gebrauchen könnte.
Wer das Auswahlverfahren einer Zwischenprüfung diskriminierend findet, sollte sich fragen, wie diskriminierend ein Numerus clausus ist.
Streichen des Praktischen Jahres
Würde man dazu noch das letzte Jahr des Medizinstudiums (PJ) zu einem tatsächlichen Studienjahr machen und nicht, wie seit Jahren, zu einem Jahr der billigen Arbeitskraft, hätte man wiederum zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen:
1. Frustabbau wegen Wegfall des ausbeuterischen Praktischen Jahres (hier bleibt nicht einmal Zeit zum Geld verdienen nebenbei)
2. Verlängerung der Ausbildung, ohne die eigentliche Studienzeit zu verlängern
Finanzieller Ausgleich
Mir ist klar, dass auf diese Weise die Ausbildung von Ärzten teurer wird. Allein die Bezahlung eines Assistenzarztes von Anfang an kostet Geld. Aber…
1. ist eine bessere Ausbildung in der Medizin sicher nicht zum Nulltarif zu haben und
2. könnten Krankenhausverbände einen Ausbildungs-Fond gründen und so einen kleinen Teil zur Ausbildung der Ärzte beisteuern. Immerhin würden gerade die Krankenhäuser von dieser Art der Neustrukturierung profitieren.

manchmal kann man nicht gewinnen


Eine unserer Stammkundinnen ist wieder da.
Nennen wir sie Frau Müller. Frau Müller ist fünfundachtzig Jahre alt und kommt öfters, meistens abends zwischen sechs und halb acht, mittwochs oder am Wochenende kann es auch schonmal früher sein.
Ins Krankenhaus eingewiesen wird Frau Müller immer vom hausätztlichen Notdienst. Den ruft sie an, weil ihr eigener Hausarzt ihr nicht helfen kann.
Frau Müller hat Rückenschmerzen.
Seit Jahren schon. Sie ist bestimmt schon hundertmal geröntgt worden, war auch oft genug in der „Röhre“ (also im CT oder MRT), wurde von Orthopäden, Chirurgen, Neurologen, Neurochirurgen, Physiotherapeuthen, ab und zu auch von Internisten oder Psychiatern behandelt. Und natürlich von ihrem Hausarzt. Aber der ist ja doof.
Fakt ist: Frau Müller hat immer noch Rückenschmerzen.
Sie war auf Kur und auf Reha, in Kurzzeitpflege und wieder zu Hause, in der Ambulanz, in der Notaufnahme, auf Station und einmal sogar auf der Intensivstation. Das war aber ein Versehen.
Und Frau Müller hat immer noch Rückenschmerzen.
Ihr Hausarzt ist ein richtiger Dorfdoktor vom alten Schlag, der fährt regelmäßig zu ihr hin, verschreibt Schmerzmittel oder Physiotherapie, hört ihr zu und hält auch ab und zu ihre Hand.
Aber Frau Müller hat immer noch Rückenschmerzen. Und weil ihr Hausarzt die nicht wegmachen kann ruft sie dann abends den Notdienst an weil ihr Hausarzt sie ja nicht ins Krankenhaus schickt.
Aber der Notdienst Arzt, der sieht nur dass sie sich vor Schmerzen krümmt und hört dass sie vor drei Wochen mal hingefallen ist, sie könnte sich ja einen Wirbel gebrochen haben, also weist er sie ein.
Und da ist sie nun.
Und hat immer noch Rückenschmerzen.

Antibiotika helfen nicht gegen Schweinegrippe…

…und andere Virusinfekte. Es ist völlig sinnlos, die zur Zeit kursierenden Erkältungskrankheiten mit einem Antibiotikum heilen zu wollen. Es handelt sich um Virusinfekte und Antibiotika helfen nicht gegen Viren. Sie kürzen deswegen auch die Krankheitsdauer nicht ab. Im Gegenteil - Penicillin und Co. können sogar zur weiteren Verschlechterung führen, weil sie Mund- und Darmflora zerstören.
Es ist ein Trugschluss zu glauben, es gäbe auch nur ein einziges ursächliches Medikament gegen all die jährlich wiederkehrenden grippalen Infekte. Es gibt keins! Was es gibt, sind allesamt Arzneien zur Linderung der Symptome, wie Kopfschmerz, Fieber, Husten, verstopfte Nase und anderes mehr. Mehr kann ein Hausarzt auf diesem Gebiet nicht tun. Die beste Therapie eines grippeähnlichen Infekts oder einer echten Grippe, der „normalen“ oder der Schweinegrippe, ist immer noch, sich Ruhe zu gönnen. Viel schlafen, viel trinken und, so Appetit vorhanden, vitaminreiche Kost essen sind wichtige Hilfen für das Immunsystem. Eine echte, ursächliche, hausärztliche Therapie wäre demzufolge, eine Arbeitsunfähigkeit für Arbeitnehmer auszustellen.
Nur in den wenigen Ausnahmefällen einer anzunehmenden Superinfektion mit Bakterien, wie im Falle der Lungenentzündung, der eitrigen Entzündung der Nasennebenhöhlen, des Mittelohres oder der eitrigen Mandelentzündung sind Antibiotika berechtigt. Aber wie gesagt, hier geht es um Ausnahmen. In diesen Fällen haben Bakterien die Schwächung des Organismus ausgenutzt und eine „Über-Entzündung“ verursacht. Kein Grund für Ärzte, Antibiotika gleichsam mit der Gießkanne zu verteilen oder für Patienten, sie vom Arzt einzufordern, damit man endlich wieder gesund wird, nach dem Motto:
„Herr Doktor, mit meiner Erkältung schleppe ich mich jetzt schon so lange zur Arbeit, jetzt brauche ich aber mal was Richtiges!“
Noch widersinniger ist der immer wieder von Patienten geäußerte Wunsch nach einem Antibiotikum in Reserve, weil man in den nächsten Tagen nach Gran Canaria oder sonst wohin fliegt und man sich so leicht im Flieger ansteckt.
Patienten kann ich als langjähriger Hausarzt nur raten, quengeln Sie nicht, wenn Sie kein Antibiotikum bekommen. Meistens hat es seinen Grund. Wenn Sie zu sehr quengeln, bekommen Sie zwar eventuell das von Ihnen gewünschte Antibiotikum, aber nicht weil Sie es bräuchten, sondern damit sie Ruhe geben und das Sprechzimmer freigeben. Ein Rezept ist schneller ausgestellt, als eine lange Debatte geführt.

