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IV-Revision 6b: Sparübung bei schwer Behinderten [akt. 10] – Revision gescheitert
Worum geht es beim zweiten Teil 6 der IVG-Revision («6b»)? Wer ist von den Sparmassnahmen betroffen? Warum sind die Behindertenverbände dagegen? Wird es ein Referendum geben?
Eigene Bearbeitung, Quelle Public Domain, via Wikimedia
Die Invalidenversicherung (IV) hat in früheren Jahren mehr ausbezahlt als sie eingenommen hat. Leute aus der Arbeitslosenversicherung wurden in die IV abgedrängt. Ein Schuldenberg hat sich angehäuft. Die IV muss deshalb saniert werden. Die Einnahmen müssen grösser sein als die Ausgaben und die Schulden müssen abgetragen werden.
Mit der 5. und die 6. IV Gesetzesrevision soll die IV saniert werden. Die 5. und die 6a. sind bereits vom Parlament beschlossen und in Kraft. Der zweite Teil der 6. IV-Revision (6b) wird derzeit im Parlament beraten.
Der Nationalrat wird sich am 12. und am 13. Dezember in der Wintersession mit dem Dossier zur Revision 6b der IV beschäftigen. Die Sozialkommission des Nationalrates schlägt den Parlamentariern umfangreiche und zeitlich unbegrenzte Sparmassnahmen in der Höhe von 360 Millionen Franken pro Jahr vor. Schwerbehinderte Menschen werden davon besonders schwer getroffen, ebenso behinderte Eltern und ihre Kinder.
Sollte das Sparmassnahmenpaket wie von der Sozialkommission des Nationalrats vorgeschlagen, angenommen werden, wird sich die Situation schwerbehinderter Menschen mit einem IV-Grad zwischen 60 und 80% massiv verschlechtern. Mit einer 60%-Invalidität wird die Rente anstelle von 75% nur noch 60% betragen. Es wird erwartet, dass sich Personen mit schwerer Behinderung eine Teilzeitarbeit suchen.
Der Verein «Nein zum Abbau der IV» wurde gegründet, um nötigenfalls das Referendum zu ergreifen. Der Verein ist im wesentlichen ein Zusammenschluss der Schweizer Betroffenenorganisationen, wie z.B. der MS-Gesellschaft.
E-Mail- und Briefaktion
Um die Volksvertreter vor der Abstimmung zu sensibilisieren, können und sollen Betroffene, den folgenden Text an die Nationalrätinnen und Nationalräte in Ihrem Kanton per E-Mail oder Brief zu senden:
Sehr geehrte Frau Nationalrätin / Sehr geehrter Herr Nationalrat
Sie entscheiden am 12. und 13. Dezember 2012 über meine Zukunft. Ihr Rat berät über weitere und unbefristete Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung («6b»). Diese Sparmassnahmen treffen mich persönlich und generell Menschen mit schwerer Behinderung sowie Kinder von Eltern mit Behinderung. Ich bitte Sie deshalb, auf diesen Leistungsabbau zu verzichten.
Die «6b» ist nicht nötig. Aktuelle Zahlen zur IV sprechen eine deutliche Sprache: Die IV erzielt 2012 einen Gewinn von rund 430 Mio. Franken. Bei weitem mehr, als prognostiziert. Dies ist nicht nur auf Grund der Mehrwertsteuer-Erhöhung möglich, die auch ich mittrage. Dies ist insbesondere wegen des bisherigen Leistungsabbaus einseitig auf Kosten von uns Menschen mit Behinderung möglich geworden. Die IV wird auch ohne «6b» bis 2029 saniert.
Ich bitte Sie, Menschen wie mir und der aktuellen Entwicklung bei der IV Rechnung zu tragen und sich gegen weiteren Leistungsabbau bei der IV und für ein menschenwürdiges Leben einzusetzen.
Ich danke Ihnen für Ihre Kenntnisnahme.
Mit freundlichen Grüssen
Der Text kann nach eigenen Bedürfnissen abgeändert werden. Die Erfahrung zeigt, dass kürzere Texte besser wirken. Ein Photo verstärkt den Effekt.
Die Post- und E-Mailadressen der Volksvertreter sind auf der Parlamentswebseite abrufbar, unter dem Link Biographie.
