Dawkins, Memetik und kulturelle Evolution

Richard Dawkins nennt in seinem berühmten Buch „Das egoistische Gen“ von 1976 drei wesentliche Eigenschaften, die ein erfolgreicher Replikator aufweisen muss: Langlebigkeit, Wiedergabetreue und Fruchtbarkeit.[i] Mit Langlebigkeit ist gemeint, dass ein Gen über viele Generationen hinweg Bestand hat. Ob hingegen die Kopien des Gens, die in den Lebewesen enthalten sind, lange leben, ist dabei unerheblich. Das Gen selbst ist reine Information. Viele Abschnitte der DNA, die wir in jeder Zelle unseres Körpers mit uns herumtragen, dürften als Gene uralt sein, manche viele Millionen von Jahren. Die jeweilige Kopie des Gens stirbt aber mit unserem Organismus, bei Menschen also im Idealfall nach längstens etwa hundert Jahren. Damit das Gen über einen langen Zeitraum erhalten bleibt, bedarf es einer hohen Wiedergabetreue. Bei der Replikation sollten sich möglichst wenige Fehler einschleichen. Mit der DNA, die als ein digitales Speichermedium betrachtet werden kann, ist dies gewährleistet. Allerdings spielt bei der Wiedergabetreue auch die Tatsache eine Rolle, dass die reproduzierten DNA-Sequenzen gerade solche Einheiten sind, die durch Selektion ausgewählt werden können – so nämlich definiert Dawkins in sehr allgemeiner Form das Gen. Trägt eine Sequenz auf der DNA nicht zu einem Merkmal beim Organismus bei, das einen Selektionsvorteil erbringt, dann kann sie sich auch nicht als reproduzierbare Einheit behaupten (und der sogenannten „Gen-Drift“ unterliegen).

Das dritte Merkmal ist die Fruchtbarkeit. Weisen die Nachkommen eines Lebewesens ein bestimmtes Merkmal auf, durch das diese in ihrer Umwelt größere Überlebens- und somit größere Reproduktionschancen haben, dann wird auch die wahrscheinliche Lebensdauer des Gens erhöht. Die Gene, die der Giraffe ihren langen Hals bescheren, haben sich aus genau diesem Grund durchgesetzt: Der längere Hals war ein Vorteil bei der Nahrungssuche, so dass Individuen mit den Genen für lange Hälse begünstigt wurden. Auch wenn dieser Vorteil nur winzig ist und sich bei der Anzahl der Nachkommen statistisch nur in Prozentbruchteilen auswirken mag, setzen sich die Lange-Hals-Gene nach und nach bei gleichbleibenden Umweltbedingungen gegenüber alternativen Genvarianten (die sogenannten „Allele“) durch. Und dieser Effekt kann nur dann erreicht werden, wenn die Wiedergabetreue bei der Reproduktion so hoch ist, dass nicht schon nach ein paar Generationen die Anweisungen zum „Bau“ eines langen Halses funktionsuntüchtig werden. Die Eigenschaften der Langlebigkeit, Wiedergabetreue und Fruchtbarkeit von Replikatoren greifen also ineinander.

Was sagt uns das alles für die kulturelle Evolution? Können die gerade dargestellten Prinzipien und Mechanismen auch in einer kulturellen Umwelt beobachtet werden? Wenn das so sein sollte, müsste es außer den Genen auch andere Replikatoren geben. Lange glaubte man, dass das nicht der Fall wäre – die genetische Replikation ist danach das Muster der Evolution schlechthin. Allerdings lässt sich auch in manch anderen dynamischen Systemen eine evolutionäre Dynamik beobachten, etwa im Gehirn (man spricht hier von „Neuro-Darwinismus“) bei der Verbindung der Nervenzellen durch Synapsen, in der Informatik mit „genetischen Algorithmen“, in der Dynamik von Populationen oder in Technik und Wirtschaft.[ii] Selektion und Anpassung spielen in allen diesen Systemen (und in vielen anderen) eine zentrale Rolle.

Allerdings stellt sich die Frage, ob dabei tatsächlich alternative, nicht-genetische Replikatoren im Spiel sind, also irgendwelche „Gebilde“, die die Fähigkeit besitzen, sich in einer entsprechenden Umwelt selbst zu reproduzieren, und dadurch eine eigene, sich selbst tragende evolutionäre Dynamik entfalten. Dawkins selbst gibt in seinem Buch von 1976 eine Antwort darauf:[iii] Ja, es gibt einen zweiten, einen neuen Replikator, und die Voraussetzung für diesen neuen Replikator bildet das menschliche Gehirn. Dawkins nennt den neuen Replikator „Mem“ und meint damit Ideen, Geschichten, Melodien, Motive, Formen, Moden, Wörter, Sätze oder Texte, die von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Die Biosphäre der Meme sind unsere Gehirne. Einmal entstanden, sind manche Meme sehr erfolgreich darin, sich in den Gehirnen der Menschen „festzusetzen“. Die Titanic-Geschichte ist beispielsweise so ein erfolgreiches Mem, und noch viel erfolgreicher, da schon viel länger Teil der kulturellen Welt, sind die Erzählungen aus der Bibel oder Homers Ilias und Odyssee.

Neben dem, was über die Epochen hinweg geblieben ist und zu dem ständig Neues hinzukommt, gibt es natürlich viel mehr, was verschwunden ist. Das, was nur in einem menschlichen Gehirn vorkommt, ist noch kein Mem, sondern ein Gedanke. Zu einem Mem wird ein Gedanke erst, wenn er kommuniziert wird, und dafür verwenden Menschen Medien.[iv] Alles, was gegenständlich und für den Menschen wahrnehmbar ist, taugt als Medium. Jeder Gegenstand, der von Menschen gemacht ist, trägt eine kulturelle Bedeutung. Ein Ochsenkarren transportierte vor 5.000 Jahren nicht nur Getreidesäcke, sondern auch die Idee des Rades, das Mem „Rad“.[v] Meme unterliegen der Selektion, ein Mem, das sich nicht so oft und mit einiger Genauigkeit in den Gehirnen der Menschen reproduzieren kann, verliert gegenüber erfolgreicheren Replikatoren an Boden, bis es vielleicht ganz verschwindet. Vielleicht „überlebt“ es aber in seiner medialen Speicherung, seinem „Vehikel“, so wie die Inhalte eines antiken Buchs, das nach Jahrhunderten wieder aufgefunden wird.

Und genau wie Gene unterliegen Meme Mutationen: Diese sind ja eine Voraussetzung dafür, dass in der nächsten Generation Variation entstehen kann und dadurch eine bessere Anpassung an Lebens- und Umweltbedingungen ermöglicht wird. Die Mutation der Meme geschieht bei ihrer Aufnahme und Weitergabe durch Menschen. Menschen sind nicht in der Lage, exakte Kopien von Informationen herzustellen, sie speichern sie nicht wie auf einer Festplatte ab, sondern rekonstruieren sie in ihrem Geist, wobei andere Erfahrungen und Wissensbestände – andere Meme – einfließen. Damit weisen Meme alle Merkmale kultureller Zeichen auf. Wir können sie deshalb miteinander gleichsetzen: Meme sind kulturelle Zeichen, und durch Übertragung des Modells der biologischen Evolution auf Meme, wie sie Dawkins vorgenommen hat, besitzen wir nun ein Instrument, um kulturelle Evolution zu verstehen.

Dawkins hat den Begriff „Mem“ in Anlehnung an die Begriffe „Gen“ und „Mimesis“ geprägt. Mimesis – Nachahmung – nämlich ist es, was das Mem zur Replikation befähigt.[vi] Dawkins versteht, wie viele andere Philosophen und Kulturwissenschaftler, das Prinzip der Nachahmung als einen zentralen kognitiven Mechanismus des Lernens, der Kooperation, Kommunikation und Organisation, der menschlichen Kultur überhaupt. Kinder lernen durch Nachahmung sprechen, Lesen ist die kognitive Nachahmung von Zeichen, Wörtern und Sätzen, die jemand geschrieben hat, und zum Schreiben ahmen wir Zeichen nach, die wir ebenfalls zuvor haben lernen müssen. Aber auch das Feuermachen, das Bauen von Kartenhäusern und Kathedralen oder das Pfeifen einer Melodie erfordert die Fähigkeit der Nachahmung. Ein Lehrling beobachtet die handwerkliche Tätigkeit seines Meisters und versuchet sie zu reproduzieren. Wir kaufen uns ein Hemd in einem bestimmten Design, weil wir irgendeine Art von Mode nachahmen, Moden selbst entstehen insgesamt nur durch Nachahmung.

