White Risk: Dank Lawinenkunde sicher an die Spitze!

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Lawinenkenntnisse sind von wachsender Relevanz bei Zunahme von Freeridern, Schneeschuh- und Skitourengängern. Daher organisiert die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt SUVA in Zusammenarbeit mit dem Lawinenforschungsinstitut SLF Trainingscamps. Als Vorbereitung auf meine Teilnahme an dem Kurs, der Ende der Woche in Davos stattfindet, habe ich die Skitourenplanung mithilfe der neu gestalteten Präventionsplattform White Risk getestet – und bin begeistert.

“Ein gutes Urteilsvermögen kommt von Erfahrung. Und diese kommt von schlechtem Urteilsvermögen.” Obwohl das Zitat des deutsch-kanadischen Publizisten Willy Meurer stimmt, gibt es Dinge im Leben, die wir nicht durch Versuch und Irrtum lernen sollten.

Durch Prävention und Einsicht lassen sich viele Krankheiten vermeiden, darunter auch Unfälle im Bergsport. Wie wichtig Aufklärung und Schulung sind, zeigt ein Blick auf die Lawinen-Statistik: Über 90 Prozent der Lawinen wurden von den Opfern selbst ausgelöst.

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Sonnenschein und ein atemberaubendes Panorama. Dennoch lädt der windverblasene Gipfel des Piz Beverin (2998 m, Graubünden, CH) an diesem Tag nicht zum langen Verweilen ein.

Beispiel Piz Beverin – Prävention durch Planung

Der Hang sieht verlockend aus: Knöcheltiefer, fast unverspurter Pulverschnee in einer nordostexponierten, etwa 35° steilen Flanke. Jeder, der mich ein wenig kennt, weiß, was ich jetzt denke. Doch können wir es heute wagen? Dürfen wir es überhaupt? Oder sollten wir besser unsere Skier abschnallen und über die etwa acht Meter hohe Metallleiter wie schon beim Aufstieg auf dem sichereren Südost-Grat wieder zurück ins Tal?

Nach den Schneefällen der letzten Woche strahlt heute endlich die Sonne. Am Gipfelgrat des Piz Beverin im Schweizer Kanton Graubünden bläst uns auf knapp 3000 Metern der eisige Nordwestwind fast um und treibt den Schnee durch die Luft. Aufziehende Wolken künden bereits von der nächsten Störung. Deswegen sind wir trotz mehrstündiger Anreise an diesem Sonntagmorgen zeitig aufgebrochen.

Die 3×3 Filtermethode

Planung – Beurteilung vor Ort – Beurteilung des Einzelhanges, sind die drei wesentlichen Komponenten der 3×3 Filtermethode zur Risikoreduktion (siehe DAV Panorama 1/14, S. 54-56: “Denken! Und manchmal schaufeln“).

Wir sind zu viert unterwegs, mit Schaufeln, Sonden, Lawinensuchgeräten ausgerüstet, haben die Tour vorher anhand von Karten und Tourenführer sorgfältig geplant, sowie Wetter und Lawinenlagebericht studiert.

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Lawinenbulletin am 25. Januar 2014 mit unserem Ziel im orangen Bereich (Quelle: slf.ch).

Laut Lawinenbulletin der SLF (slf.ch) herrscht erhebliche Lawinengefahr (Stufe 3 von 5 möglichen Stufen). Dies ist die Gefahrenstufe, die am häufigsten unterschätzt wird und in der 66% der Lawinenunglücke passieren.

“Kleine Blocktests” an der Schlüsselstelle

Während des Aufstiegs führen wir daher mehrere so genannte “Kleine Blocktests” an der Schlüsselstelle bei P. 2769 durch: Hierzu wird jeweils ein etwa 40 x 40 Zentimeter großer Schneeblock rundum freigelegt, je nach Schneedeckenaufbau bis in maximal einem Meter Tiefe. Falls er nicht schon beim Ausstechen abrutscht, wird die Festigkeit durch Klopfen mit der Lawinenschaufel getestet.

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Der senkrechte Gratabbruch (P. 2769), darunter die Schlüsselstelle unterhalb der Leiter auf dem Südostgrat.

Unser Ergebnis in dem etwa 35° steilen, teils eingewehten Südwesthang macht rasch klar: Die unterste Schicht besteht aus einer dünnen Schicht grobkörniger Kristalle. Diese “Zuckerschneeschicht” ist schwach und störanfällig. Über ihr wurden schwerere Lagen durch Wind und Sonne umgewandelt und verfestigt, so dass sie nun leicht durch Beklopfen oder das Gewicht einer einzelnen Person wie ein Kartenhaus zusammenbrechen können. Auch wenn es hier bereits einige alte Spuren vom Vortag gibt, ist dieser Hang also weniger sicher als zunächst vermutet.

Ganz anders die andere Seite: Die etwa 35° steile Nordostflanke enthält weder Verfrachtungen noch von Sonne und Wind umgewandelten Schnee. Auch hier gibt es bereits Spuren. Wir tauschen unsere Beobachtungen mit den anderen Skitourengruppen am Hang aus und entschließen uns für den Nordosthang, den wir einzeln in großen Schwüngen und ohne zu stürzen befahren. Der Hang hält, was er uns oben versprochen hat. Und so können wir diese Tour traumhaft schön im örtlichen Café bei Latte Macchiato und Bündner Nusstorte ausklingen lassen.

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“Kleiner Blocktest” mit schwacher und störanfälliger unterster Schneeschicht.