Schwerbehinderte mit noch weniger zum Leben
Die SGK-NR hält am Rentensystem des Bundesrats fest. Die Renten der Schwer- und Schwerstbehinderten sinken damit bis zu 30 Prozent. Der Sparhammer trifft insbesondere Personen, die
zwischen 60 und 80 Prozent erwerbsunfähig sind. Beispielsweise sinkt bei einer Person mit 70%
Invalidität das Ersatzeinkommen von durchschnittlich 1‘560 Franken auf 1‘136 Franken pro Monat,
das heisst um 27%. Welche Unternehmen aber stellen jemanden mit fortschreitender Multipler
Sklerose oder eine blinde Person mit einem kleinen Teilpensum an, sodass die Renteneinbusse
kompensiert wird? Was die Bundesverfassung vorsieht – eine menschenwürdige Existenz – bleibt
damit für viele Betroffene utopisch.
Liebe Mitbetroffene, eure Mitarbeit ist gefragt!
Die Seite IV-Revision 6b: Pro behindertenverträgliche Lösung enthält nur den Mailtext und kann mit Twitter genutzt werden.
Wer sich jetzt nicht einsetzt, muss später nicht jammern!
Referendum
Sollten die in der IV-Revision 6b vorgesehenen Kürzungen für Personen mit starker Behinderung und für Kinder beibehalten werden, ergreifen die im Verein «Nein zum Abbau der IV» zusammengeschlossenen Organisationen das Referendum. 50‘000 Unterschriften müssen dann innerhalb von 100 Tagen gesammelt werden.
Gesetzesprozess
Um diese IV Revision 6b besser zu verstehen habe ich mich eingelesen. Für mich ist es das erste Mal, dass ich den Ablauf der Parlaments- und Bundesarbeit genauer anschaue. Diese Prozesse sind zeitaufwändig und komplex, aber interessant. Es wurden nur schon 135 Organisationen (26 Kantone, 13 Parteien, 10 Wirtschaftsorganisationen, 10 Versichertenorganisationen, 36 Behindertenorganisationen und 40 übrige) für das Vernehmlassungsverfahren im Jahr 2010 angeschrieben.
Weiterführende Informationen
Betroffene
- Verein «Nein zum Abbau der IV»
- Berechnung der Rente nach dem Stufenlosen Rentensystem: Excel-Datei (XLS) vom Verband Procap
- Standpunkt der MS-Gesellschaft: IV-Revision 6b – Umstrittene Debatte im Nationalrat
Parlament (Legislative)
- Dossier 11.030 6. IV-Revision. Zweites Massnahmenpaket
- Curia Vista – Geschäftsdatenbank 11.030 – Geschäft des Bundesrates, 6. IV-Revision. Zweites Massnahmenpaket
- Vorschau Wintersession Nationalrat: 11.030 6. IV-Revision. Zweites Massnahmenpaket Seite 37
Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, EDI (Exekutive)
- Dossier: Die 6. IV-Revision
- Vernehmlassung aus dem Jahre 2010
Medien
- Heilung kann Ihre IV-Rente gefährden, Tagesanzeiger, 26.11.2012
- Die IV-Revision nicht zerfleddern: Invalidenversicherung, Neue Zürcher Zeitung, 8. Dez. 2012 Neu!
Deklaration
Ich habe Multiple Sklerose. Ich bin (noch) nicht behindert.
P.S.
Die Abstimmungen im Nationalrat sind mit Namen im Internet abrufbar. Ich werde eine Auswertung der Abstimmung vornehmen.
Entscheide des Nationalrates
Siehe Blogartikel IV-Revision 6b: Entscheide es Nationalrates vom 12.12.12
Kommissionsarbeit
In ihrer ersten Sitzung vom 22. Jan. 2013 beschloss die ständerätliche Gesundheitskommission, dem Nationalrat in einigen Punkten zu folgen. So soll die Vorlage aufgeteilt werden, und die Kinderrenten und die Reisekosten sollen nicht gesenkt werden. Weitere Informationen, siehe MS-Gesellschaft und Pressemitteilung der DOK vom 22. Januar 2013.
Meldung der MS-Gesellschaft und der DOK.
Entscheid des Ständerates Neu!