Dr. Kunze hört (nicht) auf 18

Dezember 2009
Es weihnachtet sehr
Helmut Grabert saß seinem Hausarzt gegenüber und bat verschämt lächelnd um ein Weihnachtsgeschenk. Er zwinkerte dem Arzt zu, so wollte er Unsicherheit überspielen. Der Patient rutschte unbehaglich auf der Sitzfläche seines Stuhls, als sei sie ihm zu heiß. Dr. med. Anselm Kunze begriff sofort, was Herr Grabert meinte und wunderte sich, warum ihm das Thema nach all den Jahren noch immer peinlich war. Der Hausarzt nickte, lächelte wissend, erhob sich und verließ das Sprechzimmer.
Wenige Augenblicke später kehrte Dr. med. Anselm Kunze zurück und überreichte Alfred Grabert eine Packung Vitala. Der Patient bedankte sich artig und sprach leise davon, dass er sich bei anderer Gelegenheit revanchieren würde. Der Hausarzt wehrte das ab, wusste aber andererseits die Erdbeermarmelade und das Quittengelee der Graberts zu schätzen. Eine kleine Musterpackung Vitala - vier Tabletten, die das Eheleben seines Patienten bereicherten, wobei Hausarzt Dr. Kunze sich das im Einzelnen nicht vorstellen wollte. Hermine Grabert wog mehr als zwei Zentner und ihr Gatte sah aus, als wöge er nicht einmal einen. Beide waren über Achtzig. Frau Grabert litt an Rheuma und ihr Mann an schwerer chronischer Bronchitis, jeder Atemzug ein Pfiff, trotz starker Medikamente. Aber die Liebe fand ihren Weg – zu jeder Zeit und in jedem Alter. Wer wusste das besser als ein erfahrener Hausarzt.
Anselm Kunze hatte über die Jahre lernen müssen, sich mit dem Thema Sex im Alter zu beschäftigen. Als Jungarzt hatte er sich das nicht vorstellen können. Später hatte er Fortbildungen besucht, um besser helfen zu können. Das Verlangen nach körperlicher Liebe hörte nie auf, allerdings hinkte gelegentlich das Können dem Wollen hinterher. Hausarzt Dr. Kunze war inzwischen selbst in einem Lebensalter, von dem er noch vor zwanzig, dreißig Jahren behauptet hätte, es wäre längst asexuell. Wie kam man nur als junger Mensch darauf?
Wenn der Vertreter der Pharmafirma Plitzner bei Dr. med. Kunze auftauchte, bat der Arzt grundsätzlich um Musterpackungen von Vitala, im stillen Auftrag seiner Patienten. Der Plitzner-Mann verkniff sich ein Grinsen, das hätte sagen können: Mann, ich weiß doch Bescheid. Auch Doktoren können Potenzprobleme haben. Anfangs hatte Anselm Kunze noch möglichst lässig erklärt, dass es nicht um ihn ginge. Aber je mehr er seine Bitte um ein Medikamentenmuster kommentierte, umso mehr verhärtete sich der unausgesprochene Verdacht des Pharmavertreters. Irgendwann verzichtete der Arzt auf jede Bemerkung und nahm die Musterpackungen dankbar entgegen, gern auch mehrere, denn nicht nur Herr Grabert litt unter Standschwierigkeiten. Dr. Kunzes Vorgehen konnte als finanzielle Vergünstigung betrachtet werden, denn die Tabletten waren sündhaft teuer – mehr als zehn Euro das Stück. Aber das machte dem Hausarzt nichts aus, er brauchte die Pillen tatsächlich nicht selbst, nahm kein Geld dafür und Patienten wie die Graberts hätten sich die Wunderpillen niemals leisten können. Wenn Anselm Kunze etwas hasste, war es Zweiklassen-Medizin.
Herr Grabert erhob sich und wollte wie üblich etwas anfügen, etwas erklären, ausführlicher danken. An dieser Stelle floss meist ein Witzchen ein, gern auch schlüpfrig. Aber der Hausarzt hob den Arm und gebot mit dieser Geste Einhalt. Es war nicht nötig, dass der Patient ihm übermäßig dankte, als Hausarzt reichte er nur Geschenke weiter. Auf einen zweideutigen Spruch nach dem Motto: Süßer die Glocken nie klingen, oder was Grabert sonst so zur Weihnachtszeit einfallen würde, konnte er verzichten.
Als er allein im Sprechzimmer saß, bemerkte Dr. Kunze, dass die Kerze im Adventsgesteck auf seinem Schreibtisch beinahe abgebrannt war. Das war ein Glücksfall. Nicht, weil der Stummel einen Brand hätte auslösen können, das Gesteck war in dieser Hinsicht sicher. Nein, der Glücksfall war sein Bemerken. So konnte er die Kerze austauschen und seiner Frau damit signalisieren, wie sehr er ihre Bemühungen um weihnachtliche Stimmung in der Praxis beachtete. Sollte seine Ehefrau, was gelegentlich vorkam, obwohl sie vorn am Empfang arbeitete, sein Sprechzimmer betreten und den Kerzenstummel mit erkaltetem Docht entdecken, würde sie das als Missachtung ihrer Mühe empfinden. Ganz bestimmt mit Recht. Ihre Stimmung wäre dann entsprechend. Auch mit Recht. Also öffnete Dr. med. Anselm Kunze dankbar die oberste Schublade seines Schreibtisches, griff nach einer neuen Kerze und sorgte so für Ersatz.
Er lehnte sich einen Moment zurück, genoss die kleine Flamme, die auf dem Docht tanzte und war zufrieden. Wie oft war es ihm schon passiert, dass er einen frischen Blumenstrauß, ein neues Bild seiner Familie auf dem Schreibtisch, dezenten Osterschmuck oder eben ein Adventsgesteck tagelang nicht bemerkt hatte. Allein, dass seine Ehefrau nachfragen musste, wie ihm das neue Dekor gefiel, war ein Affront. Und wenn er einmal zur Notlüge griff, durchschaute seine Ehefrau sehr schnell, dass er nur so tat, als wüsste er, wovon sie redete.
Deswegen summte er jetzt leise die Melodie von „Oh, du fröhliche“ und beobachtete noch ein wenig die brennende Kerze, als er eine Bewegung in der offenen Sprechzimmertür wahrnahm. Er sah auf und erkannte seine Frau.
„Weißt du, Anselm, das ist ein liebes Zeichen, dass du meine Bemühungen mit deiner Freude und Aufmerksamkeit honorierst. Danke.“
Sie gab ihm rasch einen Kuss.
„Aber, aber, ich habe zu danken. Du schmückst doch mein Zimmer immer so nett, dass mich sogar die Patienten darauf ansprechen.“
„Wirklich? Auch, Herr Grabert?“
„Nun, Herr Grabert nicht gerade, aber andere.“
Anselm Kunze parierte den Trick seiner Ehefrau ohne zu zögern. Ihm war sofort klar, dass sie herausbekommen wollte, ob der Patient ihren Ehemann auf die abgebrannte Kerze angesprochen hatte. Anselm Kunze war nicht nur als Hausarzt ein alter Hase. Er lächelte seine Frau an und fragte wie nebenbei:
„Wolltest du etwas?“
„Ich? Ach, ja. Dein Kollege Dr. Krohne fragt an, ob du seinen Notdienst am 2. Weihnachtstag übernehmen kannst. Seine Tochter hatte einen Autounfall im Ausland. Die Krohnes wollen so schnell wie möglich zu ihr und über die Festtage bleiben. Er hat aber diesen vermaledeiten Bereitschaftsdienst, den er nicht los wird.“
„Kann ich ihn denn übernehmen?“
„Das musst du wissen, du bist derjenige, der arbeiten muss.“
„Und du bist diejenige, die statt Weihnachten mit einem gelassenen Ehemann zu feiern, zumindest am zweiten Festtag einen angespannten Arzt ertragen muss.“
„Mir ist es gleich, weil unser Weihnachten in Familie dieses Jahr sowieso erst am Neujahrswochenende stattfindet. Du weißt ja, die Kinder können nicht früher.“
„Gut, dann sag` Krohne zu. Er wird erleichtert sein. Ich wäre es auch an seiner Stelle. Und du auch, nicht wahr?“
Seine Frau nickte und verschwand, während Hausarzt Dr. Kunze versonnen in die Kerze starrte. Damit er das nicht zu lange tat, klingelte das Telefon. Christine von vorn war am Apparat.
„Herr Köhler von der BKK Norderelbe. Er will wissen, warum Frau Fischer noch immer krank geschrieben ist, obwohl sie arbeitsfähig aus der Kur entlassen wurde.“
„Sag ihm, er kann mich… Nein, sag es nicht. Leg‘ auf! – Ja, Kunze!“
„Hier ist Köhler von der BKK Norderelbe. Es geht um Frau Fischer. Warum arbeitet die gute Frau noch immer nicht? Sie ist aus der stationären REHA als arbeitsfähig entlassen worden und Sie haben einfach die Krankschreibung verlängert?“
„Wer ist dort? Köhler, sagten Sie? Sagt mir nichts. Der Bundespräsident werden Sie ja wohl nicht sein. Ha, ha. Ich kenne Sie nicht, also ist es schlecht mit einer telefonischen Auskunft, nicht wahr? Sie wissen ja - die Schweigepflicht! Ich rufe Sie zurück. Bis später.“
„Halt! Sie brauchen doch meine Nummer.“
„Wenn ich eine Nummer zurückrufen würde, die Sie mir geben, bräuchte ich nicht zurückzurufen. Ich werde mich über die BKK Norderelbe verbinden lassen. Wenn Sie das nicht wollen, stellen Sie Ihre Frage bitte schriftlich.“
Der Filialleiter der BKK am anderen Ende der Leitung war zähneknirschend einverstanden. Dr. Kunze sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf. Der Hausarzt wechselte das Sprechzimmer, begrüßte die Patientin Kluge, ging in den Verbandsraum und wechselte den Verband von Patientin Lierse, kehrte zurück ins Hauptsprechzimmer und besprach mit Patientin Rohde die bevorstehende Operation, dann sah er auf die Uhr. Halb eins. Freitag. Er ließ sich mit der BKK Norderelbe verbinden. Als sein Telefon klingelte hatte er die Sekretärin von Filialleiter Köhler am Apparat. Herr Köhler war zu Tisch. Dr. Kunze wies die Sekretärin an, ihrem Chef Herrn Köhler eine Notiz zu hinterlegen, dass er zurückgerufen hatte.
„Haben Sie meinen Namen notiert?“
„Ja, habe ich, Herr Dr. Kunze.“
Der Hausarzt setzte eine Spritze im Labor, führte eine Krebsvorsorgeuntersuchung durch, danach eine Blutdruckkontrolle, dann ein Belastungs-EKG, danach untersuchte er die Nieren der kleinen Felicitas per Ultraschall. Die Mutter machte sich Sorgen, weil das sechsjährige Mädchen gelegentlich nachts einnässte. Dr. Kunze wusste, dass die Probleme des Mädchens nichts mit dem Zustand ihrer Nieren oder Harnblase zu tun hatten, sondern in der kleinen Seele ruhten. Aber bevor der Hausarzt auf die Ehe der Eltern zu sprechen kommen wollte, musste er sicher sein, dass körperlich mit dem Kind alles in Ordnung war. Felicitas schenkte ihm nach der Untersuchung ein selbst gemaltes Bild zum Abschied. Der Hausarzt bestaunte den prächtigen Tannenbaum voller bunter Kugeln und bedankte sich.
Das Telefon läutete. Christine hatte Herrn Köhler von der BKK am Apparat. Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze ließ ausrichten, dass er zu Tisch sei. Er lächelte bei Kerzenschein. Er würde um kurz nach drei noch einmal zurückrufen. Freitags war um diese Zeit in behördenähnlichen Einrichtungen längst Feierabend. Er summte die Melodie von “Fröhliche Weihnacht überall” und bewegte seine beiden Zeigefinger dazu, als dirigierte er einen Chor.

Weihnachtszeit bei Dr. med. Kunze

Am 8. Dezember erscheint die Weihnachtsausgabe von Dr. Kunze hört (nicht) auf. Auch an Dr. med. Anselm Kunzes Praxis geht die Advenszeit nicht spurlos vorüber. Weihnachtsschmuck, Geschenke all das spielt beim Hausarzt eine Rolle in dieser Zeit. Wer möchte kann in der 18. Folge Es weihnachtet sehr ein wenig Kerzenduft schnuppern und lesen, dass nicht jeder von der besinnlichen Stimmung des Hausarztes profitiert.

Die 17 bisher erschienen Geschichten aus der Reihe sind unter dem Thema Kolumne des Monats nachzulesen.

Das akute Koronarsyndrom Teil 3

Möglichkeiten der Therapie
(Die beste Therapie ist immer die Vorsorge, das gilt auch und besonders für die Koronarstenose (Verengung der Herzkranz-Gefäße). Hierzu verweise ich auf meine Artikelreihe Heilkraft der Bewegung, insbesondere Teil 7 - 9.)
Im Falle des akuten Koronarsyndroms gibt es mehrere Therapiemöglichkeiten, die hier nicht vollständig aufgeführt werden sollen. Erklärt werden die wichtigsten Begriffe, mit denen häufig auch der Laie zu tun hat, vor allem der betroffene Laie. Auch in der einzelnen Erklärung besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit, wichtiger ist die Verständlichkeit. Ärzte verlieren sich gern im fachchinesischen Detail, was beim Patienten zur Verwirrung führt. Zur Erklärung dient der folgende Überblick:
1. Medikamente
Wie im Vorartikel dieser Reihe zu lesen war, endet der Mechanismus der Gefäßschädigung im Falle des akuten Koronarsyndroms mit einem Gefäßeinriss. Daraus resultieren Blutaustritt und Gerinnselbildung innerhalb der betroffenen Ader, was zum Verschluss der Arterie führt. Bei frühzeitiger Behandlung ist das Gerinnsel (Thrombus) medikamentös auflösbar. Diese Therapie nennt man Lyse (Kurzwort für Thrombolyse=Auflösen des Gerinnsels). Mit frühzeitiger Lyse kann ein freier Blutfluss erreicht werden, damit wird die dauerhafte Schädigung des Herzmuskels durch den Herzinfarkt (infarcere - verstopfen) vermieden. Der Herzinfarkt wird durch diese Form der Therapie rückgängig gemacht (keine Narbe im Herzmuskel!).
2. PTCA
Hinter der Abkürzung PTCA verbirgt sich ein komplizierter Fachausdruck, zu deutsch: Ballonkatheter. Bei der Ballonkatheterisierung wird von der Leiste aus ein Katheter in das Herzkranz-Gefäßsystem eingebracht und durch eine zu therapierende Engstelle geschoben. Der Katheter wird so platziert, dass innerhalb der Engstelle ein Ballon aufgeblasen und so das entsprechende Gefäß geweitet werden kann. Dieses Verfahren wird häufig mit einer Stent-Versorgung kombiniert.
3. Stent
Bei der Stent-Versorgung wird das Prinzip der Rohr-in-Rohr-Reparatur angewandt. Das verengte Gefäß wird aufgeweitet und ein kleines Röhrchen (Stent) eingeschoben, diese Einlage soll ein erneutes Verengen der Ader verhindern. Es gibt unterschiedliche Arten von Stents, beispielsweise beschichtete und unbeschichtete. Die Beschichtung besteht aus einem Medikament, das entzündliche Reaktionen und damit Zellwachstum verhindern soll. Die Gefahr eines erneuten Verschlusses der Ader trotz liegendem Stent soll so verringert werden.
PTA (das “C” steht ausschließlich für “Coronar”) und Stent-Versorgung sind Techniken, die nicht exklusiv für die Herzkranzgefäße stehen. Sie finden in anderen Schlagadern ebenso Anwendung wie in den Atemwegen oder der Speiseröhre, wenn es eine Engstelle zu überwinden gilt.
4. Der koronare Bypass
Als letzte Möglichkeit den Blutfluss in den Herzkranzgefäßen wieder zu gewährleisten gilt die Bypass-Operation. Bei einer Bypass-Anlage wird eine verengte bzw. verstopfte Arterie überbrückt. Eine neue Ader wird vor und nach der Engstelle auf die körpereigene Koronararterie gesteppt und so eine Umleitung für das Blut geschaffen. Solche Umleitungen können gleich an mehreren Stellen notwendig sein, deswegen gibt es Mehrfach-Bypässe. Als “Umleitungsmaterial” dienen Venen, die aus dem Bein des betroffenen Patienten entnommen werden. Für diese Technik bedarf es gleich zweier Wunder der Natur:
a) eine Vene ist an der Entnahmestelle in der Lage nachzuwachsen und
b) eine Vene ist am Einpflanzungsort in der Lage zur Schlagader zu werden, sobald sie Blutdrücken ausgesetzt ist.
Eine Bypass-Operation ist eine Operation am offenen Herzen und damit kein Kinderspiel. Auch wenn in jüngerer Zeit dazu nicht mehr in jedem Fall das Brustbein aufgesägt werden muss, bleibt diese Operation ein Risiko. Deswegen werden andere Techniken, falls machbar, vorgezogen.