Schweizer Präzisions-Risikoabschätzung dank White Risk

Alles ist gutgegangen. Doch haben wir auch wirklich verantwortungsvoll gehandelt? Um dies zu analysieren, plane ich die Tour noch einmal im Nachhinein anhand der neugestalteten Präventionsplattform White Risk. Die kostenlose Basisversion bietet ein grafisch animiertes Kompendium zum richtigen Verhalten am Berg und zur Risikoeinschätzung.

Für einen Jahresbeitrag von 29 Franken gibt es die Vollversion, mit deren Hilfe sich Ski-, Snowboard- und Schneeschuhtouren unter Berücksichtigung von sicherheitstechnischen Aspekten wie Schlüsselstellen, Hangneigung, Wetter- und Teambedingungen planen lassen.

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Das Planungstool “White Risk” erleichtert eine verantwortungsvolle Tourenplanung (Quelle: whiterisk.ch)

Die nötigen Kartendaten stammen von Swisstopo. Besonders hilfreich sind die farblich hervorgehobenen Hangneigungen, die sich einfach am Bildschirm vergrößern lassen und im Zweifelsfall eine genauere Planung als mit gedrucktem Kartenmaterial ermöglichen. Auch Wildruhezonen können markiert und somit besser gemieden werden. Das macht diese Plattform zu einem ausgezeichneten Hilfsmittel zur Tourenplanung, wie es zuvor noch nicht existierte.

Damit das Wissen auch am Berg verfügbar ist, lassen sich am Desktop geplante Touren per Mausklick auf die Smartphone-App übertragen oder einfach auf Papier ausdrucken. Auch die aktuellen Lawinenbulletins und Neuschneemengen sind so fast überall tagesaktuell verfügbar. Ich persönlich würde mich in den Bergen allerdings nicht auf ein Smartphone verlassen wollen oder müssen, allein schon wegen der Akkulaufzeiten bei winterlichen Temperaturen.

Der größte Wermutstropfen ist jedoch, dass die Plattform auf die Schweiz beschränkt ist. Wer in anderen Teilen der Alpen auf Pulverschneesuche gehen will, muss die Informationen nach wie vor mehr oder weniger mühsam aus verschiedenen Quellen zusammenstellen: Karten, Schneehöhen, Lawinenlage- und örtlicher Wetterbericht.

Exzellente Schlüsselstellenanalyse

Zurück zu unserer Schlüsselstelle am Piz Beverin. Die von uns getestete und schließlich befahrene Nordostflanke wird im Skitourenführer des Schweizer Alpen-Clubs SAC als “35° auf 200 Hm” beschrieben. Die Berechnung anhand der Landeskarte (257 S, Maßstab 1:50.000) sowie die Einschätzung anhand der DAV SnowCard bestätigen dies. Und dennoch: Die Detailanalyse mit White Risk zeigt Bereiche, die steiler als 35° sind! In unserem Fall haben wir glücklicherweise einen repräsentativen Teil vor Ort analysiert.

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Beispiel Piz Beverin: Je kräftiger das Rot, desto steiler der Hang und damit die potentielle Lawinengefahr. Schlüsselstellen können besonders gut identifiziert und markiert werden. So lassen sie sich leichter vermeiden bzw. gezielter vor Ort beurteilen. (Quelle: whiterisk.ch, eigene Ergänzungen).

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Beispiel Piz Beverin: Google Earth-Ansicht des Garmin-GPS-Tracks der tatsächlich gefahrenen Route.

Risikominimierung durch Eigenverantwortung und Schulung

Einen hundertprozentigen Schutz gibt es nicht. Auch die beste Planung kann einen geschulten Blick in die Berge nicht ersetzen. Sicherheitskurse helfen, das Urteilsvermögen zu trainieren, um im Fall eines Lawinenabgangs schnell und richtig zu handeln. Deswegen organisiert auch White Risk Trainingskurse abseits der Pisten. Denn in den Bergen ist der Blick ins Gelände immer noch wichtiger als auf das Smartphone zu schauen.

Ich hatte Glück und habe einen Platz für das nächste Camp, das ab morgen in Davos stattfindet, gewonnen. Durch Verbesserung meiner eigenen Fähigkeiten und indem ich meine erworbenen Kenntnisse und Erfahrungen mit anderen teile, möchte ich aktiv einen Beitrag zu mehr Achtsamkeit und Prävention von Unglücken durch ein verantwortungsvolles Verhalten beitragen.

Damit der Bergsport das sein kann, was er ist – ein Glücksbringer, der die Gesundheit und die Gemeinschaft fördert.

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Dr. Karin Schumacher bloggte zunächst als Trota von Berlin seit 2010 bei den SciLogs. Nach dem Studium der Humanmedizin in Deutschland und Spanien promovierte sie neurowissenschaftlich und forschte immunologisch in einigen bekannten Forschungsinstituten, bevor sie in Europas größter Universitätsfrauenklinik eine Facharztausbildung in Frauenheilkunde und Geburtshilfe abschloss. Hierbei wuchs das Interesse an neuen Wegen in der Medizin zu Prävention und Heilung von Krankheiten durch eine gesunde Lebensweise dank mehr Achtsamkeit für sich und seine Umwelt, Respekt und Selbstverantwortung. Die Kosmopolitin ist leidenschaftliche Bergsportlerin und Violinistin und wenn sie nicht gerade fotografiert, schreibt oder liest, dann lernt sie eine neue Sprache. Auf Twitter ist sie übrigens als @med_and_more unterwegs.

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