Der Ständerat hat entschieden: Von Behinderten mit einem Invaliditätsgrad von 79% wird ein 21% Lohnverdienst erwartet, jedenfalls gibt es nur eine 79% Invaliditätsrente. Erst ab 80% gibt es eine volle Rente. Die Kürzung der Kinderrenten und die Reisezulagen werden separat gehandelt (gesplitted). Das Stufenlosesystem ist in beiden Räten nicht umstritten. Die Vorlage geht zurück an den Nationalrat. Ständerat will Sparschraube bei der IV nicht lockern, tagesanzeiger.ch, 12. März 2013
Aufs Sparen wird verzichtet: IV-Revision, Neue Zürcher Zeitung, 12. März 2013
Die Nationalratskommission des Nationalrates folgt dem Ständerat und will volle Invalidenrenten erst ab 80% Invaliditätsgrad sprechen. NZZ, 27.04.2013
Meldung der MS-Gesellschaft: Die SGK-N schliesst sich dem Ständerat an
Der Nationalrat stimmt am 4. Juni und der Ständerat, wenn es Differenzen zwischen den Räten gibt, am 11. Juni ab. Am 21. Juni, dem letzten Sessionstag, ist die finale Entscheidung über die Revision geplant. Aktuell laufen die Vorbereitungen der Behindertenorganisation für ein Referendum. Wenn es erst ab 80% Invaliditätsgrad, anstatt wie bisher 70%, eine volle IV-Rente gibt, wird das Referendum ergriffen. Damit es zur Volksabstimmung über die IV Revision 6b kommt, müssen innert 100 Tagen 50‘000 Unterschriften gesammelt werden. Dann müssen sich alle engagieren.
Stand Mitte Sommersession: Der Ständerat beharrt auf der unhaltbaren 80%-Grenze für eine volle IV-Rente – im Gegensatz zum Nationalrat. Die Differenzen sollen in einer Einigungskonferenz beider Räte ausgeräumt werden. Bei 80%, wird das Referendum ergriffen. Quelle: MSG, MSG, NZZ
Eine unheilige Allianz aus linken und rechten Kräften hat die IV Revision 6b versenkt. Den linken wurde zu viel gespart und den rechten zu wenig. Beide Kräfte waren nicht einverstanden und haben die Revision endgültig abgelehnt. Eine zweijährige Arbeit geht ohne Ergebnis zu Ende. Der Status Quo bleibt. Das jetzige IV-Rentensystem wird nicht verändert. NZZ, Tagesanzeiger, MS-Gesellschaft
Die Behindertenorganisationen sind mit dem Scheitern der IV-Revision 6b zufrieden. MSG
Gesundheit für alle: Unterwegs mit praxisberatenden Pharma-Referenten
Die Beratung beginnt bereits während der Wartezeit
Peter K. ist ein Profi in Sachen „Praxismanagement-Beratung“ von Ärzten. Während wir im Wartezimmer sitzen („Herr Doktor hat gerade einen Notfall.“), macht er sich gleich einige Notizen zur aktuellen Situation in dieser allgemeinmedizinischen Gemeinschaftspraxis: – Gespräche am Empfang können im Wartezimmer mitgehört werden, da die Tür nicht geschlossen […]![]()
Interessenkonflikte, psychologische Mechanismen und deren Ausnutzung
Interessenkonflikte entstehen bei bezahlten (nützlichen) Tätigkeiten und durch Gefälligkeiten. Diese finanziellen Beziehungen liegen im Bereich des Erlaubten und die ausgeführten Tätigkeiten können für die Allgemeinheit von Nutzen sein (z.B. Forschungsstudien), im Gegensatz zur Korruption.
Warum können Interessenkonflikte aus angemessen bezahlten Tätigkeiten (z.B. Forschungsstudien) und aus kleinen Geschenke zu verzerrten Urteilen oder Entscheidungen führen?
Interessenkonflikte spielen sich auf der psychologischen Ebene ab. Die Betroffenen sind sich der Auswirkungen nicht bewusst. Sie sehen keine Beeinflussung ihrer Handlungsweise. Sie sehen sich als objektiv handelnde Personen.
Es gibt im Menschen tief verankerte psychologische Mechanismen und Automatismen. Sie gelten über Kulturen hinweg.
Automatische Denk- und Entscheidungsprozesse tragen wesentlich dazu bei, den Alltag zu bewältigen.
Diese verkürzten Entscheidungswege, auch Heuristiken genannt, sind häufig effizient und zielführend.
Diese Mechanismen wurden in der psychologischen Forschung untersucht. Beispiele sind der Bestätigungs-Bias, die motivierte Auswertung, das Gegenseitigkeitsprinzip (Reziproziät) und die soziale Bewährtheit.
Es können zwei Gruppen von psychologischen Mechanismen unterschieden werden: Kognitive Einflüsse und soziale Einflüsse.
Kognitive Einflüsse
Framing („Rahmung“)
Wie etwas dargestellt oder ausgedrückt wird, beeinflusst Bewertungen und Entscheidungen. Der Mensch ist keine logische Maschine. Eine 50%-ige Überlebensrate ist für das Gehirn nicht dasselbe wie eine 50%-ige Sterbensrate. Je nach Präsentation wird der Mensch handeln oder nicht. Er wird sich beispielsweise für oder gegen eine Therapie entscheiden.
Ein durch ein Hersteller vorgefertigtes Manuskript für eine Forschungspublikation kann die Fakten zu seinen Gunsten darstellen. Die Angaben sind nicht falsch. Die Leser werden jedoch aufs Glatteis geführt. Ein Forscher kann durch die Annahme der Gefälligkeit eines vorgefertigten Manuskriptentwurfes spätere Urteile verzerren.
Motivierte Auswertung (motivierte Evaluation, wish bias, self-serving bias)
Menschen kommen generell mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Resultaten, die ihnen angenehm sind.
Wenn meinem Porträt noch 10% „George Clooney“ beigemischt wird, erkenne ich mich darin schneller wieder, als wenn ich mein Original-Porträt sehen würde.
Eine uns materiell, sozial oder psychologisch vorteilhaft erscheinende Entscheidung oder Schlussfolgerung prüfen wir weniger streng, akzeptieren sie schneller, nehmen sie stärker wahr und geben ihnen mehr Gewicht.
Das Gegenteil ist der Fall bei uns unvorteilhaften Entscheidungen oder Schlussfolgerungen. Diese prüfen wir strenger, akzeptieren wir weniger leicht oder nehmen sie weniger stark wahr und geben ihnen weniger Gewicht.
Ein Forscher könnte zum Beispiel wichtige, aber (dem Sponsor oder ihm selbst) missliebige Informationen vernachlässigen oder falsch gewichten.
Diese verzerrte Informationsverarbeitung wird nicht wahrgenommen. Man spricht von einem blinden Fleck (bias blind spot).
Das Gefühl der Objektivität auf Seiten des Betroffenen (bias blind spot) ist ein wesentliches Merkmal der motivierten Evaluation.
Während motivierte Informationsverarbeitung im Alltag sinnvolle Funktionen haben kann, wie z. B. Erhalt oder Förderung des Selbstwertgefühls, stellt sie in der Wissenschaft ein Hindernis für die Generierung und Verbreitung valider Erkenntnisse dar.
Bestätigungs-Bias (confirmation bias)
Der Mensch tendiert die Daten zu seinen Gunsten zu interpretieren. Er versucht seine Erwartungen zu bestätigen. Je grösser die Erwartungen, desto resistenter werden wir gegenüber widersprechenden Erfahrungen.
Dieser Effekt wurde anhand eines schönen psychologischen Experimentes untersucht: Leute werden in verschiedene Gruppen eingeteilt und ihnen werden Zahlenreihen gezeigt. Den einen wird gesagt, es handle sich Kalorienaufnahme und Körpergewicht. Also je mehr man isst, desto schwerer wird man. Ein positiver Zusammenhang. Den anderen wird gesagt, es handle sich um Wetterdaten von unterschiedlichen Gegenden: die Regenmenge und die Anzahl Sonnentage. Ein negativer Zusammenhang. Den Probanden wurden nun verschieden präparierte Zahlenreihen gezeigt, unabhängig vom Gesagten: mit positiven Zusammenhang, mit negativen Zusammenhang und unzusammenhängend (unkorreliert). Die Leute wurden nun nach dem Zusammenhang gefragt. Die Leute tendierten einen Zusammenhang der Zahlenreihen zu erkennen, die mit der vorangegangen Schilderung zusammenpassten. Selbst dann wenn keiner Bestand. Ein tatsächlicher negativer Zusammenhang wurde komplett übersehen.