Schweinegrippen-Virus ist ein Killer…

…aber nur was die Zeit betrifft.
50 Millionen Impfdosen gegen das Schweinegrippen-Virus sind von der Bundesregierung bestellt worden. Man stelle sich nur einmal vor, die würden tatsächlich gebraucht und verbraucht werden. Abgesehen vom Lieferengpass wäre das ein Riesen-Zeitproblem.
50 Millionen Impfungen verbrauchen pro Impfung, sagen wir mal 5 Arzt-Minuten und 5 Assistenz-Minuten. Das ist äußerst knapp kalkuliert, denn darin enthalten sind Zeitfresser, wie Impfberatung, Aufklärung über Nebenwirkungen und die Impfung selbst. Dazu kommt Verwaltungsaufwand wie: Listenführung für Impfwillige, Bestellung des Impfstoffes, Lagern, Aufruf zur Impfaktion, Vorbereitung des Impfaktes, Dokumentieren der Impfung und Abrechnung auf dem Krankenschein.
Wenn man also 10 Minuten pro Impfung rechnet, ergibt das einen Zeitaufwand von:

50 Millionen x 10 Minuten = 500 Millionen Minuten = eine halbe Milliarde Minuten
= 8.333.333 Stunden : 60.000 Hausärzte mit 8 Stundentag ~ 18 reine Impftage ohne sonstige medizinische Behandlung.

Das hieße, wenn man diese Arbeit komplett als zusätzliche Arbeit sieht (und das muss man, da alle anderen Krankheiten kein Rücksicht auf H1N1 nehmen), wären das von 9 Wochenenden jeweils die Samstage und Sonntage oder von 18 Wochenenden “nur” die Samstage als reine Impfarbeit. Dies gilt aber nur, wenn die Samstage und Sonntage frei sind, also kein hausärztlicher Notdienst anfällt.
Was also hat sich die Bundesregierung dabei gedacht, als sie 50 Millionen Impfungen bestellte und nichts weiter organisierte, zum Beispiel Bundeswehreinsatz, Impfaktion des Deutschen Rotes Kreuz u.a.m.? Ich biete zwei wenig schmeichelhafte Antworten:
1. sie hat sich nichts dabei gedacht (die wahrscheinliche Variante)
2. sie hat gedacht, so schlimm wird’s schon nicht werden. Womit sie Recht gehabt hätte. Das Volk will kaum geimpft werden und deswegen wird’s nicht so schlimm. Allerdings dies hieße, die Bundesregierung hätte von vornherein damit gerechnet, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen.

Ich gebe zu, die Rechnung weiter oben ist nicht sehr genau, schließlich gibt es hier und da zusätzliche Impfaktionen, die nicht von uns Hausärzten durchgeführt werden. Aber es bleibt ein Wust an Mehrarbeit in den Praxen, der an die Grenzen des Machbaren stößt, vor allem an die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Praxispersonals. Die Damen bei uns in der Praxis tun mir von Herzen leid, und das trotz des schleppenden Impfstarts, wegen Lieferengpass und geringer Impfmotivation. Was am Empfangstresen und am Telefon abläuft, wäre einen eigenen Artikel wert. Aber dafür ist keine Zeit.

Auf www.der-andere-hausarzt.de wird bis auf weiteres nur ein Artikel die Woche erscheinen. Das Schweinegrippen-Virus ist halt ein Killer.

Das akute Koronarsyndrom Teil 2

Durchblutungsstörung am Herzen
Um zu verstehen, was ein akutes Koronarsyndrom genau ist, muss man wissen, wie eine Durchblutungsstörung an den Herzkranzgefäßen entsteht und wirksam wird. Die Vorstellung, eine Engstelle in den Herzkranzgefäßen wird immer enger bis schließlich ein Verschluss entsteht, ist veraltet und nicht zutreffend.
Atherosklerose (auch Arteriosklerose oder “Gefäßverkalkung”)
Die Atherosklerose ist die Grundlage jeden Schadens an den Herzkranzgefäßen. Hierbei kommt es vor allem an Stellen, die hohen Drücken ausgesetzt sind (Gefäßabgänge, Gefäßverzweigungen) zu entzündlichen Veränderungen im Bereich der Intima (Innenauskleidung der Schlagader). Im Zuge der fortschreitenden Entzündung folgt der fortschreitende Schaden, schließlich die Plaquebildung (Entzündung der Ader, inklusive Ablagerung und beginnender Verengung = Atherosklerose).
Dies klingt ein bisschen kompliziert, ist aber eine interessante Veränderung der Erkenntnisse über die Entstehung der Plaques. Einfach zusammengefasst: Nicht von außen lagern sich “Schmutzpartikel” an, sondern die Veränderung geschieht innerhalb der Gefäßwand. Dies erklärt die herausragende Bedeutung des Blutdrucks für die Atherosklerose. Jede Plaquebildung läuft über den Blutdruck, auch die Erhöhung der Plaquebildungsrate durch andere Risikofaktoren (Diabetes, Nikotinmissbrauch, Adipositas usw.) scheint schlussendlich über den Faktor Blutdruck zu wirken. Das würde erklären, warum es in den Venen (in denen kaum Druck herrscht) keine Sklerose und damit keine Plaquebildung gibt.
Plaqueruptur
Zur akuten Durchblutungsstörung in den Koronararterien kommt es durch ein Aufreißen (Ruptur) der Plaques und damit der Gefäßinnenhaut. In diesem Fall passiert, was immer bei Schädigung von Häuten passiert, es tritt Blut aus, das gerinnt. So wird der Schaden verschlossen, allerdings auch, wie man sich vorstellen kann, zum Teil oder ganz - die betroffene Ader. Die Plaqueruptur führt also zum akuten Koronarsyndrom, das eingeteilt wird in :
a) instabile Angina = Herzenge in Ruhe ohne EKG-Veränderungen, bei Teilverschluss eines Herzkranzgefäßes
und
b) Herzinfarkt = vollkommener Verschluss eines Herzkranzgefäßes mit drohendem Untergang des versorgten Herzmuskels
Diese Theorie der Entstehung von Durchblutungsstörungen an den Herzkranzgefäßen erklärt:
a) warum auch geringe Engstellen gefährlich sein können (sie können jederzeit einreißen)
und
b) warum starke körperliche Belastungen auch bei scheinbar herzgesunden Patienten zu Herzinfarkten führen können (ein eher unscheinbarer Plaque reißt unter der Druckerhöhung ein).

Im dritten Teil dieser kleinen Serie wird es um die Therapie des akuten Koronarsyndroms gehen.

In eigener Sache

Das Thema Impfung gegen Schweinegrippe ist keine Einbahnstraße, weder in die eine noch in die andere Richtung.
Es gibt inzwischen so viele Stellungnahmen zu meinen Artikeln und zum Thema Schweinegrippe überhaupt, dass ich an dieser Stelle schreiben will, wie ich als Hausarzt mit der Impfung in der Praxis umgehe. Da inzwischen doch einige meiner Patienten diese Seite lesen, schreibe ich diesen Text vor allem gegen deren Verunsicherung. Ich möchte nicht, dass meine Kritik an der Impfung bzw. an dem Drum und Dran mit vorbehaltlosem Verdammen der Impfung in einen Topf geworfen wird. Dafür trage ich als Hausarzt viel zu viel Verantwortung, aber eben in beide Richtungen.
1. jeder Patient der möchte und fest entschlossen ist, bekommt von mir eine Impfung gegen Schweinegrippe - ohne Diskussion. Einzige Ausnahme: Schwangere und Kleinkinder. Da fühle ich mich einfach überfordert, die richtige Entscheidung zu treffen.
2. jeder Patient, der mich fragt, ob er sich impfen lassen soll, bekommt von mir eine Information, die selbstverständlich subjektiv ist. (Gibt es eine objektive Information? Ich glaube nicht).
Ich möchte diese Meinung hier nicht noch einmal ausführen. Alle Details, die ich zum Thema denke, kann man hier in meinem Blog nachlesen. Ich glaube, das ist ein fairer Umgang. Jeder weiß auf diese Weise, mit wem er es bei mir zu tun hat. Nach meiner Beratung darf man sich als Patient auch für die Impfung entscheiden, ohne dass ich auch nur einmal die Augen verdrehe, nicht einmal in Gedanken. Niemand hat die Weisheit gepachtet, aber die eigene Meinung ist ein Gut der Freiheit.
3. In wenigen Ausnahmefällen habe ich die Impfung sogar empfohlen. Welche Fälle das sind, schreibe ich hier nicht, weil es wirklich nur eine Handvoll sind und damit nähere Informationen mit meiner Schweigepflicht kollidieren. Es gibt also keinesfalls ein generelles Verdammen der Impfung von meiner Seite. Darum geht es mir auch gar nicht, das kann man meinen sehr kritischen Artikel bei genauer Lektüre auch entnehmen.
4. Wie kommen kritische und skeptische Ärzte mit ihrer “Schuld” klar, wenn es denn zu einer Mutation und zu einer Katastrophe kommt?
Antwort 1 mit einer Gegenfrage: Wird die Imfpfung wirklich gegen ein mutiertes Virus helfen?
Antwort 2 mit einer Gegenfrage: Rechtfertigt eine vage Vermutung möglicherweise übertriebenes Handeln?
Es gibt in der Geschichte unendlich viele Beispiele von Herdentrieb mit fatalen Auswirkungen. Und so langsam bin ich selbst Geschichte. Ich bin so lange Arzt, habe so viele Versprechungen gehört, was alles harmlos sei, Vioxx, Lipobay, Trasylol, Kava-Kava, Acomplia usw.. Ich wurde geradezu als Fossil angesehen, als ich mich weigerte diese Medikamente frühzeitig zu verschreiben. Ich habe mir angewöhnt, ein Medikament erst zu rezeptieren, wenn es ein Jahr unbeschadet auf dem deutschen Markt überstanden hat. Damit bin ich in den letzten Jahren außerordentlich gut gefahren und manchmal war es trotzdem noch zu früh zu handeln wie die anderen. Dieses Verhalten führt dazu, dass man einen Impfstoff mit unzureichend getestetem Immunmodulator nicht einsetzen kann. Ich möchte nicht zu den unbedarft ja-sagenden Ärzten gehören, die eines Tages wieder ein neues Contergan auslösen. Da könnte man zu Recht mit dem Finger auf mich zeigen und mehr als das. Ich bin Hausarzt und persönlicher Berater von Hunderten, nicht nur Blogger im virtuellen Raum. Ist das verantwortungslos?
5. Wenn von Seiten der Politik und der Impfindustrie von Anfang an ein offeneres und klareres Kommunikationskonzept gefahren worden wäre, würde es eine Menge weniger Kritiker und Skeptiker geben. Auf diese Weise produziert man eine Impfmüdigkeit, die der Politikmüdigkeit insgesamt entspricht. Hier liegt die wahre Gefahr.

Dr. Kunze hört (nicht) auf 17

November 2009
(Un)verzichtbare Formalitäten
Dr. Kunze stellte zum wiederholten Mal fest, dass er immer häufiger Dinge tat, die er niemals hatte tun wollen. Zum Beispiel füllte er das rosafarbene Formular aus, von dem eines auch jetzt wieder vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dieses scheußliche Stück Papier blickte ihn geradezu herausfordernd an. Es schien darauf zu warten, dass er sich den vorgedruckten Kästchen widmete. Aber eine innere Stimme befahl ihm, diesen Nonsens zu unterlassen. Du sollst keine unsinnigen Fragen beantworten und unsinnige Anträge stellen, wisperte sie. Was seine innere Stimme im Einzelnen zu derlei Formularwesen zu sagen hatte, war kein Schriftdeutsch.
Missmutig wandte sich Hausarzt Dr. Kunze dem Bildschirm zu. Dass ein Formular nicht mehr ausschließlich aus Papier bestand, sondern überdies gestochen scharf auf dem Monitor erschien, war keineswegs eine Verbesserung. Mechanisch tippte er auf die Tab-Taste. Der Cursor sprang ein Kästchen weiter. Er tippte auf die X-Taste. Wieder die Tab-Taste. Wieder ein X. Der Cursor sprang durch das Formular, bis das Programm schließlich die Frage stellte, ob das Formular ausgedruckt werden sollte.
Dr. Kunze war nicht nur im Begriff, ein Formular auszufüllen, das er nie hatte ausfüllen wollen, sondern er hatte sich mittels eines Seminars gründlich darauf vorbereitet, es ausfüllen zu können. Aber damit war es noch nicht getan. Es ging bei diesem Seminar nicht nur darum, dass er intellektuell in der Lage war, das Formblatt auszufüllen. Vielmehr hatte er durch das Seminar die Erlaubnis erworben, diese bestimmte Art Formblätter ausfüllen zu dürfen, sprich eine Lizenz zum Antrag stellen. Und am Ende war das Ziel all der Mühen: einen Antrag stellen zu dürfen, was für ein Unsinn. Damit war Reinhard Meys gesungene Satire Wirklichkeit geworden. Er, Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze, und mit ihm tausende Berufskollegen, stellten Anträge auf ein Antragsformular und ließen sich obendrein dafür ausbilden. Warum tat man so etwas? Warum tat er so etwas?
Dr. Kunze war seit beinahe dreißig Jahren Hausarzt, hatte die Sechzig überschritten und ließ sich ohne Not auf Dinge ein, die er nie hatte tun wollte. Er ließ sich Anweisungen gefallen, obwohl er längst das Rückgrat besitzen musste, sich gegen sie zu stemmen. Er machte immer weiter mit. Es wurde langsam Zeit, dass er aufhörte.
Es gab zwei Ausreden, warum er derart gegen seine Überzeugung handelte. Die erste war: Er bekam ungefähr zehn Euro für das Ausfüllen des Formulars. Das war natürlich kein ernsthaftes Motiv. Die zweite Ausrede war der Patientenwunsch. Ohne Antrag auf ein Antragsformular war der Antrag nicht zu beantragen. Und ohne Antrag keine Leistung der Krankenkasse, einerlei, worum es ging.
Mürrisch schob er das Papier beiseite. Zum Vorschein kam ein weiteres Formular, diesmal in schwarz-weiß. Eine Bescheinigung für seine Patientin Gertraud Schmidt, dass ihr Rheuma chronisch war und dass die Krankheit sie den Rest ihres Lebens begleiten würde, ohne Aussicht auf Heilung. Die so genannte Chroniker-Bescheinigung.
Gegen ein derartiges Attest war nichts einzuwenden. Chronisch kranke Menschen konnten die Bescheinigung bei ihrer Krankenkasse einreichen und auf diese Weise Geld sparen, beispielsweise die Praxisgebühr. Aber warum musste er für eine lebenslang andauernde Krankheit jedes Jahr aufs Neue bescheinigen, dass sie ein Leben lang andauerte? Hatte er nicht in den beiden Jahren zuvor bereits bestätigt, dass diese Erkrankung nicht heilbar war?
Mit einem heftigen Stoß warf sich der Hausarzt zurück. Die Lehne seines Schreibtischstuhls ächzte. Ha! Jetzt hatte er sich selbst erwischt. Praxisgebühr! Er hatte es zwar nicht gesagt, aber gedacht, das magische Wort Praxisgebühr. Eine Gebühr, die er verpflichtet war, alle drei Monate von seinen Patienten zu kassieren. Praxisgebühr , so hatte er die zehn Euro nie nennen wollen, denn das Geld war nichts weiter als eine verkappte Erhöhung der Krankenkassenbeiträge und hatte mit ihm und seiner Arztpraxis nichts zu tun. Praxisgebühr? Das Unwort wollte er nicht einmal denken! Es war eine Krankenkassengebühr und nichts anderes!
Und wer musste diese zehn Euro im Auftrag der Krankenkassen einziehen, quittieren und verbuchen? Nein, nicht etwa die Krankenkasse selbst! Der Patient musste nicht etwa zur Filiale seiner Krankenkasse gehen, die Gebühr dort entrichten und damit sozusagen Erlaubnisscheine für einen Arztbesuch empfangen, nein, das wäre ja zuviel Arbeit für die Krankenkassenangestellten gewesen. Nein, der Patient musste bei jedem ersten Besuch im Quartal Eintritt in seine Praxis zahlen. Kassieren, zählen und verbuchen mussten seine Helferinnen und durften sich dabei die mehr oder weniger intelligenten Bemerkungen der Patienten anhören. Von Einfallsreichtum war ihre Kundschaft in dieser Hinsicht nicht gesegnet, besonders diejenigen Patienten nicht, die ganz überrascht waren, dass schon wieder ein neues Quartal begonnen hatte. Oder diejenigen, die ganz sicher wussten, dass sie im laufenden Quartal ihre Gebühr bereits entrichtet hatten. Selbst am ersten Juli morgens um acht waren sie da ganz sicher.
Die Patienten. Sie konnten eigentlich nichts dafür, taten ihrerseits aber genauso wenig wie er selbst gegen die ganze Bürokratie. Die Buchungsarbeit blieb allein an der Arztpraxis haften, alle hatten sie in der Praxis ständig mit Geld zu tun, statt mit den Sorgen und Nöten der Patienten, noch dazu mit Bargeld. In den ersten Quartalswochen verließ Hausarzt Dr. Anselm Kunze seine Praxis regelmäßig mit einem Packen Geldscheine in der Aktentasche. Was für ein Unsinn, dazu nicht ungefährlich. Es war geradeso, als lebte er nicht im 21. Jahrhundert, sondern in den fünfziger oder sechziger Jahren. In jedem anderen Lebensbereich war Bargeld auf dem Rückmarsch, Barzahlung war geradezu nostalgisch. Man stelle sich nur mal vor, der Personalchef einer Firma ginge wieder mit einer Handvoll Lohntüten durch die Flure oder ein Mieter müsste seine Miete im Umschlag zwei Häuser weiter zu seinem Vermieter tragen.
Aber in der täglichen Praxisarbeit war der Bargeldverkehr wieder ganz neu eingeführt worden. Und niemand protestierte ernsthaft. In den ersten Tagen eines Quartals war es sogar ratsam, zweimal täglich zur Bank zu laufen, denn Dr. Kunzes Mitarbeiterinnen war nicht wohl zumute mit der vollen Kasse am Empfang. Und schicken konnte er sie auch nicht – aus demselben Grund.
Widerwillig trug der Hausarzt die Diagnose chronische Polyarthritis im dritten Jahr nacheinander ein, bescheinigte wieder einmal, dass die Krankheit unheilbar ist, seit mehr als einem Jahr andauerte, und dass sie Frau Schmidts alltägliches Leben beeinträchtigte. Dann stieß er mit seinem Kugelschreiber auf das Blatt hinab, als wollte er es durchbohren und warf sein Kunze hin. Was er da hingekritzelt hatte, konnte kein Mensch lesen. Aber darauf kam es nicht an, hier zählte nur der Stempel, kombiniert mit irgendeinem Kringel.
Oben auf dem Stapel des abzuarbeitenden Schriftverkehrs lag jetzt Anselm Kunzes persönliches Lieblingsformular – eine statistische Erhebung zur Zuckerkrankheit, in diesem Falle ging es um Herrn Bäumer. Nichts als bürokratischer Aufwand zur Erlangung von Daten. Daten, deren Auswertung eine untergeordnete Rolle spielte, da war sich Anselm Kunze sicher. Wichtig war allein, dass die Daten erfasst waren, damit ein statistischer Fall geschaffen wurde, der Sondermittel aus einem Sonderbudget für die Krankenkassen einbrachte. Wie der Teufel hinter der armen Seele waren die Versicherer hinter solchen Fällen her. Medizinisch gesehen profitierten weder Arzt noch Patienten im Geringsten.
Er stutzte. Das Formular war zwar vollständig ausgefüllt, aber von der Erfassungsstelle mit einer Mängelrüge zurückgesandt worden. Das ausgefüllte Formular war maschinell nicht lesbar, hieß es, die Unterschrift des Patienten rage über das dafür vorgesehene Feld hinaus, stand in der Begründung. Dieses Formular stammte noch aus den Zeiten, bevor der Hausarzt eine Unterschriftenfeld-Schablone aus Pappe gebastelt hatte, damit solche „Grenzüberschreitungen“ durch die Patienten nicht passieren konnten. Was für ein Blödsinn, und er machte da mit.
Dr. med. Anselm Kunze, Facharzt für Allgemeinmedizin, kochte vor Wut. Er warf den gesamten Papierkram in den dafür vorgesehenen Korb zurück und rief vorne bei den Damen am Tresen an:
„Holt bitte den Aktenstapel aus meinem Zimmer, sonst platze ich. Und bringt mir einen Patienten. Ich will endlich einen Kranken behandeln. Ich bin Arzt.“

PR-Offensive für Impfung gegen Schweinegrippe

Jetzt wird um die Euros gekämpft und viele machen mit.
Dem drohende Milliarden-Verlust im Zusammenhang mit nicht verbrauchten und verfallenden Impfseren gegen Schweinegrippe wird jetzt mit einer gewaltigen PR-Maschinerie gegen gehalten. Niemand weiß mehr, was man noch glauben kann. Infos purzeln munter durcheinander und auch dieser Artikel wird kein schlüssiges Resultat bringen. Nur eines ist sicher, auf welche Weise Informationen übermittelt werden, dafür haben die Amerikaner ein wunderbares Wort, das unserem deutschen Wort Humbug deutlich überlegen ist: bullshit. Hier ein paar Schlagworte, die so zusammengestellt, zumindest zum Überlegen anregen sollten.
1. Verseuchte Urkraine
Tausende “Grippekranke” in der Ukraine und viele Tote sind zu beklagen. Tatsächlich sind die Menschen in der Ukraine arm dran, aber hier wird der Eindruck vermittelt, als sei dafür allein das H1N1-Virus zuständig. In Nebensätzen, im Kleingedruckten oder auf Folgeseiten wird klar, dass die Ukrainer keine Ahnung haben, welche Infektionen sie da behandeln. Ob normale Grippe, Schweinegrippe oder andere grippeähnliche Virus-Erkrankungen, ist in einem Land wie der Ukraine allein schon von den Forschungs- und Untersuchungsmitteln her, nicht zu beantworten. Ukrainische Ärzte sagen wortwörtlich: Wir wissen nicht wogegen wir kämpfen und was wir hier behandeln.
2. Tommy Haas hat Schweinegrippe
Das ist natürlich eine Sensation und lässt sich wunderbar ausschlachten. Dem nachdenklichen Leser solcher Schlagzeilen fällt allerdings auf, dass selbst eine BILD-Zeitung keine fett gedruckten Todeszahlen zu vermelden hat. Da muss ein alternder, ewig verletzter Tennisstar herhalten.
3. Doppeljobs beim RKI
Meldungen machen zumindest in Fachkreisen die Runde, dass gelegentlich Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts (die “neutralen” Impfpäpste in Deutschland) gleichzeitig auch Berater von Pharmaunternehmen sind. So etwas verwundert aber nicht wirklich.
4. Meldung vom 30.10.09 beispielsweise auf BILD.de
Die Arznei-Zulassungsbehörde der Schweiz hat nun entschieden, dass der Impfstoff (gemeint ist Pandremix, Anmerkung des Verfassers) in der Schweiz nicht bei schwangeren Frauen, Kindern unter 18 Jahren und Senioren über 60 Jahren angewandt werden darf.
Man lese und staune. Die Schweiz ist ja nun nicht gerade als unverantwortlich und voreilig verschrien.
5. Gesundheitsminister Röslers Impfverhalten
Der neue Gesundheitsminister besitzt noch so viel Unbedarftheit, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass die “normale” Grippe noch immer gefährlicher ist als die Schweinegrippe (Frage: Warum zählt eigentlich keiner die Todesopfer der normalen Grippe. Antwort: Das macht nichts her.) GM Rösler gibt auf Nachfrage offen Auskunft, dass er sich zunächst die “normale” Grippeimpfung verabreichen lasse. Dann wird sein Gesichtsausdruck etwas verkniffen (reine Interpretation des Autors) und er fügt an, dann käme die Impfung gegen die Schweinegrippe an die Reihe. (Fehlt nur noch ein irgendwann oder vielleicht, wieder reine Interpretation des Autors)
Kleines Fazit
Bei dieser Art Volksinformation könnte Der andere Hausarzt ja mal dahergehen und behaupten, dass die Möglichkeit besteht, dass die Impfungen gegen Schweinegrippe eventuell ganz vielleicht ein zweites Contergan auslösen. Oder in sieben Jahren alle Geimpften Lymphdrüsenkrebs bekommen könnten. Oder, dass die Zahlen tödlicher Folgen einer Impfmittelallergie in die Tausende gehen werden, die Veröffentlichung aber unterdrückt oder verschleiert wird. Alles bullshit (s.o.), so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie alle unbelegten Meldungen.
Zum Schluss ein paar (unvollständige) Ratschläge
1. Bleiben Sie kritisch.
2. Grippeimpfungen helfen grundsätzlich denen am wenigsten, die sie am dringendsten brauchen. Die Ansprechrate älterer Menschen in Sachen Immunisierung ist erschreckend gering und geht bis unter dreißig Prozent.
3. Ungenügend getestete Medikamente sind grundsätzlich am kritischsten für Schwangere und Kinder zu betrachten.
4. Machen Sie sich keine Sorgen über ausverkaufte Grippemittel. Es gibt nichts gegen Grippe, außer ein bisschen Aspirin für Erwachsene oder Paracetamol für Kinder. Der Rest ist Ruhe, Pflege und genügend Flüssigkeitszufuhr. Schleimlöser beispielsweise helfen nur, wenn Sie genügend trinken, und wenn Sie genügend trinken, brauchen Sie keinen Schleimlöser.

Landarzt

Fast schien es, als hätte man sich diesmal gefährlich verspekuliert. Was aus der Ferne wie ein behäbiger, beunruhigend tief im Wasser liegender Frachter wirkte, war in Wirklichkeit ein mit gewaltiger Feuerkraft ausgestattes Linienschiff. Doch gelang im Schutze der Dunkelheit ein Überraschungsangriff. Während die Wache mit anderem beschäftigt war und der Rest der Besatzung schlief, tat […]

Im November kämpft Dr. Kunze mit der Bürokratie

In der Novemberausgabe von Dr. Kunze hört (nicht) auf hat der Hausarzt wiedermal mit dem deutschen Formular(un)wesen zu kämpfen. Eine Tatsache, die jeden Mediziner tagtäglich beschäftigt und gelegentlich zur Verzweiflung treibt. Das Leben könnte so einfach sein. Aber die Formularwut der Krankenkassen, Rentenversicherer und anderer Ämter oder amtsähnlicher Institutionen ist ungebremst. Sie ist übrigens ein nicht zu unterschätzender Faktor, wenn es darum geht, dass es Privatpatienten bei den Ärzten leichter haben. Sicher geht es auch um Geld, aber nicht nur. Das alltägliche Leben eines Hausarztes von Kassenpatienten ist gespickt mit Formularen, dreißig, vierzig verschiedene und mehr, mal zum Durchschreiben, mal nicht, mal DIN A4, mal DIN A5 oder DIN A6. Beim Privatpatienten kommt man meist mit einem hin - mit dem Privatrezept. Was darüber hinaus geht, ist in der Regel mit einem formlosen Attest getan.
Lesen Sie ab dem 6. November 2009 Dr. med. Anselm Kunzes Gedanken und Gefühle dazu .

Die 16 bisher erschienen Geschichten aus der Reihe sind unter dem Thema Kolumne des Monatsnachzulesen.

Kürzeste Wartezeit beim Zahnarzt

Patienten in Deutschland warten beim Zahnarzt halb so lang wie beim Hausarzt oder Facharzt. Eine Studie, mit dem Titel „Vertragsärzte im Urteil des Patienten“, an der im gesamten Bundesgebiet 2379 Patienten teilnahmen, kam zu diesem Ergebnis. Beim Hausarzt oder Facharzt betrug die durchschnittliche Wartezeit vierzig Minuten, beim Zahnarzt hingegen durchschnittlich zwanzig Minuten. In der Patientenkommunikation […]

Das akute Koronarsyndrom Teil 1

Was sind die Herzkranzgefäße?
Bevor an dieser Stelle geklärt wird, was ein akutes Koronarsyndrom ist, sollen ein paar Grundlagen der Anatomie und der Funkton von Herzkranzgefäßen beschrieben werden. Die Herzkranzgefäße (Coronarien) heißen so, weil sie sich kranzförmig um das Herz winden. Wie immer im Gefäßsystem des Körpers gibt es  Arterien (Schlagadern) und Venen. Und wie immer finden Probleme der Durchblutung in den Schlagadern statt. Die Venen sind hier wie anderswo für den Blutrückfluss zuständig und nicht für die Blutversorgung.
Kurze Info zur Anatomie
Es gibt eine rechte und eine linke Koronararterie, die eine windet sich rechts ums Herz herum, die andere links. Beide entspringen aus der Hauptschlagader (Aorta) kurz nach deren Abgang aus der linken Herzkammer. Das Besondere an den Herzkranzgefäßen ist, dass sie so genannte Vasa privata sind, auf Deutsch: Privatgefäße. Diese Bezeichnung bedeutet, dass derlei Adern nicht eingebunden sind in die Aufgabe des Organs, sondern zuständig sind für dessen Blutgefäßversorgung, also dafür, dass das entsprechende Organ seine Arbeit verrichten kann. Dieses gilt generell für Privatgefäße, ob die der Nieren, der Leber, oder eben für die des Herzens.
Auswirkungen von Durchblutungsstörungen
Die Aufgabe des Herzens ist es, Blut durch den Lungen- und Körperkreislauf zu pumpen. Die Herzkranzgefäße als Privatadern des Herzens haben die Aufgabe, den Herzmuskel und andere Herzanteile bei ihrer Arbeit mit Blut, also mit Sauerstoff und Energie, zu versorgen. Wenn diese Aufgabe nicht exakt ausgeführt wird, leidet ein entsprechender Herzmuskelanteil mehr oder weniger stark darunter, je nach dem wie ausgeprägt die Durchblutungsstörung ist. Und je nachdem in welcher der beiden Koronararterien die Verstopfung auftritt, sind Vorder- Hinter oder Scheidewandanteile des Herzmuskels betroffen. Da auch die Herzklappen von Muskeln geöffnet und geschlossen werden, kann eine Durchblutungsstörung in diesem Bereich zu einem akuten Versagen der Klappenfunktion führen - mit entsprechenden Folgen.
Unterschied zur Carotisstenose
Wichtig zu wissen ist, dass die Herzkranzgefäße so genannte Terminalarterien sind, also Endstromgebiete versorgen. Das bedeutet, dass von nirgendwoher andere Adern in dasselbe Gebiet einströmen oder einströmen könnten. Kollateralkreisläufe wie wir es beim Thema Carotisstenose erfahren haben, gibt es also bei der Koronarstenose weitgehend nicht. Wenn ein Herzkranzgefäß zu 100% verstopft ist, folgt ein Infarkt, das entsprechende Gewebe geht unter, stirbt ab.
Reizleitung und Blutfluss
Der Herzmuskel wird durch „Ministröme“ aktiviert. Ohne diesen Stromfluss keine Muskelarbeit und ohne Muskelarbeit keine Herzarbeit. Damit der Stromfluss gleichmäßig und dem Bedarf angepasst fließt, gibt es einen Taktgeber im rechten Vorhof (Sinusknoten) und „Leitungskabel“ in alle Abschnitte des Herzens. Dieses Reizleitungssystem ist, wie alle anderen Herzabschnitte, angewiesen auf eine ordentliche Durchblutung. Eine Durchblutungsstörungen kann den Stromfluss empfindlich stören und so eine mehr oder minder gefährliche Herzrhythmusstörung hervorrufen.

Wie kommt es aber zu diesen Durchblutungsstörungen im Allgemeinen und in den Herzkranzgefäßen im Besonderen. Wie sehen sie aus?
Dazu mehr im nächsten Teil dieser Miniserie.

Vorsicht Carotis-Stenose!

Der heutige Artikel könnte ebensogut Teil 3a der Mini-Serie Wer fängt an? sein. Am Ende dieser Zeilen wird der Leser merken, dass der Aufruf zur Vorsicht im Titel ganz anders gemeint ist, als er sich auf den ersten Blick anhören mag. Gemeint ist jedenfalls nicht der ängstlich-besorgte Aufruf eines Hausarztes wegen einer generell schweren Erkrankung.
Für alle Laien: Eine Carotis-Stenose ist eine Verengung der Halsschlagader. Ähnlich wie bei einem Herzkranzgefäß wird der Grad einer Stenose in Prozent gemessen. Ist eine Stenose fünfzig prozentig, bedeutet das, es fließt nur noch halb so viel Blut wie einmal vorgesehen durch dieses Gefäß.
Carotis = vordere Halsschlagader
Es gibt zwei vordere Halsschlagadern, auf jeder Seite unseres Halses eine. Sie teilen sich auf in wiederum zwei Teile - einen äußeren und einen inneren. Der äußere Teil sorgt für die Blutversorgung der äußeren Anteile unseres Kopfes, der zweite Teil, der innere (Carotis interna), versorgt große Teile unseres Gehirnes mit Blut. Um diesen Teil geht es, wenn man sich um den Durchfluss der Carotis sorgt. Eine 100%ige Stenose wäre somit eine Katastrophe?! Weil kein Tropfen Blut auf der vollkommen verstopften Seite mehr fließt? Massiver Schlaganfall wäre die Folge. Denkt man.
Tatsächlich gibt es 100%ige Carotis-Stenosen. Man könnte ja meinen, die Betroffenen wären alle sofort tot, schließlich wäre theoretisch ein sehr großer Teil einer Hirnhälfte ohne Blutversorgung. Aber es gibt nicht nur 100%ige Stenose, sie machen nicht einmal unbedingt Symptome (überrascht?). Und wenn sie keine Symptome machen, müssen sie nicht operiert werden (noch überraschter?). Sie sollten sogar nicht operiert werden, weil Patienten mit 100%ige Stenosen der Carotis ohne Krankheitssymptome statistisch gesehen nicht von einer Operation profitieren, die OP andererseits aber immer Risiken birgt (perplex?).
Verstehen Sie jetzt, warum dieser Artikel Teil 3a von Wer fängt an? sein könnte?
Kollateralen sind des Rätsels Lösung
Da ist also unsere größte Hirnschlagader unter Umständen vollständig verstopft und nichts passiert. Wie kann das sein. Das Schlagwort lautet Kollateralen, auf Deutsch: Seitenäste, Umgehungen.
Eine ausgeprägte Verengung muss sich langsam entwickelt haben, sonst wäre sie tatsächlich tödlich. Keine Hirnhälfte kann plötzlich auf einen sehr großen Teil ihres Blutes verzichten. Wenn aber Zeit ist und auf dem Weg von 0% Stenose zu 100% Stenose, Jahre vergehen, kann der Körper ausweichen und Umgehungen nutzen, beispielsweise über die Nackenschlagadern oder die der Augen. Diese Umwege können so effektiv sein, dass die rechte innere Halsschlagader zu 100% verstopft ist, die linke zu 70% und der Betroffene weiß nichts davon und merkt nichts davon .
Worum operiert man dann Carotis-Stenosen überhaupt?
Für die Stenosen ohne Krankheitsmerkmale ist die Frage berechtigt, und hier wird ein Umdenken unter den Gefäßchirurgen einsetzen, so nicht schon geschehen.
Die Stenosen mit Symptomen (kleiner Schlaganfall, vorübergehende Sprach- oder Gangstörung, ausgeprägter Schlaganfall usw.) müssen nicht wegen der Enge an sich operiert werden, sondern weil die verengenden Kalkablagerungen, im Falle der Symptome, für Embolien in den Endstromgebieten gesorgt haben. Je nach Größe der Fetzen, die im Engpass abreißen, wird ein kleineres oder größeres Gefäß verstopft. Von der Größe des verstopften Gefäßes hängt die Ausprägung des Schlaganfalls ab. Diese reicht von einer vorübergehenden Erscheinung bis zur unwiderrufliche Halbseitenlähmung, Sprachverlust und Tod. Die Embolien sind das Problem, nicht die enge Stelle an sich!
Aktionismus ist Fehl am Platz
Es sollte also keineswegs auf Teufel komm‘ raus operiert werden, keinesfalls wenn jemand nichts von seiner Verengung spürt. Und schon gar nicht wegen Schwindel. Schwindel ist ein Symptom der hinteren Strombahn, also ein Symptom der hinteren Halsschlagadern, die im Nacken über den Hirnstamm zum Gehirn führen. Eine Carotissanierung wegen Schwindel durchzuführen, ist ein Kunstfehler.
Also, wenn Sie oder jemand in Ihrer Verwandtschaft oder Bekanntschaft eine Carotis-Stenose haben und es gibt keinerlei Probleme, außer dass Sie bei einer zufälligen Messung davon erfahren haben, dann bleiben Sie den Gefäßchirurgen fern. Sorgen Sie lieber für eine gesunde Lebensweise, einen gut eingestellten Blutdruck und Bewegung.
Einfach jeden zu operieren, der eine Verengung der Carotis aufweist, heißt technische Befunde operieren, statt Patienten.
Allein ohne Krankheitsmerkmale den Durchfluss der Carotis zu messen, ist schon überflüssig. Zufallsbefunde verwirren nur und machen Angst. Übrigens sind solche Messungen nicht nur Schuld der Ärzte, oft genug werden sie auch von den Patienten gefordert, am häufigsten wegen Schwindel.
Also, wer fängt an?