Eigentlich sind kaum irgendwelche Verhaltensweisen mit sozialer Relevanz denkbar, in denen nicht eine große Portion Nachahmung von zuvor Gesehenem, Gehörtem oder Praktiziertem enthalten ist.[vii] Entsprechend beruht all das auf Memen. Das Mem ist nach Dawkins die Grundeinheit kultureller Systeme, so wie es das Gen in biologischen Systemen ist. Meme unterliegen den gleichen Selektionsbedingungen von Langlebigkeit, Fruchtbarkeit und Wiedergabetreue wie Gene. Meme reproduzieren sich aufgrund von Mimesis, Nachahmung, in menschlichen Gehirnen, Gene reproduzieren sich biochemisch aufgrund von Mitose in den Zellen von Organismen. Die kulturelle Evolution auf der Grundlage von Memen nennt Dawkins deshalb auch in Anlehnung an die Genetik „Memetik“.

Das ist eine starke These. Dawkins selbst hat den memetischen Ansatz genutzt, um kulturelle Phänomene wie die Religion zu erklären. Er meint in Religionen einen Beweis dafür zu sehen, dass Mem-Komplexe beziehungsweise „Memplexe“ sich selbst reproduzieren und dabei kulturelle Effekte hervorbringen, ohne dass es dafür einen evolutionären Zweck im biologischen Sinn gibt. Das ist ein besonders wichtiger Punkt in Dawkins‘ Theorie: Meme sind kein Teil der biologischen Evolution, und die Memetik darf deshalb nicht mit Überlegungen der Soziobiologie verwechselt werden. Diese bringt nämlich die kulturellen Hervorbringungen von Menschen, aber auch von Tieren (zum Beispiel staatenbildende Tierarten wie Ameisen oder Bienen) mit der biologischen Fitness der Lebewesen in Verbindung. Meme befinden sich jedoch in einer völlig eigenständigen „Welt“, und die memetische Evolution führt nicht grundsätzlich dazu, dass sich biologische Organismen erfolgreicher reproduzieren und ihre Gene langlebiger sind.

[i] Dawkins, Richard (1976/2007). Das egoistische Gen. München: Elsevier, Spektrum, 324.

[ii] Vgl. Blackmore, Susan J. (2003). Evolution und Meme: Das menschliche Gehirn als selektiver Imitationsapparat. In Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur; eine Debatte. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Band 1643, Alexander Becker (Hg.). Frankfurt am Main: Suhrkamp, 51, Plotkin, Henry C. (2010). Evolutionary Worlds Without End. Oxford, New York: Oxford University Press und Dennett, Daniel C. (1995). Darwin’s Dangerous Ideas. Evolution and the Meaning of Life. London: Penguin. Eine sehr umfassende und lesenswerte Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie bietet Schurz, Gerhard (2011). Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag..

[iii] Vgl. Dawkins (1976/2007: 316–334).

[iv] Hier wird eine kognitive Sicht auf Meme in Anlehnung an Aunger, Robert (2002). The Electric Meme. A New Theory of How We Think. New York: Free Press und Schurz (2011: 210–213)  eingenommen. Zur kulturellen Evolution vgl. auch Eibl, Karl (2009). Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Edition Unseld. Band 20. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[v] Dennett (1995: 348).

[vi] Zum Begriff der Mimesis im kulturwissenschaftlichen Sinne vgl. auch Auerbach, Erich (1946/1988). Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern: A. Francke, 8. Auflage und Balke, Friedrich, Bernhard Siegert & Joseph Vogl (2012). Mimesis. Archiv für Mediengeschichte. Band 12. München: Wilhelm Fink.

[vii] Schurz (2011: 214–216)  weist darauf hin, dass Mem-Transmission allerdings niemals nur auf Nachahmung im engeren Sinne zurückzuführen ist, sondern immer auch andere Formen des sozialen Lernens beinhaltet.

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Henning Lobin ist seit 2018 Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (Mitglied der gemeinsam vom Bund und allen 16 Bundesländern finanzierten Leibniz-Gemeinschaft) und Professor für Germanistische Linguistik an der dortigen Universität. Zuvor war er ab 1999 Professor für Angewandte Sprachwissenschaft und Computerlinguistik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Sprache, Texttechnologie, Grammatik, Wissenschaftskommunikation und Politolinguistik. Er ist Sprecher der Sektion "Geisteswissenschaften und Bildungsforschung" und Präsidiumsmitglied der Leibniz-Gemeinschaft, Mitglied germanistischer Fachbeiräte ua. von DAAD und Goethe-Institut, er war Mitglied des Forschungsbeirats der Stiftung Wissenschaft und Politik und des Fachkollegiums Sprachwissenschaft der DFG. Lobin ist Autor von neun Monografien und hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben. Zuletzt erschienen sind Engelbarts Traum (Campus, 2014, polnische Übersetzung 2017, chinesische Übersetzung 2018), Digital und vernetzt. Das neue Bild der Sprache (Metzler, 2018) und Sprachkampf (Duden, 2021). Bei den SciLogs ist Henning Lobin seit 2014 Autor des Blogs "Die Engelbart-Galaxis", nachdem er dort bereits ab 2008 am Gruppenblog "Interactive Science" beteiligt war.

161 Kommentare

  1. Das sind interessante Gedanken und vielleicht besonders im Hinblick auf Sprache, die gleichzeitig genetisch verankert ist und auf Konventionen beruht, die sich beliebig ändern können. So kann ein Kind jede Sprache annehmen, mit der es gerade aufwächst, aber die Fähigkeit dazu beruht auf einem besonders langlebigen Gen.
    Eine andere Frage, die sich bei mir meldet: Evolution handelt ja nicht nur von der Beständigkeit, sondern auch von der Veränderung. Grob vereinfachend gesagt: Wer besser an die Herausforderungen der Umwelt angepasst ist, hat höhere Chancen sich zu vererben. Vulgär: Der Stärkste überlebt.
    Wie ist das nun bei den “Memen”? Was wäre ein stärkeres Mem, was ein Schwächeres? Falls zum Beispiel “Wahrheit” ein Moment der Stärke wäre, dann müsste sich langfristig die Geschichte der Aufklärung durchsetzen, zumal es so scheint, als wäre wissenschaftliches Bewusstsein auch die Grundlage für allerhand lebenspraktische Erfolge wie z.B. “Waffenkunde”, “Ackerbau”, “Häuserbau”, “weltweit Handel treiben” etc. Tatsächlich lässt sich aber auch beobachten, wie “wissenschaftliches Bewusstsein” immer wieder scheitert. Schon am Ende der Antike sind aufklärerische Ansätze buchstäblich ausgerottet worden, als eine neue Religion mit sehr viel Eifer und Gewalt über die überkommene “heidnische Vielgötterei” herfiel.
    Eventuell könnte man sogar sagen (wie es Konservative gerne dem Sinn nach tun): Die Meme der Aufklärung scheitern an den Genen. “Der Mensch bleibt doch immer gleich.” Böswillig gesagt: Die Evolution der Meme ist ab einem bestimmten Punkt immer nur scheinbar, eine Illusion, ein Spiel an der Oberfläche, sowie es es eben Tausende Sprachen gibt und keine ist irgendwie “fitter” als eine andere. Oder gibt es fíttere Sprachen, die besser an die Umwelt angepasst sind? Hat sich Englisch als weltweite wissenschaftliche Standardsprache durchgesetzt, weil die Sprache fitter war? Sicherlich nicht, die Gründe sind andere. Daher dann die Frage: Wenn man schon auch für Kultur eine Art von Evolution entlang bestimmter Meme annimmt, was wären dann ihre Entwicklungsgesetze?

    • Ich denke auch, dass Sprache und Sprachen ein interessanter Anwendungsfall der kulturellen Evolution ist und durchaus auch schon als ein solcher untersucht wird, wenn auch nicht in den Kategorien der Memetik. Bezüglich der Fitness von Sprachen kann man ja nur dann einen Vergleich anstellen, wenn zwei Sprachen (bzw. die Sprecher zweier Sprachen) direkt in Konkurrenz zueinander stehen, sich sozusagen im gleich kulturellen Biotop bewegen. Dass ist in Eroberungssituationen der Fall, wo manchmal die Sprache der Eroberer obsiegt (Angeln und Sachsen in Brittanien, 4. Jhdt.), manchmal aber auch die Sprach der Eroberten (Latein statt Fränkisch in Gallien des 5. Jhdts.). Die kulturellen Umweltbedingungen haben jeweils zur restlosen Durchsetzung der einen Sprach geführt. Das Wissenschaftsenglisch wäre in diesem Sinne am besten an das “Biotop” des internationalen Wissenschaftsbetriebs angepasst und kann sich im Sinne der Memetik deshalb besonders gut reproduzieren.

      • Bezüglich der menschlichen Sprache kann man in der Tat Aspekte der Evolution anhand des Spracherwerbs beobachten, über die Sprachgeschichte rekonstruieren oder in weiter gefasstem Horizont auch als Sprachevolution diskutieren. Wenn ich ein paar spannende Thesen aus diesen Bereichen grob und in Eile etwas unscharf formuliere: Das Mem (die Sprache) ist an den Übertragungsmechanismus (Spracherwerb) und das Trägermedium (Gehirn) gekoppelt – alle drei sind in Koevolution verbunden und von einer “Symbiose auf evolutionärer Zeitskala” gekennzeichnet. Im kleinen Szenario bedeutet dies: Eine Sprache, die sich nicht leicht erlernen lässt (und deren Kultur diesen Nachteil nicht anderweitig ausgleichen kann), wird aussterben. Eine unerlernbare Sprache gibt es nicht. (Interessant sind hier auch typologische Vergleiche zwischen Sprachen, Kunstsprachen, technischen Sprachen etc.)

        Thesen zu diesen Zusammenhängen und dazugehörige (auch computerbasierte) Modelle werden zum Beispiel von Ted Briscoe in “Linguistic Evolution through Language Acquisition” (2008, Cambridge University Press) diskutiert. In diesem Zusammenhang sei auch dessen Kapitel “Grammatical Assimilation” in Kirby & Christiansen (eds.) “Language Evolution” erwähnt (2003, Oxford University Press). Kirby & Christiansen tragen darin eine Reihe sehr verschiedenartiger Perspektiven auf Sprachevolution zusammen. Einen stärker biologisch geprägten Blickwinkel nimmt W.T. Fitch in “The Evolution of Language” ein (2010, Cambridge University Press) Wer diesen Themen nachgehen möchte und es etwas interaktiver mag, dem sei die Konferenzreihe “Evolang – The Evolution of Language International Conferences” und der dahinter stehende Gen-, Mem-, und Brainpool mit den besten Erinnerungen freundlichst empfohlen. (Noch ein letzter Tipp mit Augenzwinkern: Man sollte sich dort nur nicht gleich beim ersten Besuch das Wort „Memetiker“ aufs Namensschild drucken lassen.)

        • Vielen Dank, lieber Frank, für diese Hinweise. “Evolution of Language” ist ja in der Tat seit einigen Jahren ein etabliertes Forschungsgebiet, übrigens auch experimentell-simulativ, ausgehend von den Arbeiten zu kommunizierenden Robotern von Luc Steels.

      • @Henning Lobin

        » Ich denke auch, dass Sprache und Sprachen ein interessanter Anwendungsfall der kulturellen Evolution ist…«

        Auch hierbei kommt es darauf an, was man unter „Evolution“ versteht. Und unter „kulturell“ …

        Das Sprachvermögen ist ein strikt biologisches Phänomen. Auch der „Zwang“, in den ersten Lebensjahren eine Sprache erwerben zu müssen, ist biologisch begründet. Der Lernprozess ist ebenfalls ein rein biologischer Vorgang. Was wohl nicht direkt biologisch vorgegeben und erklärbar ist, ist das jeweilige spezifische Muster der sprachlichen Äußerungen. Soll heißen, das Kind erwirbt (zuvörderst) die Muttersprache.

        Dennoch meine ich, dass es keineswegs von vorneherein klar ist, dass eine Sprache als etwas genuin Kulturelles, als ein Kulturprodukt zu betrachten ist. Geschichten und Lieder hingegen scheinen mir rein kultürlich begründet zu sein. Eigentlich müsste es, da es um eine kulturelle Evolution gehen soll, um die Evolution von Erzählungen und dergleichen gehen. Und da bin ich gespannt, welche Evolutionsmechanismen man hier festgestellt werden können.

        NB: Im englischen Sprachraum tut man sich viel leichter mit dem Gebrauch des Begriffs „evolution“, denn damit muss keineswegs die Evolution im biologischen Sinne gemeint sein. Da kommt es dann, wie so oft, auf den Kontext an.

        • Sie haben auf jeden Fall recht damit, dass Sprache auch biologische Voraussetzung beim Menschen besitzt. Insofern ist sie ein klassisches Beispiel für eine Koevolution im biologischen und kulturellen Sinne. Die biologische Sprachfähigkeit begrenzt zwar das, welche Laute der Mensch beispielsweise produzieren kann und welche nicht, das phonologische System einer Sprache wird dadurch aber nicht festgelegt. Genauso sieht es mit kognitiven Rahmenbedingungen aus. Aber gilt das nicht auch für sehr viele andere Entwicklungen? Welche Entwicklungen finden denn überhaupt statt, die nicht auch nicht-biologische, oftmals spieltheoretisch zu fassende Parallelentwicklungen besitzen?

          • @Henning Lobin

            : »Sie haben auf jeden Fall recht damit, dass Sprache auch biologische Voraussetzung beim Menschen besitzt.«

            Das trifft nicht das, um was es mir bei meinem Einwurf eigentlich ging. Biologische Voraussetzungen gibt es (naturgemäß) bei allen menschlichen und tierlichen Aktivitäten und Handlungen. Das ist nicht mein Punkt.

            Ich wollte auf den Unterschied zwischen der bloßen Sprache (wie etwa Deutsch oder Französisch) und den mittels einer Sprache verfassten Werke hinaus.

            Wo endet denn Ihrer Meinung nach die Natur, und wo beginnt die Kultur? Ich würde die Grenze z. B. zwischen einer Sprache wie etwa Deutsch und einem in deutscher Sprache verfassten Gedicht ziehen. Wenn man das nämlich tut, kann man auf das schreckliche Konstrukt „Gen-Kultur-Koevolution“ verzichten. Welches phonologische System im Rahmen der biologisch möglichen Lautbildungen jeweils benutzt wird, könnte man vielleicht vergleichen mit den tradierten Melodien beim Gesang bestimmter Vögel. Epigenetische Vererbung (Weitergabe von Eigenschaften/Fähigkeiten per Tradition) ist in meinen Augen noch kein Kulturgut.

            Denn ob sich ein universeller Evolutionsbegriff, der alles umfasst, vom Urknall bis zum G7-Gipfel, überhaupt wissenschaftlich fundiert formulieren lässt, ist ja noch völlig offen.

            Oder findet sich im Buch von Gerhard Schurz (Evolution in Natur und Kultur) eine solche Begriffsbestimmung? Der Titel legt ja nahe, dass er einen Evolutionsbegriff kennt, der sowohl auf blinde Naturereignisse als auch auf menschliche Handlungsfolgen passt.

        • @ Balanus

          “Im englischen Sprachraum tut man sich viel leichter mit dem Gebrauch des Begriffs „evolution“, denn damit muss keineswegs die Evolution im biologischen Sinne gemeint sein. Da kommt es dann, wie so oft, auf den Kontext an.”

          Ich fürchte, wenn Du dem englischen Sprachraum angehören würdest, dann würde man es dort auch nicht mehr leicht haben mit dem Begriff “evolution”. Genaugenommen ist es ja auch im Deutschen schon so, dass Evolution nicht immer im biologischen Sinne gemeint sein muss. Auch hier kommt es, wie eigentlich immer, auf den Kontext an.

          Ich schätze, das Mem, dass die Verwendung des Begriffs Evolution einen biologischen Kontext impliziert, gehört nicht zu den überlebensfähigen.

          • Denn wenn schon der Mensch nicht unmittelbar vom Schöpfer geschaffen wurde, dann ist er wenigstens das Ergebnis eines klug angelegten Evolutionsgeschehens. Damit kann man leben…

          • Ich würde weder von “Ergebnis”, zu final, noch von “klug”, zu positiv, noch von “angelegt”, vermutlich falsch, reden. In allem anderen stimme ich Dir aber zu.

            Ist dir schon aufgefallen, dass im Gegensatz zu Genen, einige Meme kurzlebiger sind als ihre Wirte? Ich glaube, das nennt man Lernfähigkeit, und findet man sowohl bei Kulturen als auch bei Individuen.
            .

          • Ja, mit der Gen-Mem-Analogie ist es wohl nicht allzu weit her.

            Davon ab, Kulturwissenschaftler haben ja Recht, wenn sie sagen, ihr Biologen seit selber schuld, wenn ihr für den von Darwin beschriebenen Prozess der Transmutation der Arten den Begriff „Evolution“ übernehmt, jetzt seht zu, wie ihr damit klarkommt.

            Und es gibt ja durchaus auch Biologen und andere Naturwissenschaftler, insbesondere in der Physik, die dem Evolutionsgedanken im kulturwissenschaftlichen Sinne sehr positiv gegenüberstehen.

            Den heutigen Mensch als Zwischenergebnis eines in seiner Weisheit unbegreiflichen Schöpfungsprozesses auf dem Weg zur göttlichen Erkenntnis zu begreifen, ist sicherlich weniger kränkend, als ihn als bloßen Zufall der Natur zu sehen.

  2. Biologische und Mem-Evolution sind doch gekoppelt, auch wenn Dawkins diese Verbindung nicht anerkennen will – wahrscheinlich deshalb nicht anerkennen will, weil die Meme sonst ihre Eigenständigkeit verlieren. Ein gutes Beispiel findet sich gerade in folgendem:

    Dawkins selbst hat den memetischen Ansatz genutzt, um kulturelle Phänomene wie die Religion zu erklären. Er meint in Religionen einen Beweis dafür zu sehen, dass Mem-Komplexe beziehungsweise „Memplexe“ sich selbst reproduzieren und dabei kulturelle Effekte hervorbringen, ohne dass es dafür einen evolutionären Zweck im biologischen Sinn gibt.

    Der grössere Kinderreichtum der Religiösen transportiert ja nicht nur das Mem Religion, sondern auch den Genkomplex Mensch.

    Es gibt aber noch viel mehr derartiger Mem-/Genbeziehungen. So beobachten wir gerade im Bereich der technischen Gadgets, der jetzt so boomt, dass sich nur wenige davon durchsetzen vielen aber die Akzeptanz fehlt. Mir scheint das liegt oft daran, dass die Gadgets, die nicht aufgenommen werden, nicht optimal auf die auch genetisch determinierten Wahrnehmungs- und Kognitionsabläufe abgestimmt sind oder weil sie sozial unerwünschte Auswirkungen haben wie das bei der Google-Brille der Fall war.

    • Ergänzung: Technische Gadgets sind zwar selbst keine Meme, aber sie knüpfen an Meme an, wenn man auch kulturell bestimmte Gebräuche und kulturell geformte Rituale der Kontaktaufnahme und Kommunikation (Wie man lobt, straft, um einen Partner wirbt, Anteilname zeigt) zu den Memen zählt. Soziale Medien wie Facebook beispielsweise haben eine Funktion “anstupsen” und verschiedene Formen der Benachrichtigung, die sich an Gepflogenheiten anlehnen, die in der westeuropäischen Kultur gang und gäbe sind.
      Fazit: weder sind Meme eine Welt für sich ohne Verbindung zur Biologie und Evolution, noch sind Gadgets und Erfindungen eine abgeschlossene Welt für sich. Vielmehr ist alles mit allem verbunden

    • Die Tatsache, dass es eine gegenseitige Beeinflussung von Genen und Memen geben kann, bedeutet nicht, dass sie in jedem Fall zwingend miteinander verbunden sind. Die Gen-Mem-Interaktion wurde von Blackmore sehr intensiv untersucht (dt. Blackmore, Susan J. (2005). Die Macht der Meme oder die Evolution von Kultur und Geist. München, Heidelberg: Elsevier, Spektrum). Ich denke, dass z.B. das Gebiet die Technikgeschichte viele Beispiele einer “reinen” kulturellen Evolution bietet, also einer Entwicklung, die sich nicht auf die biologische Fitness von Mensch direkt auswirkt. Wenn man z.B. die Entwicklung von Fluggeräten betrachtet, ist das ein Trial-and-Error-Prozess, der sehr deutliche Merkmale einer evolutionären Entwicklung besitzt. Für mich ist das ein Prozess, der nichts mit der evolutionären Entwicklung von Menschen als biologischen Wesen zu tun.

      • Zustimmung: evolutionäre Prozesse gibt es auch unabhängig von Biologie und Genen in vielen Bereichen, nicht nur bei den Memen. Wenn immer Reproduktion, Variation und Selektion eine Entwicklungslinie formen kann man von einem evolutionären Prozess sprechen. Eine Idee, die die Grundlage des universellen Darwinismus ist. Jede Form von Leben wie auch immer, ob biologisch wie auf der Erde oder extraterrestrisch mit einer anderen Lebenschemie, wird sich nach evolutionären Prinizipen weiterentwickeln. Es sind aber auch zukünftige vom Menschen geschaffene technische Systeme denkbar, die sich selbständig reproduzieren und evolutiv weiterentwickeln.
        Evolution im weiteren Sinn ohne echte Lebensähnlichkeit gibt es aber gemäss universellem Darwinismus ebenfalls. Ein prominentes Beispiel ist Wojciech Zurek’s Quantendarwinismus, das die Beziehung zwischen Quantenwelt und klassischer Welt beschreibt und dazu den Begriff des Pointer States eingeführt hat. Dieser Pointer State ist ein Quantenzustand, der den Übergang zur klassischen Realität beschreibt. Der Quantendarwinismus sieht die Entwicklung dieser Pointer States entsprechend den folgenden 3 evolutiven Regeln:
        1. Reproduction/Heredity => Numerous copies are made of pointer states
        2: Selection; => Successive interactions between pointer states and their environment reveal them to evolve and those states to survive which conform to the predictions of classical physics within the macroscopic world.
        3. Variation => Pointer states evolve in a continuous, predictable manner, that is descendants inherit many of their traits from ancestor states

  3. Was ist die memetische Entsprechung zur DNA. Wo werden die Meme abgespeichert, damit sie später reproduziert, variiert und selektiert werden können.? Wo sind also kulturelle Entwicklungslinien oder Entwicklungslinien von Autos, Flugzeugen, Brettspielen, Reiseführeren, Musikstilen wie dem Jazz oder Pop abgespeichert. Die naheliegende Antwort:
    1) In Büchern, technischen Manuals, Lehrvideos etc.
    2) In den Objekten selbst, die Teil der evolutiven Entwicklung sind, also in Autos, Flugzeugen, Brettspielen, Jazzkompositionen und Jazzaufnahmen auf Platten etc.
    3) In den Köpfen der Kunden der Meme. Ein engagierter Autobesitzer besitzt mit dem Auto ja nicht nur einen Gegenstand sondern auch die Verkörperung einer Idee, die Verkörperung eines Mems. Auch er denkt sein Auto weiter, hat selber Verbesserungsvorschläge, die zu Variationen führen können.
    Diese Aufzählungen zeigen, dass Variation,Selektion und Speicherung von Daten, die zu nichtbiologischen evolutionären Prozessen gehören, ohne den Mensch und seine kognitiven Prozesse undenkbar sind.
    Der entscheidende strukturelle Unterschied zwischen genetisch getriebener Evolution und memetisch getriebener Evolution und anderen Formen der kulturellen und technischen Evolution (genetische Algorithmen, evolutionäre Robotologie) ist das Agens, das die Evolution vorantreibt. Meme und genetische Algorithmen führen letztlich kein wirkliches Eigenleben, denn ohne Menschen würde es sie nicht geben. Der Mensch erfindet innerhalb der Entwicklungslinie des Pop den Rap und nicht der Zufall allein. Damit ist es das menschliche Hirn, sind es kognitive Prozesse, die diese nichtbiologischen evolutionären Prozesse antreiben. Das ist so, weil nur die biologische Evolution automatisch abläuft nicht aber die kulturelle Evolution. Ohne Eingriffe eines denkenden Wesens kann es neue Lebensformen aber keine neuen Autos geben. Alle nichtbiologischen Formen der Evolution brauchen den Menschen als Agens. Bis jetzt mindestens. Spätere technische Systeme könnten eventuell über Mechanismen versehen die eine Evolution ohne Mensch, ohne denkendes Wesen ermöglichen. Beispiel: Vielleicht gibt es in Zukunft Strassen, die sich selber bauen, selber flicken und selber weiterentwickeln – und das aufgrund einer eingebauten “Strassenlogik” und kaum vom Menschen überwacht. Strassen sind allerdings nur sinnvoll, wenn sie den menschlichen Bedürfnissen entsprechen. Deshalb sind sie nicht die ideale Platform für einen eigenständigen evolutionären Prozess. Ein besseres Beispiel wäre ein technisches System von aktiven Raumflugzeugen, und zugehörigen Unterhaltsmaschinen, das sich über unsere Galaxie verbreiten will, indem es auf jedem Himmelskörper die nötigen Ressourcen für die Resie im interplanetaren und interstellaren Raum beschafft. Solch ein System könnte sich evolutionär weiterentwickeln und damit mit Situationen fertigwerden, die bei seiner Konzeption noch nicht vorgesehen waren.

    • @ Herr Holzherr :

      Der entscheidende strukturelle Unterschied zwischen genetisch getriebener Evolution und memetisch getriebener Evolution und anderen Formen der kulturellen und technischen Evolution (genetische Algorithmen, evolutionäre Robotologie) ist das Agens, das die Evolution vorantreibt.

      Das von Erkenntnissubjekten per se unverstanden zu bleibende ‘Agens’, korrekt; nett ist die Dawkinsche Metaphorik natürlich schon, dass der Mann auch politisch etwas zu sagen hat, rundet seinen Verstoß / seine Analogien ab.
      D. hat aber wohl die Memetik halbwegs ernst gemeint.

      MFG
      Dr. W

  4. Dawkins hat mit seiner Memetik eine biologistische Sicht auf die Kultur vorgeschlagen, was ihm als biologische Fachkraft möglich war, Terminologien inbegriffen, und auch recht cool ist, aber nicht der Sache angemessen.

    Die Erkenntnis als wichtiger Bestandteil einer aufklärerischen Kultur kann übrigens als “n:m”-Beziehungen zwischen erkennenden Subjekten und Sachen wie Sachverhalten / Sachbeziehungen verstanden und verwaltet werden, persistierte Sichten inkludierend, biologistisch ist hier nichts zu machen.

  5. Kulturevolutionäre Entwicklungen sind heute auch quantititativen Analysen (big data, deep learning zur Musterextraktion) zugänglich wie der arxiv-Artikel The Evolution of Popular Music: USA 1960-2010zeigt.
    Dabei wurden die Songs der US Billboard Hot 100 mit Softwaretools wie Musical Information Retrieval, text mining tools ausgewertet und schliesslich klassifiziert.

    Finally, we investigate whether pop musical evolution has been gradual or punctuated. We show
    that, although pop music has evolved continuously, it did so with particular rapidity during
    three stylistic revolutions” around 1964 [american revolution, beatles], 1983 [synthesizer, samplers and drum machines] and 1991 [rap, hip-hop]. We conclude by discussing
    how our study points the way to a quantitative science of cultural change

    • Bob Dylan ist seinerzeit stark vorgeworfen worden, die akustische Gitarre weggelegt und durch ein elektrisches Gerät ersetzt zu haben, auch dbzgl. ließe sich, eine geeignete IT-basierte Algorithmik vorausgesetzt, post festum, äh, feststellen, auch heute noch.
      Dass die seinerzeit (so um 1967 beginnend und im “Westen”) angestrebte sozialistische Revolution, der Schreiber dieser Zeilen, der Webbaer, war dabei, vielleicht schon gescheitert war, zumindest: musikalisch.

      Janis Joplin hat’s in dieser Phase mal mit

      I’d like to do a song of great social and political import,

      im Intro angedeutet, ihr ‘Mercedes Benz’. (1970, so ab 1971 war den allermeisten klar, dass die Revolution nicht kommen wird, im “Westen”):
      -> https://www.youtube.com/watch?v=Qev-i9-VKlY

      MFG
      Dr. W

  6. Ich halte die Memetik für eine interessante Metapher – nicht weniger, aber auch nicht mehr. Empirisch ist es nie gelungen, den Begriff “Mem” zu operationalisieren, weswegen auch das “Journal of Memetics” nach Jahren ohne eine einzige Studie wieder eingestellt wurde.

    Nach den Regeln empirischer Forschung ist Dawkins auch hier schlicht gescheitert – ein anregender Autor bleibt er m.E. dennoch…
    https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/richard-dawkins-mein-held-der-metapher/

  7. Der entscheidende Unterschied liegt vielleicht darin, dass die “Besamungsprozesse” bei Gen und Mem ganz unterschiedlich sind. Meme müssen immer aktiv erworben werden, und aus Schule und Lehre weiß man, dass dies nicht einfach nach dem Sender-Empfänger-Modell geschieht, wobei das Gen quasi die Position einer Ursache hat, die zu einer definierten Folge führt. Vielmehr ist dem Mem nie garantiert, dass es so empfangen wird, wie es ausgesendet wurde (eher im Gegenteil).
    Interessant ist aber vielleicht noch ein anderer Punkt. Wenn man diese griffige Analogie gerne nutzen möchte, dann müsste man doch zunächst einmal sagen, dass das Gen ein winziger Nucleus, fast nur eine “Botschaft”, aus dem dann alles andere Konkrete heruswächst. So betrachtet ist nicht alles ein Mem, was in einer Traditionslinie steht, sondern nur das, was die Bildung der Traditionslinien ermöglicht bzw. bestimmt. Die Meme unserer Kultur sind dann eben nicht alle möglichen bestimmten Erscheinungen, also eben gerade nicht der Inhalt einer Religion (das wäre schon mehr Phänotyp), sondern…? Schwierig. Wenn man daran denkt, dass das Neugeborene als Erste und erstaunlichste Lernleistung den Spracherwerb meistert und dieser Transfer noch bis in feine Details gelingt (Phonetik, typische Redensarten, grammatische Logik etc.), könnte man vermuten, es gibt zum biologischen Gen als Gegenstück im kulturellen Raum nur einen Nucleus, und das ist die Sprache, an der dann alles Weitere hängt (Wissensvermittlung, Weltbilder, Religion etc.).

    • Ein Unterschied besteht darin, dass die Genetik eine Datenhaltung meint, die replizierbar ist, und das sogenannte Mem eine Idee, die nicht direkt biologisch repräsentiert scheint.
      Wenn das Leben als Spiel betrachtet werden kann, müsste das “Mem” eine Art Strategem oder vielleicht besser Theorem sein, um individuell fortzukommen, letztlich auch die replizierende Genetik meinend.

      Spieltheoretisch betrachtet werden derartige Theoreme individuenseits miteinander korrelliert, um in Trial & Error-Prozessen in ihrer Korrelation abgeglichen zu werden, bis dann eine Art Gesamtbild auf Seiten des Spielenden entstanden ist.
      Das aber letztlich unklar bleibt und dem Wettbewerb untergeordnet, nicht entscheidend erfassbar, auch wissenschaftlich nicht.

      Ansonsten, das Neugeborene lernt zuerst anderes als die Sprachlichkeit, von Dawkins gemeinte Meme scheinen eher eine Schicht zu sein, die die Kooperationsfähigkeit der Primaten meint, nicht unbedingt am Sprachlichen festzumachen ist, außer eben in der Betrachtung, weil es kaum anders mit wissenschaftlichem Anspruch geht.

      Insofern kann auch in einer wissenschaftlich ernst gemeinten “Memetik” kaum etwas herauskommen, empirisch und von Herrn Dr. Blume dankenswerterweise und trocken berichtet.

      Wobei die memetische Idee ihren Charme behält.

      MFG
      Dr. W

    • Ein interessanter Gedanke! Und neurolinguistisch auch recht gut erforscht. In Analogie zum Gen als selektierbarem Abschnitt auf der DNA könnte man hier ein neuronales Teilnetz ansetzen, dass “kommunizierbar” ist. Dies gilt vor allem für sprachliche Einheiten.

  8. Im Beitrag heißt es:

    »Meme sind kulturelle Zeichen, und durch Übertragung des Modells der biologischen Evolution auf Meme, wie sie Dawkins vorgenommen hat, besitzen wir nun ein Instrument, um kulturelle Evolution zu verstehen.«

    Ich denke nicht, dass der Mem-Begriff das leisten kann. Es wird schon seine Gründe haben, warum Dawkins diese Idee (er spricht in seinem Uhrmacher-Buch von einer „Spekulation“) nicht weiter verfolgt hat. Wie sollte auch die Einführung eines neuen Begriffs für „Ideen, Geschichten, Melodien, Motive“ usw. einen kulturwissenschaftlichen Mehrwert bringen.

    Man müsste überhaupt erst mal zeigen, ob „Kulturen“ sich in ähnlicher Weise, nach den gleichen Prinzipien und genauso ohne Ziel im Laufe der Zeit verändern, wie es bei Organismen allgemein und natürlich auch bei Homo sapiens, dem Träger der Kulturen, der Fall ist.

    Auf jeden Fall hat sich Dawkins‘ „Mem“-Mem sehr erfolgreich in unserer Kultur verbreitet, und es sieht derzeit nicht so aus, als würde es alsbald wieder aus den Köpfen verschwinden.

    Und genau wie Gene unterliegen Meme Mutationen:…

    Nun, bei einem Gen kann man genau feststellen, an welcher Stelle nach der Weitergabe eine Veränderung stattgefunden hat. Bei einem „Mem“ ist das prinzipiell nicht möglich. Nicht nur, weil „Meme“ substanzlos sind, es liegt an dem grundlegenden Prinzip, wie diese Veränderung erfolgt, nämlich durch die Weitergabe des „Mems“ selbst: Jeder Betrachter, der sich ein „Mem“ sozusagen anschauen möchte, sieht immer bloß jene Mutation, die er durch die Aufnahme des „Mems“ selbst erzeugt hat. Wie soll man bei solchen „Eigenschaften“ dieses Instruments „Meme“ überhaupt irgendetwas Fundiertes über die Prinzipien der „Evolution“ der Kulturen erfahren können? Haben sich Erkenntnistheoretiker schon mal mit dieser Frage befasst?

    Und überhaupt, was heißt hier „Evolution“? Damit kann doch nur der ursprüngliche Evolutionsbegriff aus den Kulturwissenschaften gemeint sein, als man noch unter Evolution die Höherentwicklung der Kulturen verstand, vom Einfachen zum Komplexen. Wie es ja auch hier in einigen Kommentaren angeklungen ist.

    In der Biologie hat sich die Bedeutung des Begriffs „Evolution“ komplett gewandelt. Die wenigen Entwicklungslinien zu den „höheren“ rezenten Arten gelten hier keineswegs als typisch für das Evolutionsgeschehen. Typisch ist vielmehr der ziellose Wandel, das Entstehen und Vergehen von Lebensformen. Die treibende Kraft beim kulturellen Wandel hingegen ist praktisch immer das Streben nach einer Verbesserung. Ob sie dann auch gelingt, steht auf einem anderen Blatt.

    Man kann nur darüber staunen, wie unbekümmert und naiv manche Kulturwissenschaftler ihren überkommenen Evolutionsbegriff erst auf den biologischen Wandel der Arten anwenden, und dann, im zweiten Schritt, unter Verweis auf die Biologie, wieder auf kulturelle Entwicklungen.

    Danke für den anregenden Beitrag, Herr Lobin!

    • @ Bal :

      Auf jeden Fall hat sich Dawkins‘ „Mem“-Mem sehr erfolgreich in unserer Kultur verbreitet, und es sieht derzeit nicht so aus, als würde es alsbald wieder aus den Köpfen verschwinden.

      Von dem, was übrig geblieben ist, von dem was Richard Dawkins einstmals, als junger Mensch und mit wissenschaftlichem Anspruch, meinte, bleiben halt “Strategeme” oder “Theoreme” zu nennen, die weiter oben von Ihrem Kommentatorenfreund versucht worden sind, auch im kulturalistischen Sinne, zu beschreiben.
      Weil wohl niemand gerne Strategeme und Taktiken, oder Theoreme verwendet, bleiben halt die sogenannten Meme im Sprachgebrauch.
      Nichts Schlechtes daran, wenn’s wohlverstanden bleibt.

      ‘Viral’ verbreitet sich ja auch zunehmend, zwar ein wenig dull, aber machbar.

      MFG
      Dr. W

    • Bitteschön, sehr gern!

      Ich denke, dass die Sprachentwicklung ein kultureller Bereich ist, in dem evolutionäre Prozesse inzwischen genau nachzuvollziehen sind. Sprachgeschichte und Sprachtypologie beschäftigen sich eigentlich seit langem genau damit. Auch das ziellose Driften von Sprachen – im Gegensatz zu einer “Höherentwicklung”, die ja sowieso immer eine Interpretation darstellt – kann man in früheren Sprachstadien erkennen. So schwierig das Konzept des Mems im allgemeinen zu fassen ist, so geradlinig lässt sich das Konzept auf linguistische Phänomene übertragen. Ich stimme Ihnen zu, dass in den Kulturwissenschaften oftmals naturwissenschaftliche Theorie sehr unbekümmert übernommen werden. Aber nicht ohne Grund gilt die Linguistik als die “Mathematik der Geisteswissenschaften”.

  9. Mem ist ein formeller und kein wissenschaftlicher Begriff – für das zweite ist er zu wenig präzis. Gemeint ist mit Mem ein Bewusstsein->Transposom, also ein Bewusstseininhalt der wandern kann, der – modisch – vielleicht als viral bezeichnet werden kann. Der Begriff Mem ist selbst ein Mem wie Balanus oben schreibt: “Auf jeden Fall hat sich Dawkins‘ „Mem“-Mem sehr erfolgreich in unserer Kultur verbreitet, und es sieht derzeit nicht so aus, als würde es alsbald wieder aus den Köpfen verschwinden.”

    Eine kulturelle oder technische Evolution gibt es aber, ob man dafür das Wort Mem und Wörter aus seinem Umfeld wie Memkomplex dafür verwenden will oder nicht.

    Balanus lehnt die Analaogie zwischen Mem und Gen ab – unter anderem weil beide Begriffe fälschlicherweise oft mit Höherentwicklung in Zusammenhang gebracht werden.

    Evolutionären Wandel gibt es aber heute sowohl in Gesellschaft, Technik als auch Kultur. Das evolutionäre Prinzip wurde inzwischen sogar in der Ökonomie und als Modell für Firmen, die neue Produkte lancieren will, entdeckt. Eine solche Firma bringt Produkte von Beginn weg nicht als abgeschlossen auf den Markt sondern als Kondensate des Moments. Einflussfaktoren wie die technische Entwicklung und die Marktresonanz führen dann zu Variationen der Produkte und zu Abstufung/Profilgebung der Produkte für unterschiedliche Kundenkreise. Man sollte hier nicht von Höherentwicklung sprechen, denn die Produktlanciereungen sind in erster Linie Reaktionen auf die sich wandelnde Umgebung und sich wandelnde Kundenbedürnisse.

    Der evolutionäre Ansatz scheint mir wichtig als Alternative zu rein planmässigem Vorgehen. Er enthält das Zugeständnis, dass jeder Akteur in dieser Gesellschaft nur über beschränktes Wissen verfügt und dass sich das was sich materialisiert anpassen und ändern können muss. Nichts ist für die Ewigkeit gemacht. Ja kaum etwas ist für die Lebenszeit eines Bürgers unserer Gesellschaft fixiert. Das war schon immer wahr. Früher aber war die Antwort darauf der brutale Umbruch, waren es Revolution/Krieg, sich zuspitzende Krisen. die zu einem Kollaps führten. Der evolutionäre Ansatz will dagegen ständig auf Kräfte von aussen und innen reagieren und ein anpassungsfähiges, resilientes System schaffen.

    • Evolutionären Wandel gibt es aber heute sowohl in Gesellschaft, Technik als auch Kultur. Das evolutionäre Prinzip wurde inzwischen sogar in der Ökonomie und als Modell für Firmen, die neue Produkte lancieren will, entdeckt.

      Evolution meint die Umwälzung oder Die-Aus-Sich-Heraus-Wälzung, wenn die Ursächlichkeit hierfür nicht bekannt ist oder nicht verstanden werden kann.
      Zu Zeiten der Hanse ist dementsprechend gehandelt worden, bspw. den Schiffbau betreffend auch Neuerungen beachtend und Märkte berücksichtigend, deren sozusagen evolutionäre Entwicklung.

      Irgendwer hat mal ‘panta rhei’ festgestellt. Die Kladistik hat sich im biologisch-evolutionären Sinne um Ordnung oder Einordnung bemüht und insgesamt können mögliche Gründe wie sogenannte Ursachen von Entwicklung nur ex post festgestellt werden, nicht ex ante und nur spekulativ ex inter.

      Giraffen haben nicht deswegen einen langen Hals, weil sie so besser fressen können.

      Sondern weil es welche gibt, die ex post, spekulativ womöglich, derart festzustellen geneigt sind.

      Wäre konzeptuell mit einer wie auch immer gearteten Evolution etwas zu machen, gäbe es Software, die Unternehmen bereit stünde.
      Unternehmen stehen aber, aus welchen Gründen auch immer, ganz bevorzugt Analyse-Tools bereit für die Ex-Post-Nachbearbeitung.
      OLAP mit seinem Cubing wird demzufolge gerne auch zynisch oder Dilbert-mäßig bearbeitet.

      MFG
      Dr. W

      • Trend-Scouts, Futurologen, Interviews mit potenziellen Kunden können als Selektionsmechanismen für aktuelle und zukünftige Produkte dienen.
        Trend-Scouts und Futurologen können noch nicht durch Software ersetzt werden wie im folgendne Satz angedacht:
        “Wäre konzeptuell mit einer wie auch immer gearteten Evolution etwas zu machen, gäbe es Software, die Unternehmen bereit stünde.”

        • Unter den Futurologen oder Zukunftsforschern, Herr Holzherr, ist Ihrem Kommentatorenfreund bspw. ein Herr Horx aufgefallen, nein, im Ernst, die “Zukunft” wird ex post festgestellt, sollte es echte futurologische Kräfte geben, wären dies anzunehmenderweise Investoren wie Warren Buffet, die Entwicklungen auf Grund von allgemeiner Bildung und spezieller Einsicht antizipieren und dbzgl. wirtschaftlich auf Grund von eigenem Vermögen oder anvertrauten Kapitals umsetzen können.
          Auch deren Erfolg wäre letztlich im Ex Post zu bestimmen. [1]

          MFG
          Dr. W

          [1]
          Es gibt Leutz, die eine höhere Rendite-Erwartung haben, anuell sozusagen, hat aber nix mit Evolution zu tun.

          • Herauszufinden was angenommen wird ist aber gerade im Tech-Bereich enorm wichtig. Steve Jobs vertraute auf seine Instinkte plus einen von ihm und seiner Firma kreirten Hype. Das so verkündete Evangelium machte Apple-Produkte zu Hostien und den Einkauf im Apple-Shop zur Kommunion.

            Der Kunde als Selektor der Neukreation oder nur Variation eines in Hard-und Software gegossenen Mems muss nach der Vorstellung von Jobs und seinen Nachahmern hinreichend gechannelt werden, damit die Produkte den nötigen Status des Unverzichtbaren, Schönen und Guten erreichen.

    • @Martin Holzherr

      »Eine kulturelle oder technische Evolution gibt es aber, …«

      Klar, wenn man unter „Evolution“ schlicht „Entwicklung“ oder „Entfaltung“ versteht.

      Genau deshalb dürfte Darwin den kulturell geprägten Begriff „Evolution“ in seinem „On the Origin of Species…“ (1859) vermieden haben.

      Wer heute von einer kulturellen „Evolution“ spricht, meint mit „Evolution“ eben etwas anderes als den ziel- und sinnlosen Wandel der „Dinge“.

      • @ Bal :
        Es wird schon von einer Darwinschen Evolutionstheorie gesprochen und geschrieben, seine Natürliche Selektion, die biologisch nachweisbar ist, ist von D. irgendwann um den Terminus ‘Survival of the Fittest’ (eines anderen) ergänzt worden.
        Dass es hier mopsig [1] werden muss, liegt auf der Hand.

        Es müsste allgemein angebracht sein bspw. von natürlicher Entwicklung zu sprechen oder zu schreiben oder einfach von Entwicklung. [2]
        Eine Adjektivierung mit bspw. ‘evolutionär’ macht den Sachverhalt nur unnötig komplex, legt nahe, dass hier viel gesteuert werden kann & sorgt philosophisch für Angreifbarkeit.

        Wobei durch diese Aussagenmenge aber nicht das sinnhaft erscheinende Handeln Einzelner oder das von Mengen in Frage gestellt werden soll.

        MFG
        Dr. W

        [1]
        “Mops” = “möglicher Klops”, lautmalerisch, eine Metaphorik ausbauend

        [2]
        Es gibt zur Entwicklung natürlich noch andere Konzepte, bspw. theozentrische oder biozentrische; der “Führer”, dies eher spaßeshalber ganz am Rande angemerkt, hat regelmäßig von einer Vorsehung gesprochen.

      • Doch. Evolution impliziert ein erratisches Moment in einem System, das auf Umweltänderungen reagiert. Die kulturelle Evolution ist zwar nicht vollkommen ziel- und zwecklos, sie hat aber keinen vorgegeben Plan sondern ist ein unvorhersehbarer Prozess. Die sowjetische Planwirtschaft war dagegen nicht evolutiv sondern plangetrieben und auch den Endzustand der kommunistischen Gesellschaft, das sozialistische Paradies, wurde schon von Marx skizziert. Im Gegensatz dazu steht die offene Gesellschaft Karl Poppers, welche von Prinzipien wie der demokratischen Partizipation, der Kontrolle der Institutionen und der Korrektur von Fehlern geleitet wird. Auch Habermas Gesellschaftsmodell im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns ist in ihrer Entwicklung unvorhersebar. Sie wird vom Prinzip des ständigen Dialogs zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft geleitet.

        Schon Darwin scheint den Begriff Evolution nicht auf die biologische Evolution beschränkt zu haben, er sah das evolutive Prinzip auch an anderer Stelle wirksam wenn auch nicht auf genau dieselbe Art wie bei der biologischen Evolution.
        Ein evolvierendes System hat keinen ohne weiteres erkenntnlichen Endzustand auf den es hinstrebt. Es befindet sich im allgemeinen fern vom Gleichgewicht (das Gleichgewicht ist bei evolvierenden Systemen der Tod), hat selbstorganisierende, selbsterneuerende und selbst reproduzierende Kräfte, ist aber offen für Änderungen. Evolutive Systeme sind dynamische Systeme und sind als solche auch gefährdet von der Möglichkeit zu sprunghaften irreversiblen Änderungen, die sich wie Phasenübergänge darstellen.
        Auch das biologische Leben ist ein evolvierendes System. Das biologische Leben hat aber Eigenheiten, die man in anderen evolvierenden Systemen nicht findet. Insbesondere die Abwesenheit von höherer Intelligenz als Triebfeder für die Evolution kennzeichnet die biologische Evolution.

        • @ Herr Hoizherr :

          Die sowjetische Planwirtschaft war dagegen nicht evolutiv sondern plangetrieben (…) Im Gegensatz dazu steht die offene Gesellschaft Karl Poppers, welche von Prinzipien wie der demokratischen Partizipation, der Kontrolle der Institutionen und der Korrektur von Fehlern geleitet wird. Auch Habermas Gesellschaftsmodell im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns ist in ihrer Entwicklung unvorherse[h]bar.

          Die bolschewistische politische Ordnung und Wirtschaftsordnung gab an nicht mehr Entwicklungen im in dieser kleinen Auseinandersetzung gemeinten Sinne zu folgen, sondern zu planen, weil die gesellschaftliche Entwicklung als überwunden galt.
          Sie blieb aber ‘evolutiv’, sie oder die an führender Stelle Beteiligten, in concreto sei hier zumindest der “Generalsekretär” genannt, planten nicht nur.
          Chruschtschow, nur ein scheinbarer Post-Stalinist, war bspw. erfreut, dass er nicht ins Jenseits befördert worden ist, wie er eigentlich erwartet hatte nach der Machtabgabe.

          Popper und im Günstigen auch Habermas, H. war nicht immer günstig unterwegs, dezent formuliert, meinten mit der Diskursivität der Gesellschaft das Selbe, H. zumindest nicht in jedem Fall die sogenannte Offene Gesellschaft.

          [Gleichgewicht]
          Auch das biologische Leben ist ein evolvierendes System. Das biologische Leben hat aber Eigenheiten, die man in anderen evolvierenden Systemen nicht findet. Insbesondere die Abwesenheit von höherer Intelligenz als Triebfeder für die Evolution kennzeichnet die biologische Evolution.

          Gleichgewichtstheorien sind eher etwas für die anderen, bspw. für den hiesigen Anthropozäniker, der seinen Angaben zufolge wohl Vernunft und Biozentrismus versöhnen will, GL an dieser Stelle, abär, warum sich der Schreiber dieser Zeilen noch ganz kurz bei Ihnen meldet:
          Das ‘biologische Leben’ schließt den Primaten ein und Ihr Kommentatorenfreund würde nicht nach Spezifika suchen wollen, die Evolution eine andere Triebfeder verleiht als die (natürliche) Entwicklung.

          MFG + bis demnächst,
          Dr. W

        • @Martin Holzherr

          »Evolution impliziert ein erratisches Moment in einem System, das auf Umweltänderungen reagiert.«

          Da haben wir es wieder, „Evolution“ verstanden als ein besonderer, dynamischer Entwicklungsprozess eines Systems, ein Prozess mit einem „erratischen Moment“. Wenn wir uns die Entstehungsgeschichte der Arten ankucken, dann meinen wir, ein bestimmtes Muster zu erkennen, und dieses Muster wird dann auf alles Mögliche übertragen. Oder eben umgekehrt, wir sehen ein Muster in den dynamischen Veränderungen irgendeines künstlichen Systems, und übertragen das dann auf die Natur.

          In der Natur geschieht Evolution, weil die Weitergabe der genetischen Information, die die Entwicklung der Organismen steuert, nicht perfekt ist.

          Im Begriff „genetische Information“ steckt der kulturell geprägte Begriff „Information“. Dawkins‘ Gedanke war wohl, wenn es denn eine kulturelle Evolution analog zum natürlichen Geschehen in der Natur tatsächlich gibt, dann brauchen wir etwas, was der genetischen Information analog ist. Mit der Schaffung der Metapher „Mem“ hat er aber keineswegs gezeigt, dass das kulturelle Geschehen tatsächlich dem Naturgeschehen analog ist und beides mit Recht gleichermaßen als „Evolution“ bezeichnet werden kann.

          Erst wird mit Begriffen aus der Kultur die Natur erklärt, und dann entdeckt man, huch, in der Natur geht es ja zu wie in der Kultur. Mir kommt das alles reichlich zirkulär vor.

          »Schon Darwin scheint den Begriff Evolution nicht auf die biologische Evolution beschränkt zu haben,…«

          Bei der Entwicklung seiner später von anderen so genannten „Evolutionstheorie“ hat er den Begriff „Evolution“ aus gutem Grund vermieden. Das allein ist hier das Entscheidende, und genau das grenzt Darwins Theorie vom kulturellen Wandel kategorial ab.

          • “Dawkins‘ Gedanke war wohl, wenn es denn eine kulturelle Evolution analog zum natürlichen Geschehen in der Natur tatsächlich gibt, dann brauchen wir etwas, was der genetischen Information analog ist.”

            Ich habe Dawkins anders verstanden. In der Kultur gibt es ein Analogon zum egoistischen Gen, etwas das besteht, weil es sich erfolgreich repliziert. Ein Mem setzt sich in vielen Köpfen fest, es ist einprägsam, ein Ohrwurm, eine Helene-Fischer-Melodie. Ob man damit auch Bruckners Achte erklären kann, eine sorgfältig geplante Sinfonie, die in einer jahrhundertelangen Tradition wurzelt, ist eben fraglich.

            Ein Mem aus Bruckners Fünfter hat es allerdings über den Umweg der White Stripes in die Fußball Fankultur geschafft.

          • Genau: Evolution ist nicht identisch mit Kraft, die hinter der Entstehung der Arten steht. Sie widersprechen sich selbst, wenn sie zu Beginn ihres Kommentars den Begriff Evolution ablehnen weil er mit der Entstehung der Arten zu tun habe und am Schluss darauf hinweisen, dass Darwin den Begriff Evolution in seinem Hauptwerk vermieden hat.
            Die richtige Schlussfolgerung wäre: Evolution ist ein eigenständiger Begriff, der auch ohne die biologische Evolution schon einen Sinn ergibt. Evolution beschreibt ein dynamisches, autopoietisches System, welches sich an die Umwelt adaptiert und auf sie reagiert. Einige evolvierende Systeme sind sehr weit von der biologischen Evolution entfernt, zum Beispiel: Komplexe adaptive Systeme, Evolutionäre und Genetsiche Algorithmen, Evolution in der Kunst und der Musik.

          • @Jürgen Bolt

            » Ich habe Dawkins anders verstanden. In der Kultur gibt es ein Analogon zum egoistischen Gen, etwas das besteht, weil es sich erfolgreich repliziert.«

            Schon richtig, aber Ausgangspunkt seiner Überlegungen (gemäß seiner Ausführungen im Buch) war, dass es Kultur gibt, dass es kulturellen Wandel gibt, und dass Kultur weitergegeben wird analog zur Weitergabe der Gene.

            Also musste er etwas finden, was seinem egoistischen Gen, dem Replikator, entsprach, und das war dann die Geburtsstunde der „Meme“.

            Dawkins genügte, dass die Kulturen der Völker einem Wandel unterliegen, um von einer kulturellen Evolution zu sprechen. So, wie es primitive und komplexe Lebensformen gibt, so gibt es auch ebensolche Kulturen, muss man wohl annehmen. Er hat also nicht gezeigt, dass Kulturen tatsächlich im darwinschen Sinne „evolvieren“, sondern schlicht die „Meme“ erfunden, um damit die Behauptung von der Existenz einer kulturellen Evolution (analog zur biologischen!) zu unterfüttern.

            Ich frage mich wirklich, warum manche einen so großen Wert darauf legen, die kulturellen Entwicklungen oder Veränderungen als „Evolution“ zu bezeichnen. Wird dadurch irgendetwas klarer? Nein! Ist damit ein Hinweis auf die dem kulturellen Wandel zugrundeliegenden Mechanismen verbunden? Nochmals Nein!

          • @Balanus Ich erinnere mich nicht mehr genau an die Passage bei Dawkins, Du wirst da recht haben.

            Und daß ich Deine Kritik an der bio-kulturellen Koevolution zustimme, habe ich, glaube ich, schon mal gesagt. Wörtlich genommen ist der Begriff tautologisch, da die Kultur als Selektionsfaktor im biologischen Konzept von Evolution bereits enthalten ist.

            Ich denke, dieses Konzept dient dazu, postulierte Regeln aus der Biologie auf die Kultur oder umgekehrt zu übertragen. Und das ist heikel. Vor achtzig Jahren kam bei so etwas mal der Sozialdarwinismus heraus. Heute ist es eher ein Neo-Lamarckismus. Und zwischendurch eben mal ein Memismus, der behauptete, daß wir gar nicht so souveräne Kulturschaffende sind, wie wir uns einbilden, sondern nur Vehikel für Meme. Unsere Kultur wäre nicht primär zum Vorteil der in ihnen lebenden Menschen sondern zum Nutzen der Meme da.

            Mir scheint diese Idee eher intellektuell als intelligent. Intellektuell im Sinn von: ist bei Zimmertemperatur nicht betriebsfähig.

          • Unsere Kultur [ist] primär zum Vorteil der in ihnen lebenden Menschen […] da.

            Können Sie mir erklären, was das heißt? Woran machen Sie den Vorteil der Kulturbetroffenen fest, etwa bei der Kultur der Schutzgelderpressung oder der Kultur der Knabenbeschneidung gegenüber einer Welt, in der es diese beiden Kulturen nicht gibt?

          • @Ano Nym “Können Sie mir erklären, was das heißt?”

            Die Kultur der Schutzgelderpressung hat pekuniäre Vorteile für die (erfolgreichen) Schutzgelderpresser, die Kultur der Knabenbeschneidung moralische für die Beschneider (in deren moralischem Weltbild).

            Ich persönlich ziehe eine Kultur vor, in der es beides nicht gibt.

          • Lieber Herr Bolt, damit Sie mich nicht so missverstehen, wie es Ihre Antwort offenbart, hatte ich nach den Vorteilen für die Kulturbetroffenen, immerhin ja auch Menschen, gefragt.

            Sie hatten schließlich behauptet, Kultur sei zum Vorteil der, also aller, in ihr lebenden Menschen da.

            Ich wollte wissen, was der Vorteil für den Schutzgeldzahler und was derjenige für den von der Knabenbeschneidung betroffenen Knaben ist. Und zwar verglichen mit einer Welt, in der es diese beiden Kulturen nicht gibt.

            Ach halt, ich Dummerchen! Bevor Sie antworten können, ist mir die Antwort selbst aufgegangen: Beim Restaurantbesitzer, der an die Mafia zahlt, ist natürlich der Schutz der Vorteil, dessen er in einer Welt, ohne diese kulturelle Segnung, nicht teilhaftig werden würde. Steht ja schon im Namen: Schutz für Geld. Schutz ist gut, also Vorteil.

            Und beim Knaben ist es natürlich der Kollateralnutzen, deretwegen die Beschneidung zwar gar nicht unternommen wird, was aber den Begleitnutzen nicht hindert, wirksam zu werden. Und weil Nutzen auch gut ist, liegt also hier auch ein Vorteil vor.

            Jetzt die Millionenfrage: Was kann man sich für derartige Vorteile, die sich offensichtlich allem und jedem beilegen lassen, wissenschaftlich (Bitte mal in die Adresse schauen: “scilogs.de”) kaufen?

            Ich persönlich ziehe eine Kultur vor, in der es beides nicht gibt.

            m( An fehlenden Vorteilen kann das aber wohl nicht liegen. Es muss dann andere Gründe für Ihre Abneigung geben.

      • Evolution != Entwicklung+Entfaltung, Evolution = dynamisches, erinnerungsfähiges, adaptives System. Ein evolvierendes System verwendet Material aus seiner Vergangenheit und Gegenwart, variiert und rekombiniert es, wobei es auch auf seine Umwelt reagiert. Wenn ich schreibe kulturelle und technische Evolution meine ich damit nicht zwangsläufig “Höherentwicklung”, denn in vielen Bereichen gibt es kein höher oder tiefer. Die populären Musikstile etwa zeigen Umbrüche 1964 [american revolution, beatles], 1983 [synthesizer, samplers and drum machines] und 1991 [rap, hip-hop], doch davon zu sprechen Rap und Hip-Hop sei höher entwickelt als Musik davor, ist unpassend.

      • