Gurken machen nicht schwanger, verursacht Schokolade Migräne?

Saure Gurken essen macht Frauen nicht schwanger. Über Migräne wurden wir noch nicht richtig aufgeklärt, der physiologische Mechanismus liegt weiterhin im Dunklen. So kommt es leicht zu Verwechslungen, die wir jetzt durch Besonderheiten im funktionellen Konnektom bei Migränikern erklären. 

Einen neuen Mechanismus, nämlich wie bei Migräne Auslöser und Symptome der Erkrankung ununterscheidbar verschmelzen können, schlagen wir jetzt in der Fachzeitschrift der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft „Cephalalgia“ vor. Wir hoffen damit auch einer tieferliegenden Ursache näher zu kommen.

M.A. Dahlem, J. Kurths, M. D. Ferrari, K. Aihara, M. Scheffer, and A. May, Understanding Migraine using Dynamical Network Biomarkers, online first, Cephalalgia, (2014). doi:10.1177/0333102414550108

Ähnlich den hormonell bedingten Heißhungeranfällen in der Schwangerschaft kann Heißhunger auch bei Migräne auftreten und zwar in einer der Schmerzphase einer Migräneattacke viele Stunden vorausgehenden Vorbotenphase. Man verspürt dann z.B. Lust auf Schokolade, isst diese und bekommt kurz darauf einen Migräneanfall. Die Schokolade ist wie die Gurke Symptom nicht Trigger, denn der Kopfschmerz ist längst in seiner „pränatalen“ Entwicklung.

Vermeintliche Auslöser: Schokolade, Licht, Sport und mehr

In dieser Vorbotenphase, die bis zu 24 Stunden den Kopfschmerzen vorausgehen kann, sind Betroffene eventuell auch besonders lichtempfindlich, so dass selbst relativ normale Lichtverhältnisse als äußert grell empfunden werden können. Auch dieses subjektiv grelle Licht ist dann, wie die Lust auf Schokolade, nicht Auslöser sondern ein Symptom.

Oder der eigenen Körper scheint ist in hohe Leistungsbereitschaft versetzt und man betätigt sich sportlich. Etwas später kommt ein Migräneanfall. Auch die hohe körperliche Aktivität ist dann nur Symptom nicht Auslöser.

Diese Liste ließe sich sehr lange fortsetzen, denn eine Vielzahl von angeblichen Auslösefaktoren der Migräne sind bekannt. Es betrifft hormonelle, emotionelle, Ernährungs- und weitere physiologische Veränderungen. Schokolade, Licht und körperliche Aktivität gehören dabei zu den Klassikern, die nachweislich mit Auslösern verwechselt werden.

Werden Migäniker von ihrer Erkrankung ferngesteuert?

Gibt es also gar keine Auslöser bei Migräne? Sind Betroffene gar ihres freien Willens völlig beraubt, werden von ihrer Erkrankung gezwungen Schokolade zu essen, Sport zu treiben und sie können ihren Sinnen nicht mehr trauen? Beides stimmt so auch wieder nicht oder zumindest nur bedingt. Migäniker sind von ihrer Erkrankung nicht ferngesteuert, die Erkrankung scheint vielmehr zeitweise und nur in einem Teil eines sogenannten „resting state networks“ im Gehirn ein gewisses „Eigenleben“ zu führen.

Laut eines neuen Mechanismus’, den wir in der oben zitierten Fachzeitschrift jetzt vorschlagen, gibt es Auslöser, allerdings werden sie nur wirksam in der Vorbotenphase und sind außerhalb dieser Phase ungefährlich. Gleichzeitig verschmelzen diese Auslöser mit den auftretenden Vorbotensymptomen. Was potenter Auslöser ist, ist auch gleichzeitig verknüpft mit einem Vorbotensymptom. Es erscheint in der Tat perplex: Eine klare Unterscheidung zwischen Symptom und Auslöser ist gar nicht mehr sinnvoll zu definieren!