Bröselatoren und Krümelmonster


Zugang: Ein Patient aus dem Altenheim mit einer der üblichen irgendwas-Diagnosen. Hausarzt hat ihn eingewiesen und netterweise einen Medikamentenplan mitgegeben – das tun nicht alle Hausärzte. Jedenfalls erleichtert es die Aufnahmeuntersuchung ungemein, wenn man keine kriminaltechnischen Verhöre mit Angehörigen – oder, schlimmer noch, mit semidementen Patienten – durchführen muss um herauszufinden, was die kleinen weißen Tabletten sind, welche jeden Morgen vor dem Frühstück zu nehmen sind.
Ein Kompliment also erstmal an den unbekannten Hausarzt.
Aber dann muss ich doch wieder den Kopf schütteln:
Der Patient nimmt nämlich keine Tabletten, sondern weitgehend nur Brösel von Tabletten: Hier eine halbe, dort schon wieder eine halbe und einmal sogar eine Viertel Tablette.
Dabei gibt’s dieselben Medikamente auch in geringerer Dosierung: Anstatt einer Viertel Hunderter könnte er auch eine ganze Fünfundzwanziger nehmen. Damit erspart er sich einerseits eine Menge Bröselei – und gewährleistet andererseits auch, daß er wirklich das nimmt, was er nehmen soll, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Krümel wirklich immer exakt die gleiche Größe haben.
Dennoch, irgendwo muss es einen tieferen Sinn für diese Bröselei geben. Denn es ist mir schon ziemlich oft aufgefallen.
Wahrscheinlich bin ich noch viel zu klein um das zu verstehen… aber wenn ich einmal groß bin….

Wer fängt an? Teil 3

Der Patient sollte beginnen.
Worum ging es noch? Um Verzicht im Gesundheitswesen. Um Verzicht auf das Maximale? Um Selbstbeschränkung. Um die Einsicht, dass gespart werden muss, dass nicht alles sein muss, was sein kann.
Weswegen der Patient?
Patienten sind wir alle, die Politiker, die Ärzte, die Journalisten, die Krankenkassenangestellten, die Pharmabosse, Beamte, Arbeiter, Arbeitslose, Manager, Frauen, Männer und Kinder. Jeder ist mal krank und in der Position des Patienten. Dies ist also die einzige Warte, von der jeder Mal ins Gesundheitswesen blickt.
Ein Arzt ist kein Pharmamanager, ein Krankenkassenmitarbeiter möglicherweise Politiker, aber nicht gleichzeitig Apotheker oder Arzt usw. Aber jeder ist irgendwann einmal Patient oder wird es sein und bekommt in dieser Position vielleicht neue Einsichten. Ein wunderbares Beispiel dafür ist unser ehemaliger Gesundheitsminister Horst Seehofer. Er wurde nach einer schweren Krankheit von der Raupe zum Schmetterling, weil er die Medizin durch eigene Not anders betrachten lernte. Seitdem ist er weicher und verständnisvoller, was Patienten und Ärzte betrifft. Leider wurde er danach Landwirtschaftsminister und ist jetzt Ministerpräsident von Bayern.
Also, der Patient sollte beginnen. Mit ihm der Hausarzt, dazu komme ich noch.
Der Patient ist der einzige, der alle Gruppen repräsentiert?
Nicht nur deswegen sollte er beginnen. Ein weiterer Grund ist, es geht um seine Gesundheit. Deswegen muss er umdenken. Das klingt zunächst paradox, wenn es darum geht, dass Gesundheitssystem sparsamer zu fahren. Aber ich behaupte, einem Gutteil Patienten würde es besser gehen, wenn sie zurückhaltender wären, was die Nutzung des Gesundheitssystems betrifft. Hier ist nicht der Einzelne in der Notsituation gemeint, sondern das große Ganze.
Manchmal mehr Schaden als Nutzen
Meiner Meinung nach bekommt der Patient heutzutage oft zu viel Medizin und verlangt sie andererseits auch. Diese Wahrheit auszusprechen ist eine Gratwanderung, gerade und besonders für einen Arzt. Aber im Geiste setze ich mich häufig auf den Stuhl des Patienten und möchte ihn bewahren, möchte verhüten, was Untersuchungen und Therapien betrifft, weil ich sehe, dass ihm die Medizin nicht nur nichts nützt, sondern immer wieder auch schadet. Ich will das erklären:
Gibt es ein Zuviel? 
Ein Medikament zur Senkung des Cholesterinwertes, ein künstliches Kniegelenk, ein Computertomogramm („Röntgen in der Röhre“), ein Herzkatheter, eine Halslutschtablette, ein Antibiotikum, eine Impfung, eine Schulteroperation, eine Krankenhauseinweisung, ein Muschelextrakt, ein Facharzttermin, all diese Dinge sind nicht nur Segen, sie können auch Fluch sein.
Dieses sind wenige Beispiele von einer Unzahl möglichen, betrachten wir einige näher:
Wer legt die Grenzen eines normalen Cholesterinwertes fest? Wer behauptet 200mg/dl oder 250 oder 180 ist die richtige Obergrenze. Wie stark sind die Nebenwirkungen von medikamentösen Fettsenkern, den sogenannten Statinen? Sind die Nebenwirkungen stärker als der Nachteil des „überhöhten“ Cholesterinwertes? Und vor allem: Wie sehr lenkt die Einnahme von Tabletten in diesem Fall von den eigentlichen Problemen ab, vom Übergewicht, von falscher Ernährung, von Bewegungsarmut?
Ist das Gehen nach Einsetzen eines künstlichen Kniegelenkes besser oder schlechter als vorher? Wie stark ist der Schmerz jetzt, wie stark wird er sein. In welcher Verfassung bin ich, bin ich jung oder alt oder gar ein Greis. Überstehe ich den Eingriff in meinem Alter? Oder geht es möglicherweise um eine Übersanierung, nach dem Motto Machen, was machbar ist? Wie wirkt mein Übergewicht auf das alte und das neue, künstliche Knie? Ist es wirklich richtig, ein künstliches Gelenk einpflanzen zu lassen, ohne ein Pfund Gewicht zu reduzieren. Im Umkehrschluss: Würde eine Gewichtsreduktion meine Kniebeschwerden soweit bessern, dass eine OP vielleicht nicht nötig wäre?
Welche Abweichungen vom Normalen werden mittels Computertomogramm entdeckt, das der Patient verlangt, wegen des „guten“ Rates eines Nachbarn, auf Grund von Infos aus dem Internet oder auf N3 in Visite, vielleicht sogar gegen den Willen des Hausarztes. Weiß er danach plötzlich von Zysten in Leber oder Nieren, von bislang symptomlosen Bandscheibenvorfällen, von harmlosen Anomalitäten im Schädel oder sonst wo. Was mache ich mit der neuen Information? Und vor allem: Was machen die Ärzte damit? Werden dann möglicherweise Veränderungen meines Körpers saniert, die nicht sanierungsbedürftig waren. Ganz abgesehen von der Strahlenbelastung, die so ein CT darstellt.
Das Zuviel ist Alltag in der Medizin
Sie glauben diese Dinge sind selten? Sie geschehen jeden Tag. Dafür gibt es unzählige Beispiele. Nehmen wir nur den Blutcheck. Zwanzig, dreißig, vierzig Werte erhalten wir heutzutage mit einem Routineprofil, die meisten ungefragt, weil ein kostgünstiges Laborprogramm eine bestimmte Ergebnisserie einfach ungefragt ausspuckt. Die entsprechenden Normalwerte nennt uns ein Computer gleich dazu. Kaum jemand verlässt auf diese Weise eine Arztpraxis mit komplett normalen Blutwerten, jedenfalls, wenn man den festgelegten Grenzen zahlengenau folgen würde. Ihr Arzt tut das gottlob nicht und erwähnt unbedeutende Ausreißer nicht. Was aber, wenn Sie einen Ausdruck mit nach Hause nehmen und die vielen Minus und Plus sehen? Reagieren Sie mit Angst oder mit Vertrauen?
Was ist mit der atemberaubend gestiegenen Anzahl von Herzkatheteruntersuchungen? Was bedeutet eine dreißigprozentige Enge im Herzkranzgefäß? Lebe ich auf einem Pulverfass, bilde ich es mir ein oder wollen Ärzte es mir einreden? Ein scherzhafter Rat unter Ärzten lautet: “Schlafe nie auf einer Parkbank ein, du könntest in einem Herzkatheterlabor erwachen.”
Was ist mit der Halslutschtablette, die nicht nur nutzlos mein Portemonnaie schröpft, sondern vielleicht auch meine normale Bakterienflora im Rachenraum zerstört? Was ist mit Arnikakügelchen gegen Fieber? Suggerieren sie nicht dem kranken Kind, nimm‘ ein Medikament und alles wird gut? Aber kämpft das Fieber nicht vielleicht wirkungsvoller gegen einen Infekt als das Medikament. Und ist die Medikamenteneinnahme dann nicht vielleicht die Basis für den späteren Umgang mit Medikamenten? Ist ein Antibiotikum ein Segen, eine Impfung, ein Arzt für die Knochen, einer für die Innereien, einer für die Haut, die Nieren, zu jeder Zeit, in jedem Quartal.
Wer sich heutzutage in die Medizin begibt, begibt sich in aller Regel in gute Behandlung, aber er kann sich auch in Gefahr begeben.
Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, heißt es. Oder um es etwas milder zu formulieren, er wird möglicherweise kränker statt gesünder
Dass wir oft tatsächlich ein Zuviel an Medizin beanspruchen, erläutern zwei Erkenntnisse eindrucksvoll.
Erstens, eine Befragung unter Ärzten, deren Ergebnis darin bestand, dass die Befragten nicht den Bruchteil der Therapien an sich durchführen lassen würden, die sie ihren Patienten raten, oder die von ihren Patienten verlangt werden. Ich selbst sitze jeden Tag in dieser Zwickmühle, Forderungen meiner Patienten zu erfüllen, die ich für mich persönlich im gleichen Fall nicht an die Medizin hätte. Oder um einen Kollegen zu zitieren, der am Abend eines langen, arbeitsreichen Tages zu mir sagte: „Keiner meiner Patienten, die ich heute krank geschrieben habe, war so krank wie ich.“
Das zweite Beispiel zeigt deutlich, worum es in der Medizin nur allzu oft geht: Um Umsatz. Privatpatienten nämlich, so ist allgemein bekannt, werden durchschnittlich deutlich aufwändiger und gründlicher untersucht und therapiert als gesetzlich versicherte Patienten. Hierbei geht es gewiss nicht nur um medizinische Sorgfalt. Inzwischen gibt es Patientencharaktere, denen ich von einer privaten Versicherung abrate, weil ihr seelischer und körperlicher Zustand der geballten Ärzteschaft nicht standhalten würde.
Also, wer fängt an?
Ich wünschte – der Patient, zusammen mit seinem Hausarzt.
Wie das aussehen könnte, folgt in einem gar nicht vorgesehenen vierten Teil. Das Thema ist halt fruchtbar.

