Sonntag, 7. Februar 2016

Das Versterben von Frau Giordano


Um 10 Uhr und 25 Minuten erlag Frau Giordano ihren schweren Grunderkrankungen, welche unter anderem einen Tumor der Niere, Diabetes, eine schwere Herzinsuffizienz, ein Glaukom des rechten Auges und 20 weitere nicht weiter aufgeführte Punkte beinhalteten. Kombiniert mit einer großzügigen Lungenentzündung hatten diese nun zu ihrem Tode geführt. Frau Giordano war außerdem ungefähr 90 Jahre alt, ihr Versterben nicht völlig unerwartet und fand zudem im Beisein ihres Sohns und der Tochter statt, so dass alles halb so dramatisch war. Dachte ich.

Dies trug sich zu auf meiner Station, während ich Visite machte und meinen Visitenwagen hin und herschob. Ich bestätigte den Tod von Frau Giordano und versprach den Schwestern in zwei, drei Stunden die zweite Leichenschau zu vollbringen. Frau Giordano würden wir solange auf der Station lassen, damit sich die Familie noch etwas verabschieden könne. Ein unglaublich guter Plan. So wie alle meine Pläne.

Drei Stunden später eilte die Schwester panikartig herbei, ob ich denn nicht bald meine endgültige und finale Leichenschau vollbringen könne, die Situation laufe gerade nun so langsam etwas aus dem Ruder und man wolle Frau Giordano möglichst schnell in die Pathologie im Keller verfrachten.

„Huä, wieso? Siehst du nicht, ich analysiere gerade dieses äußert wichtige aber völlig verwackelte Belastungs-EKG, Schwester?! Hier könnte sich zum Beispiel eine neu aufgetretene ST-Streckenhebung verbergen. Oder aber der Patient ist hier vom Ergometer gefallen.“

Die Schwester war aber sehr persistent und in Kürze schlossen sich ihr ein Haufen weiterer Schwestern an, deswegen legte ich dann das Belastung-EKG weg, das außerdem zu viele Zacken an falsche Stelle  enthielt und ging hin, das Begehr der Schwestern zu erfüllen. Im Flur traf ich auf vier aufgelöste vermutlich Enkel Frau Giordanos und dann betrat ich das Zimmer, wo mich eine Wand an Menschen erwartungsvoll anstarrte. Nicht gewillt eine öffentliche Leichenschau vor großem Publikum zu performen, erklärte ich, ich bräuchte, den Raum jetzt für mich alleine. Die Menge nickte respektvoll und defilierte langsam an mir nach außen: Frau Giordanos Geschwister, Töchter und Söhne , Leute, die Familie Giordano einfach so Beistand wünschten, fünf kleine Kinder, drei Babys, zwei Kinderwagen, noch mehr Leute, Enkel und Enkelinnen, Nichten und Neffen, weitere Leute.

Ich vollbrachte, was ich vollbringen wollte, ging wieder raus, vorbei an vermutlich 100, naja vielleicht auch 60 Leuten, die alle ratlos im Flur rumstanden und fragte freundlich ob es ok, wäre, wenn wir Frau Giordano nun nach unten brächten. Das war es zum Glück und so verhinderten wir anscheinend die Ankunft weiterer 60 Verwandter, wie mir danach ein Sohn anvertraute.

Im Anschluss mussten wir nur noch anderer Patienten Angehöriger Verwirrung beruhigen, ob der vielen südländisch aussehender Menschen in unserem Flur: Nein! Nein, das wären keine Asylbewerber gewesen, die gerade eine öffentliche Führung durch das Krankenhaus erhalten hätten. Ernsthaft.


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