Verfügbarkeits-Heuristik
Der Mensch ist faul. Leichter verfügbare Informationen werden bevorzugt, auch wenn der Grund für die Verfügbarkeit sachlich irrelevant ist. Eine Strategie der Beeinflussung kann darin bestehen seine Informationen zu präsentieren oder gar die Person „einzudecken“. Stichwort „Werbung“.
Anker-Heuristik
Numerische Urteile und Schätzungen orientieren sich an Vergleichswerten. Diese Anfangsvergleichswerte müssen keinen Zusammenhang mit der Schätzung oder dem Urteil haben. Beispielsweise hat eine vorgängig von einem Juristen gewürfelte Zahl einen Einfluss auf das zu verhängende Strafmass. Je höher die gewürfelte Zahl, desto höher das Strafmass. Dieser Effekt ist unabhängig, ob jemand auf einem Fachgebiet Laie oder Experte ist.
Unsere Urteile orientieren sich an Referenzwerten und je nach Verfügbarkeit können dies auch völlig unsinnige Werte sein.
Ein Fehler besteht darin, an die Unbeeinflussbarkeit des eigenen Urteils zu glauben.
Unterschiedliche Anfangsinformationen („Anker“) können zu unterschiedlichen Urteilen führen.
Weitere kognitive Einflüsse sind die Repräsentativitäts-Heuristik und der Rückschau-Fehler.
Soziale Einflüsse
Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität)
Geschenke werden durch Menschen erwidert. Auch wenn man die Geschenke gar nicht wollte. Durch die Annahme von Geschenken wird die automatische „Geschenkrückzahlung“ in Gang gesetzt. Der Mensch probiert dem Schenker entgegen zu kommen. Er ist bestrebt ein Geschenk durch ein grösseres Geschenk zu erwidern. Kleine Aufmerksamkeiten können so gezielt eingesetzt werden.
Ein Arzt könnte so zum Beispiel als Entgegenkommen unbewusst ein teures Originalpräparat anstatt eines preiswerten Generikas verschreiben, obwohl beide Produkte medizinisch gleichwertig sind und eigentlich das preiswertere Generika zu bevorzugen wäre.
Soziale Bewährtheit (social proof)
Die Menschen orientieren sich bei Entscheidungen am Verhalten anderer Menschen. Welches Restaurant wählst Du, das fast volle oder das halb Leere? Mit welchen Argumenten wurden Leute in einem Experiment zum Stromsparen gebracht? Mit rationalen Argumenten, mit Geldanreizen oder mit dem Hinweis, dass der Nachbar auch Strom spart? Ihr könnt dreimal raten.
Das Prinzip der sozialen Bewährtheit ist vermutlich eines der am meisten unterschätzten Einflussfaktoren unseres Handelns.
Das Prinzip der sozialen Bewährtheit lässt eigenes Fehlverhalten mit dem Fehlverhalten Anderer rechtfertigen. „Die anderen machen es ja auch.“
Konsistenz und Commitment („Verpflichtung“)
Der Mensch ist bestrebt auf seinem Weg fortzufahren. Das Weiterfahren bestätigt und rechtfertigt die bereits getroffene Entscheidung. Eine Abkehr würde als Eingeständnis gewertet, dass eine frühere Entscheidung falsch war. Dies kann dazu führen, dass auf einem eigentlich falschen Weg weitergefahren oder geforscht wird.
Eine hohe Verpflichtung (Commitment) empfinden wir, wenn
- das Verhalten freiwillig war,
- das Verhalten mit Aufwand, Anstrengungen, Hindernissen oder Nachteilen verbunden war,
- wir uns schriftlich oder
- öffentlich engagiert haben oder
- wenn eigener Besitz mit betroffen ist.
Dieser Effekt ist auch als Fuss-in-der-Tür-Technik bekannt: nacheinander werden sich steigernde Bitten gestellt. Die erste ist so gewählt, dass man kaum widersprechen kann.