Die Illustration unten erklärt diesen Mechanismus stellvertretend durch eine Kugel in einer Hügellandschaft. Das Auftreten großer Schwankungen symbolisiert die Vorbotenphase. Diese Schwankungen stellen die Vielfalt hormoneller, emotioneller, Ernährungs- und physiologischer Veränderungen dar. Sie können in dieser Form, also mit großer Amplitude, nur nahe an einem sogenannten Kipppunkt auftreten. Das zeichnet die Vorbotenphase der Migräne aus. In dieser Phase ist man dann auch für Auslöser sehr empfindlich, jedoch bedarf es diese gar nicht mehr. Denn der eintretende Kipppunkt ist längst programmiert. Dieser unweigerliche Kipppunkt stellt den Übergang von dem noch schmerzfreien Intervall zur Kopfschmerzphase bei Migräne dar. Bei einem Kipppunkt-Mechanismus treten zwangsläufig Frühwarnhinweise auf, also eine Vorbotenphase mit charakteristischen Symptomen und auch mit besonderer Anfälligkeit für Auslöser.

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Es war lange bekannt, dass Vorbotensymptome häufig als Auslösefaktoren missverstanden werden und dass diese Auslösefaktoren meist zumindest nicht wirksam sind, manchmal aber anscheinend doch. Die Kipppunkt-Theorie löst das plausibel auf.

Vorhersagen

Diese Kipppunkt-Theorie macht Vorhersagen: die Schwankungen der Vorbotenphase sollten objektiv messbar sein und würden so als erster klinischer Indikator (Biomarker) einer Migräneerkrankung dienen. Bisher war nicht klar, wo die Vorbotensymtome herrühen. Trifft die Kipppunkt-Theorie zu, entstammen sie alle – trotz ihrer Vielfalt – aus einem einzigen Untersystem des Gehirns. Dieses Untersystem weist nicht nur große Schwankungen in der Aktivität auf. Es ist außerdem gekennzeichnet durch starke Korrelationen dieser Aktivität in verschiedenen Arealen oder Kerngebieten. In der Tat wird das Untersystem als Subnetzwerk gerade erst funktionell definiert durch diese starken Korrelationen. Es ist also ein Untersystem, das sich nicht notwendigerweise strukturell anatomisch auszeichnet. Grundsätzlich wird in der Gehirnforschung zwischen struktureller Konnektivität und funktioneller Konnektivität unterschieden. Beides zusammen ergibt das Konnektom. Es gibt noch ein drittes vorhergesagtes Kennzeichen, nämlich eine kritisch verlangsamte Dynamik in diesem Untersystem.

Zusammengefasst ist die Vorhersage also, dass bei Migränikern ein besonderer Teil des funktionellen Konnektoms existiert, in dem vor den eigentlichen Kopfschmerzen korrelierte, langsame und hochamplitudige Schwankungen auftreten.

Diese vorhergesagte Auffälligkeit im funktionellen Konnektom bei Migränikern ist ein Biomarker, ein sogenannter dynamisch-vernetzter Biomarker. Ihn gilt es jetzt klinisch nachzuweisen. Das geht, weil wir nun wissen wonach wir suchen. Messungen im Ruhezustand („resting state“) müssen vorgenommen werden und dieses „resting state network“ verändert sich in der Vorbotenphase. Würde solch ein Biomarker nachgewiesen, führt er uns, so die Hoffnung, auch zu einem besseren Verständnis der hinter einer Migräneattacke liegenden Fehlfunktionen.

 

PS: Heute war dazu auch ein Bereicht in der Berliner Zeitung:  „Migräne ist so komplex wie der Klimawandel

 

Fußnote

 Wie in dem Kommentar angemerkt wurde, ist hier das Verb „scheint“ wirklich falsch oder zumindest irreführend. Das ist ein interessanter Aspekt aus gleich mehreren Gründen. Zum einen gibt es keine Grund hier von einer subjektiven Einschätzung zu reden (anders etwa bei der Beurteilung, ob Licht grell ist oder nicht). Zum anderen deutet hohe Leistungsbereitschaft und folgende proaktive Maßnahmen auf eine erhöhte neuronale Aktivität in dem dorsolateralen Bereich eines Kerngebietes im Hirnstamm hin, nämlich im periaquäduktalen Grau (PAG). Wenn man sich im Anfall dann z.B. in ein ruhiges, dunkles Zimmer zurückzieht, korreliert dies mit dem ventrolateralen Bereich dieses Kerngebietes [siehe: K. A. Keay and R. Bandler, “Parallel circuits mediating distinct emotional coping reactions to different types of stress,” Neurosci. Biobehav. Rev. 25, 669–678 (2001)]. Hier wandert also im Hirnstamm Aktivität beim Kippprozess.

 

 

 

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

10 Kommentare

  1. Endlich ein plausibler Ansatz, der das Rätselraten um die vermeintlichen Auslöser beenden könnte. Ich hoffe auf die weiteren Forschungsergebnisse, um die Plage eindämmen zu können. Dank an die Forscher und weiter so!