Dr. Kunze hört (nicht) auf 16

Zuletzt waren Leser und Schreiber während Hausarzt Dr. Kunzes Einkaufstour unterbrochen worden. Ihnen erging es damit ähnlich wie dem Doktor selbst.
Hier nun der Rest der Geschichte, die ihren Ursprung in Dr. Kunze ganz privat nahm und mit Dr. Kunze kauft ein fortgesetzt wurde. Der Leser muss nicht jede dieser drei Episoden kennen, jede einzelne steht für sich. Aber es gibt da schon ein paar lesenswerte Einzelheiten … Nun denn, zum Einstieg seien ein paar Zeilen der Vorgeschichte wiederholt.
Oktober 2009
Dr. Kunze kauft weiter ein und macht sich Gedanken
Anselm Kunze hatte den Wurst- und Schinkenladen fast erreicht, als ein Elternpaar mit einem kleinen Jungen an ihm vorbeistürmte.  Das Kind schrie auf dem Arm des Vaters. Noch bevor der Hausarzt reagieren konnte, rief eine ältere Frau den dreien hinterher:
„Jens, Ute, bleibt stehen. Hier ist Dr. Kunze, der kann vielleicht helfen.“
Die ältere Frau, seine Patientin Borger, erklärte, der Junge sei ihr Enkel. Ihre Kinder seien mit ihm zu Besuch und… Bevor sie weiterreden konnte, standen die Eltern mit dem weinenden kleinen Tommi vor Dr. Kunze und berichteten, was geschehen war. Bis vor wenigen Minuten hatten sie den Kleinen an den Händen gefasst und in die Luft geschwungen. Plötzlich habe er furchtbar geschrien und geweint. Seitdem war er nicht mehr zu beruhigen, hielt sich den rechten Arm und schrie nur immer lauter, wenn jemand seine Hand oder seinen Arm berührte.
Nach dieser Vorgeschichte bedurfte es beinahe keiner Untersuchung mehr. Der Fall war für jeden halbwegs erfahrenen Arzt eindeutig. Ein klassischer Chassignac. Pronation doloreuse. Alles klar. Eine Verrenkung des Speichenköpfchens. 
Dr. med. Anselm Kunze wies den Vater an, sich mit seinem Sohn auf die nahestehende Bank zu setzen. Dann tat er das Wichtigste, was in so einem Fall seiner Meinung nach zu tun war. Er sprach beruhigend mit der Mutter und  empfahl dem Vater, seinen Blick Richtung Auslagen im Schaufenster zu wenden. Mütter sorgten sich und hatten Angst um ihren Nachwuchs, Vätern wurde gern übel und schwummerig zumute. Nach derlei Vorbereitungen wandte er sich an das weinende Kind.
„Ich will deinen Arm nur mal anschauen. Und jetzt helfe ich dir, ihn zu tragen. Der ist ja bestimmt ganz schwer, dein Arm.“
Das Kind weinte lauter. Die Finger der linken Hand hingen schlaff herunter, wie gelähmt. Ganz vorsichtig nahm der Arzt die kleine Hand. Das Kind schrie. Der Vater blinzelte in Richtung seines Sohnes, schaute aber gleich wieder weg. Die Mutter hatte den fremden Arzt genau im Auge. Wehe, der tat ihrem Liebling etwas an.
Ruhig fuhr Dr. Kunze fort, nahm die kleine Hand in seine, hielt mit der anderen den Oberarm des Jungen und legte seinen Daumen sanft unterhalb des Ellenbogengelenkes ab. Noch bevor Mutter, Vater oder Sohn begriffen, was geschah, drehte und drückte Dr. Kunze den kleinen Unterarm plötzlich. Unter seinem rechten Daumen verspürte der Arzt ein leichtes Rucken. Das Knochenköpfchen der Speiche war wieder eingerenkt. Das Kind schrie auf und drückte sich, vom Arzt freigelassen, an die Brust der Mutter. Dr. Kunze erklärte kurz, was geschehen war und schloss mit den Worten:
„Sie bleiben am besten hier sitzen und beruhigen Ihr Kind. Und ich gehe dort kurz einkaufen.“ Hausarzt Dr. Kunze wies auf die Metzgerei und fügte im Stillen hinzu, so man mich lässt. 
„Sie warten bitte mit dem Kleinen. Ich komme dann noch einmal zu Ihnen und kontrolliere, ob Ihr Junge noch weiter untersucht werden muss oder nicht.“
Die Eltern nickten stumm und verstört, ihr Junge schluchzte tief und nahm ein paar Atemzüge, so als ginge das Weinen dem Ende zu. Alle drei warteten auf der Bank.
In dem Spezialitätenladen ging das weiter, was Dr. Kunze für eine Einkaufstour nicht anders erwartete – Patiententreff. In dem kleinen Geschäft drängten sich sechs Kunden, der Arzt war der siebte. Die Hälfte waren seine Patienten, die andere Hälfte nicht – seines Wissens. Zu der Hälfte der Nicht-Patienten gehörte auch Frau Jander, bis vor ein, zwei Jahren eine treue Patientin. Jetzt stand sie hier und Dr. Kunze fiel auf, dass Frau Jander den Hausarzt gewechselt haben musste. Sie litt an Alterszucker, deshalb war eine derart lange Zeit ohne hausärztliche Betreuung unwahrscheinlich. Das gab ihm einen kleinen Stich, den er nicht gern zugab und den er in der Praxis, in Anwesenheit seiner Helferinnen, gern mit einer lässigen oder derben Bemerkung überspielte. Reisende soll man nicht aufhalten, hieß es dann. Oder: Soll sich der Kollege mit ihr herumschlagen. Oder: Wir können froh sein, dass wir die los sind. Nur selten, wenn es ihn wirklich überraschend traf und ihm wehtat, ließ er etwas von dem spüren, was er eigentlich immer in solchen Fällen dachte: Da müssen wir uns Gedanken machen.
Da er zu warten hatte und einige der Frauen noch untereinander tuschelten, machte er sich Gedanken. Was hatte Frau Jander wohl vertrieben? War er selbst es gewesen? Manchmal konnte er verletzend offen sein. Waren es seine Helferinnen gewesen? Die gingen gelegentlich wenig behutsam mit seinen Patienten um. Oder war ein jüngerer Kollege einfach besser als er und hatte auf Anhieb etwas diagnostiziert, was er selbst wochenlang übersehen hatte? Leider erfuhr man als Hausarzt so etwas zu selten. Wenn man überhaupt etwas in dieser Richtung mitbekam, stand man meist vor vollendeten Tatsachen, so wie er jetzt mit Frau Jander. Ein einziges Mal hatte er es erlebt, dass ein Patient sich einen Termin bei ihm hatte geben lassen, um über das Ende ihres Arzt-Patienten-Verhältnisses zu sprechen.
Damals war Anselm Kunze tief beeindruckt gewesen, überdies musste er dem Patienten Recht geben. Er war in seinem Fall fahrig gewesen, hatte dem Patienten die Beschwerden nicht recht geglaubt, war irgendwann vom Wunsch des Patienten nach Krankschreibung ausgegangen. Die Beschwerden wechselten ständig, begannen im Rücken, waren dann doch wieder Kopfschmerzen, später Schmerzen im rechten Bein, beim nächsten Termin war es das linke. Ein Wechsel, der einen Bandscheibenschaden quasi ausschloss und der danach roch, dass der Patient sich nicht gemerkt hatte, welches Bein wehtat. Ein Röntgentermin hatte nichts erbracht und bestätigte den Hausarzt in seiner inzwischen gefestigten Voreingenommenheit, dass der Mann simulierte. Bevor weitere Untersuchungen vom Hausarzt in Gang gesetzt werden konnten – an die er zugegebenermaßen nur zögerlich dachte – war der Patient verschwunden. Aus der Sicht von Hausarzt Dr. med. Anselm Kunze war der Mann wieder gesund und arbeitsfähig.
Bis Herr Kerber vor ihm saß und von dem operierten Rückenmarkstumor berichtete. Seitdem gehe es ihm wieder gut. Das hatte gesessen und das tat weh, in diesem Falle auch dem Hausarzt selbst. Dr. Kunze hatte sich erhoben, dem Mann die Hand ausgestreckt und sich entschuldigt. Er suchte keine Ausflüchte, redete nicht drum herum, behauptete nicht, letztlich doch alles richtig gemacht zu haben. Er hatte sich einfach entschuldigt. Das war das mindeste. Gott sei Dank hatte Herr Kerber die angebotene Hand angenommen.
Was sich Anselm Kunze damals vorzuwerfen hatte, war nicht, dass er einen Rückenmarkstumor übersehen hatte. So eine Geschwulst war extrem selten und nur schwer zu diagnostizieren. Sein Fehler war, dass er dem Patienten nicht geglaubt hatte, und er hätte ihm glauben müssen. Sein Trumpf als Hausarzt war ja gerade, dass er seine Pappenheimer kannte. Herr Kerber war in all den Jahren zuvor nie jemand gewesen, der auf einen gelben Schein drängte, und schon gar nicht war er der Typ Patient, der ihm unnötig die Tür einrannte. Dr. Kunzes Fehler war gewesen, seine Trumpfkarte nicht auszuspielen.
Seit dieser Geschichte, die sich zum Glück früh genug in seinem Hausarztleben ereignet hatte, spielte er seine Trumpfkarten eher einmal zu oft, als dass er sie übersah. Einmal hatte er sich einen Rüffel von einem Facharztkollegen eingehandelt, weil er einen Patienten nur deswegen zur Herzkatheter–Untersuchung schickte, weil er ihm „komisch vorkam“, und nicht weil EKG oder Blutwerte krankhaft verändert waren. Die Fachärzte in der Umgebung hielten sich inzwischen längst mit spöttischen Bemerkungen zurück.
Aber wie war er überhaupt darauf gekommen? Ach, ja. Als Hausarzt erfuhr man viel Lob und Lobhudelei, gelegentlich auch plötzlichen Ärger. Ruhige, sachliche Kritik war etwas, was im Arzt-Patienten-Verhältnis meist fehlte. Aber waren Ärzte fähig, sie zu ertragen?
Bevor sich Dr. Kunze diese Frage beantworten konnte, hatte Frau Schrader ein Problem mit ihrem Nacken und Frau Müller wollte wissen, ob ihre Werte von der letzten Blutuntersuchung in Ordnung waren. Außerdem kündigte Frau Borchert ihren Praxisbesuch für die nächste Woche an.
„Und? Wie geht’s der werten Frau Gemahlin?“
Diese Frage erinnerte den Hausarzt daran, dass er sich sputen musste. Zwar war im Laden fast noch alles versammelt wie bei seinem Eintritt, aber er war an der Reihe. Er trug seine Wünsche vor, holte seine Geldbörse aus dem Stoffbeutel, in dem der Käse aus dem Käseladen lag, nahm Wurst und Schinken entgegen, legte alles auf eine Ablage hinter einer Gondel mit Konserven, bezahlte, packte seinen Einkauf so in die Tasche, dass nichts gedrückt wurde, was Druck nicht vertrug. Männer waren da etwas umständlich. Dr. Kunze grüßte zum Abschied – und vergaß seine Geldbörse zwischen der Dosenwurst nach Hausmacherart.
Draußen warteten die Eltern. Tommi war schon wieder fröhlich und ungeduldig. Er wollte spielen, aber die Eltern verboten es ihm, solange der Arzt nicht sein Einverständnis gegeben hatte. Nach ein paar Worten zog die junge Familie unbeschwert und dankbar davon.
Später, im Supermarkt, schob Dr. Kunze seinen Einkaufswagen hastig und zielstrebig durch die Gänge. Hier und da grüßte er flüchtig, schnell nahm er den Kopf wieder nach vorn. Das war seine Taktik, wenn er mitteilen wollte: Leute, sonst gern, aber jetzt habe ich es eilig.
An der Kasse wurde er ausgebremst, als es ans Bezahlen ging. Hektisch suchte er nach seinem Geld, aber es war nicht zu finden. Verlegen mutmaßte er, dass er sein Portemonnaie wohl beim Metzger hatte liegen lassen und wollte die Waren wieder zurück an ihren Platz stellen.
„Aber Herr Doktor. Packen Sie Ihre Sachen nur ein. Ich deponiere den Bon hier neben meiner Kasse. Sie fahren in aller Ruhe zum Metzger oder nach Hause, holen Geld und kommen hier wieder her und bezahlen. Wär‘ ja grad so, als würden Sie mich nach Hause schicken, wenn ich mit blutender Nase in Ihre Praxis käme, nur weil ich meine Versichertenkarte nicht dabei habe. Nein, nein, nehmen Sie nur.“
Anselm Kunze nahm das Angebot dankbar an und versprach noch innerhalb der nächsten Stunde wieder zu erscheinen.
Draußen überquerte er den Parkplatz und aus dem Fernsehgeschäft nebenan stürmte der Inhaber auf ihn zu. In der hoch erhobenen Hand hielt er einen Gegenstand.
„Herr Doktor, Ihre CD ist endlich eingetroffen. Hier, nehmen Sie sie gleich mit.“
„Ich habe aber kein Geld dabei“, antwortete der Arzt verlegen. Hoffentlich lag das Portemonnaie noch beim Metzger, sonst hätte seine geliebte Ehefrau für die nächsten Tage reichlich Gesprächsstoff in Sachen Männer und ihre praktische Bedeutung im Alltag.
„Ach, das zahlen Sie ein andermal. Sie haben ja auch lange genug auf die CD gewartet“, sprach’s, lachte und verschwand im Laden.
Als Dr. Kunze seinen Wagen starten wollte, lief Frau Jander aufgeregt auf sein Auto zu. Auch sie winkte mit einem Gegenstand in der hoch erhobenen Hand. Seine Geldbörse. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Hausarztleben war doch wirklich etwas Besonderes.
„Sind Sie jetzt den ganzen Weg hierher gelaufen, um mir mein Geld nachzutragen?“
„Ich musste sowieso hierher und als wir im Laden Ihr Portemonnaie entdeckten, habe ich mich beeilt. Und übrigens damals, Dr. Kunze, das war nicht wegen Ihnen. Das war wegen Ihres Kollegen im Notdienst, der hatte schlecht von Ihnen geredet. Aber ich fühle mich dort nicht wohl. Ich komme wieder zu Ihnen zurück.“
Ihm helfen wollte Frau Jander und loszuwerden hatte sie auch noch etwas. Das nenne ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dachte Anselm Kunze. Er war dankbar. Dankbar auch, dass auf diese Weise seine Frau nichts von seinem Missgeschick erfahren würde. Dann fiel ihm etwas auf.
„Ach, Frau Jander, woher wussten Sie eigentlich, dass ich noch zum Supermarkt wollte?“
„Na, von Ihrer Frau. Ich habe doch jetzt ein Handy, da habe ich schnell bei Ihnen angerufen. Ich hatte doch noch Ihre Privatnummer – für den Notfall. Der war ja jetzt auch eingetreten.“
Sie zwinkerte ihrem ehemaligen und künftigen Hausarzt zu.

Wer fängt an? Teil 2

Gedanken eines Hausarztes zum deutschen Gesundheitswesen in drei Teilen

Eines gleich vorweg: Eine wirkliche Wende im Gesundheitswesen ist nicht zu erwarten. Den gern am Stammtisch und anderswo erwarteten Knall wird es nicht geben, keine einschneidende Reform, keinen Zusammenbruch, nach dem Motto: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Diese düstere Vision, seit Jahren herbeigeredet wie die Apokalypse einer tödlichen Grippewelle, wird nicht stattfinden. Jedenfalls wird es diese Katastrophe nicht innerhalb eines denkbaren Zeitraumes geben, sprich in unserem Leben oder dem unserer Kinder und Enkel. Es wird weiter gebastelt am System, Stückwerk betrieben. Am öffentlichen Gesundheitswesen wird weiter herumgewurstelt werden, wie am Steuersystem, am Rentensystem, am System der Demokratie selbst. Es wird weiter hier und da gekürzt werden, gefördert und umstrukturiert, entlastet, belastet und gestritten wie bisher – bis in einen an die Ewigkeit erinnernden Zeitraum. Reformen werden keine Reformen sein, sondern Ausbesserungsarbeiten, mehr oder weniger gut ausgeführt. Niemand wird den Mut und den Sachverstand einer wirklichen Bereinigung, einer Umstrukturierung besitzen. Das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Dies ist die einzige Prognose im Gesundheitswesen, die nicht gewagt ist.
Warum ist das so?
Die herrschende Klasse im Bereich des Gesundheitswesens und anderswo ist nicht die Regierung, oder der Bundestag, oder gar das deutsche Volk, die herrschende Klasse besteht aus den verschiedenen Interessengruppen, die von der Gesundheitswirtschaft leben, neudeutsch, sie besteht aus Lobbys und ihren Lobbyisten. Es geht nicht um eine sozial gerechte und sinnvolle Verteilung von Gütern aus der Gesundheitswirtschaft und um die Medizin an sich, sondern es geht darum, Pfründe zu retten und zu mehren. Dies betrifft nicht nur die Wirtschaft selbst (Medikamentenhersteller, Versicherer usw.), sondern auch die Verwalter (Behörde, Krankenkassen, ärztliche Ständevertretungen usw.) und alle anderen organisierten Gruppen, die in dem System arbeiten.
Niemand wird sich selbst wegkürzen
Eine Entschlackung des riesigen, undurchschaubar gewordenen Gesundheitsapparates würde Geld sparen, was aber auf der anderen Seite nicht verdient werden würde. Überdies würde eine Entschlackung tausende Besetzungen von Bürostühlen in Frage stellen. Die Behörde müsste sich in Teilen also selbst auf die Straße setzen. Wenn Sie als Versicherter einen Antrag stellen müssen, um eine bestimmte Leistung zu erlangen, schafft dieser Vorgang Arbeit. Müssen Sie einen Antrag auf einen Antrag stellen (Realität), schafft der Vorgang Mehrarbeit. Lässt man diesen Verwaltungsvorgang wegfallen, fällt auch Arbeit weg, ein entsprechender Arbeitsplatz ist auf diese Weise gefährdet.
Der Wandel wird von den Bestimmenden nicht gewollt
Aus der Sicht der Wirtschaft und der Verwaltung besteht also keine Notwendigkeit zum großen Wandel.
Der berühmte und häufig geforderte Knall ist also nicht zu erwarten, jedenfalls nicht vom Kopf her, von den Machthabern. Schauen wir zum Fuß des Systems, dem Sockel der Demokratie. Das Volk hätte zwar die Mittel, nutzt sie aber nicht. Das gewichtigste Mittel in einer Demokratie ist die Wahl, in diesem Fall die Abwahl der Pfründebewahrer. Da aber die Hauptparteien ähnliche Taktiken und Konzepte bieten, die nur in Nuancen variieren, müsste schon eine spezielle, basisdemokratische Gesundheitspartei her, um der Probleme Herr zu werden. Dazu ist offenbar der Leidensdruck nicht groß genug. Das mag daran liegen, dass wir noch immer auf hohem Niveau jammern. Und bevor die Benachteiligten des Systems auf die Straße gehen, muss in Deutschland mehr passieren als überteuerter Zahnersatz, gewinnorientierte Krankenhausbehandlung, undurchschaubare aut-idem-Regelungen, verweigerte Taxischeine und der gleichen mehr.
Untergang des gesamten politischen Systems nicht wünschenswert
Der berühmte Knall im Gesundheitswesen, der diese ins Ewige abgleitende Taktik der Ausbesserungsarbeiten verhindern würde, kann nach heutigen Praktiken der Wirtschaft, Verwaltung und Politik nicht aus dem Gesundheitswesen selbst kommen. Da er auch nicht aus dem Volk kommt, müsste die Generalsanierung des System aus einem übergeordneten Zusammenbruch resultieren, beispielsweise in Form einer massiven Geldentwertung mit Bankrott der Gesamtwirtschaft, oder in Form eines Zerfalls aller Systeme durch und nach einem Krieg. Beides möge Gott verhüten. Dem wäre das Weiterwursteln deutlich vorzuziehen.
Es gibt kein Wolkenkuckucksheim
Es gäbe nur eine einzige Chance, aus diesem ewigen Kreislauf des Herumdokterns auszuscheren. Die Gesamtheit aller Teilnehmer am Gesundheitswesen müsste sich an einen Tisch setzen, jeder müsste einsehen und verzichten. Aber daran zu glauben, wäre der Glaube an ein Wolkenkuckucksheim, an ein Shangri-La mitten in der modernen Welt der Gesundheit.
Für die Politik würde das bedeuten, mit Mut eine wirkliche Reform anzupacken, gegen alle Lobbyisten und mit dem Risiko eines schlechten Wahlausganges am Ende der Legislaturperiode. Glauben Sie daran?
Die Pharmaindustrie müsste auf utopische Gewinne verzichten, die Krankenkassen auf überhöhte Managementbezüge, auf Prunkbauten mit Luxusausstattung; die Ärzte auf teils überhöhte Honorare und unrechtmäßige Praktiken, die Medien auf Sensationslust und Angstmache.
Glauben Sie daran?
Bleibt der Patient!
Was ist mit dem Patienten?
Soll er verzichten? Oder muss der moderne Patient alles haben, was ihm zusteht und gar Dinge darüber hinaus? Falls der Leser glaubt, überzogene Anspruchshaltung gibt es heutzutage nicht mehr, so lebt er bereits im Wolkenkuckucksheim.
Kuren, die einfach mal dran sind, vorzeitige Berentungen, weil man schon dreißig Jahre gearbeitet hat und der Nachbar noch gar nicht, Arztbesuche wegen seit zwei Stunden andauernden Schnupfens, ein Rezeptwunsch für medizinische Bäder, nicht wegen entsprechender Beschwerden, sondern weil die letzten schon zwei Jahre zurückliegen, all das gibt es und noch viel mehr.
Keine der beteiligten Interessengruppen im Gesundheitswesen ist frei von Schuld.
Jeder der Beteiligten würde dieser These zustimmen, aber jeder denkt, die anderen tragen mehr Schuld, sollen die doch anfangen. Und wie viel Schuld trägt der Schreiber dieses Artikels?
Wer fängt also an?
Der Patient bleibt die entscheidende Person in der Arena. Ohne ihn gäbe es das ganze Gesundheitssystem nicht (das wird gern vergessen). Ich glaube, er sollte beginnen. Ich sage Ihnen auch warum. Im nächsten Teil!

Dr. med. Kunze kauft weiter ein

Am 8. Oktober 2009 erscheint eine neue Kolumne aus der Reihe “Dr. Kunze hört (nicht) auf”.
In dieser Episode bringt der Hausarzt seine kleine Einkauftour zu Ende, die er in der letzten Geschichte begonnen hat. Hausarzt wie Leser waren vor dem Gang zum Metzger unterbrochen worden. Wie es im Alltagsleben eines Hausarztes so passiert, wurde er auf dem Weg in das Geschäft durch einen Notfall aufgehalten. Wie der unverhoffte medizinische Einsatz und der Rest des hausärztlichen Einkaufs verlaufen ist, erfährt der Leser in “Dr. Kunze kauft weiter ein und macht sich Gedanken”.
Die 15 bisher erschienen Geschichten aus der Reihe sind unter dem Thema Kolumne des Monats nachzulesen.