„Wir sind doch Freunde, oder?“ – „Ja.“ – „Und Freunde sollten einander helfen.“ – „Richtig.“ – „Und Geld sollte dabei keine Rolle spielen, nicht wahr?“ – „Nein, sollte es nicht …“ – „Kannst Du mir 100 Franken leihen?“
Das Prinzip wird zum Problem, wenn es dazu beiträgt falsche Entscheidungen oder Standpunkte beizubehalten.
Sympathie/Attraktivitäts-Bias
Anliegen von Freunden und attraktiven Personen werden bevorzugt. Dies kann dazu führen, dass Entscheidungen weniger auf objektiven Kriterien als vielmehr aufgrund von Freundschaft und Sympathie gefällt werden. Warum sind Pharmavertreter und Pharmavertreterinnen jung und hübsch?
During training, I was told, when you’re out to dinner with a doctor, „The physician is eating with a friend. You are eating with a client.“
Was macht einen Menschen sympathisch?
- Ähnlichkeit,
- Nähe und Verfügbarkeit,
- Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität),
- Assoziation mit positiven Dingen,
- Sympathie uns gegenüber und
- physische Attraktivität.
Diese Merkmale lassen sich auch gezielt erzeugen und pflegen.
Fundamentaler Attributionsfehler
Es macht einen Unterschied, ob sie eine Frage am Familientisch oder vor laufender Kamera beantworten müssen.
Bei Beurteilungen werden situative Faktoren vernachlässigt. Es wird übersehen in welchen Situationen die Personen gehandelt haben. Die Handlungsfreiheit der Personen wird überschätzt. Es wird übersehen, dass Situationen oft einen starken Druck ausüben können.
Ausnutzung der psychologischen Mechanismen
Diese psychologischen Effekte sind kein Geheimnis. Sie werden seit langer Zeit in der Forschung untersucht und sind in zahlreichen Experimenten empirisch überprüft worden.
Die meisten Leute denken, dass Sie nicht oder zumindest weniger beeinflussbar sind als die anderen Menschen. (Auch Du? Dies wird als „Dritte-Person-Effekt“ bezeichnet.) Dieser Umstand kommt der Ausnutzung solcher Mechanismen stark entgegen.
Eines der grössten Probleme der verzerrten Urteilsbildung (Bias) ist die Zuversicht des Urteilenden, von der Verzerrung (Bias) nicht betroffen zu sein.
Diese psychologischen Effekte lassen sich gezielt ausnutzen. Die Pharmaindustrie hat grosse Marketingabteilungen. Diese verfügen über das notwendige Wissen, die notwendigen Leute und die notwendigen Ressourcen. Novartis hat beispielsweise 13 Mrd. USD im Jahre 2010 für das Marketing ausgegeben. (Das waren übrigens 45% mehr als für die Medikamentenforschung!)
Dr. Daniel Vasella und Joe Gimenz wären schlechte Chefs von Novartis, wenn sie so hohe Marketingausgaben hätten, die sich nicht rentieren würden. Die Aktionäre wären unzufrieden, wenn Geschenke ohne Wirkung verteilt würden.
Zusammenfassung
Interessenkonflikte spielen sich auf der psychologischen Ebene ab. Die Betroffenen sind sich der Auswirkungen nicht bewusst und erkennen keine Beeinflussung an ihren Handlungen und Urteilen. Diese psychologischen Mechanismen wie das Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozität) und soziale Bewährtheit können gezielt ausgenutzt werden. Die Zuversicht in die Unbeeinflussbarkeit des eigenes Urteilens und Verhaltens ist der grösste und gefährlichste Fehler. Sie verstärkt und ermöglicht zum Teil erst das Wirksamwerden der anderen Verzerrungen (Bias) und blinden Flecke.
Weiterführende Literatur
Der Artikel basiert auf dem Fachbuch Interessenkonflikte in der Medizin: Hintergründe und Lösungsmöglichkeiten, Klaus Lieb, David Klemperer, Wolf-Dieter Ludwig, Springer, 2011. books.ch, amazon.de* Kapitel 3.
[Aktualisierung 17.03.2013: Ein illustratives Video (engl.), welches sechs Prinzipien der Überzeugung zeigen: Science Of Persuasion (11:50). Das Video basiert auf der Forschung von Professor Dr. Robert Cialdini (USA) und lohnt sich zu sehen. (NB. Die Angabe des Professors ist eine Anwendung, denn es entspricht Überzeugung durch Autorität.)]