    • Ja, genau das wollte ich auch gerade schreiben! Seit Jahren habe ich das Gefühl das die Auslöser suche nichts bringt außer einer Art Placebo Effekt, der sich schnell wieder legt und schon immer habe ich das Gefühl das es ab einem Punkt X ganz egal ist was ich tue oder lasse, alles ist dann gut genug eine Migräne auszulösen. Es ist eine echte Erleichterung das hier bestätigt zu bekommen. Besser zwischen den Anfällen das Leben genießen, als zu mutmaßen was davon die nächste Migräne triggern könnte.

  2. Migräne und Schwangerschaft scheinen also den psychischen Zustand zu ändern ohne dass das jemand anders bemerkt als der/die Betroffene. Und selbst die Betroffene (Migräne und Schwangerschaft betreffen in der Mehrzahl Frauen) kann die Änderung nicht zuordnen, sie weiss also nicht woher ihre Wünsche und Antriebe kommen. Es gibt auch keine Messgeräte die das können. Weder das EEG noch das fMRI scheinen den geänderten Zustand eines Migränikers in der Vorphase des Migräneanfalls registrieren zu können. Es gibt also noch eine grosse diagnostische Lücke, die zu schliessen sich lohnen würde.

  3. Du schreibst “…Oder der eigenen Körper scheint in hohe Leistungsbereitschaft versetzt und man betätigt sich sportlich. Etwas später kommt ein Migräneanfall….”

    Du schreibst “scheint”. Ich meine es ist tatsächlich so. Ich bilde mir ein das ich an solchen Tagen wirklich schneller bin, leistungsfähiger und auf alle Fälle ziemlich viel erledigt bekomme. Im Grunde fühle ich mich sauwohl damit. Ich wollte mich nicht täglich so aufgedreht fühlen, aber von Zeit zu Zeit wäre es durchaus angenehm, wenn da nicht das Wissen um die nahende Attacke wäre. Du meinst es fühlt sich nur so an, es ist eine Täuschung?

    • Danke für das Aufmerksame lesen! Hier ist “scheint” wirklich falsch. Natürlich ist der Körper nicht höher leitungsbereit, so wie er es wäre, wenn man körperlich trainiert und sich auf einen Wettkampf vorbereitet. In anderen Worten, es gibt keinen (mysteriösen) Trainingseffekt. Aber der Körper ist in der akuten Situation schon in eine solche hohe Leistungsbereitschaft hineinversetzt. Mir ist nicht bekannt, ob dies auch schon mal objektiv nachgemessen wurde. Zum Beispiel, dass Reaktionszeiten vor dem Anfall schneller sind etc. Ich denke aber, das würde so sein. Ich habe das korrigiert und in der Fußnote dazu nochmal die Aktivität mit anatomischen Hirnstrukturen unterlegt.

      Noch mal: Danke! Wirklich sehr guter Hinweis.

      • Oh bitte… Du bringst mich in Verlegenheit! Ich lese immer alles, was nicht heißt das ich alles verstehe… Als Kind habe ich Packman gespielt, vor Migränen… wow…da war ich richtig gut, heutzutage jongliere ich ein bisschen, vor einer Migräne macht es besonders viel Spaß, eben weil ich diesen einen Tick schneller bin. Es ist sicher nicht signifikant, aber ich spüre den Unterschied. Ich mag diese Momente wo Du mir die Dinge erklären kannst die ich erlebe. Das hat richtig was!

  4. Hallo zusammen!

    Ja das stimmt: Die Auslöser der Migräne sind so vielfältig, dass erst das Führen von Migränetagebücher vielleicht vermuten lässt, einige Auslöser gefunden zu haben.

    Manchmal war es bei mir so, dass nur ein Auslöser schon ein Anfall ausgelöst hat, aber
    manchmal auch nur mehrere. Einen Hauptanteil der Auslöser war bei mir der permanent erhöhte Blutdruck, der auch Nachts nicht signifikant herunterging, sondern stehts konstant hoch war. Die
    Folge davon war, dass meine Schlafqualität nicht sonderlich gut war. Der Körper erholte sich
    nicht wie normal. Ich war auch besonders schnell wach, wenn ich Geräusche von draußen hörte.

    Erst durch die Einstellung des erhöhten Blutdrucks hörten die schmerzhaften Migräneanfälle auf.

    Gruß Peter S.

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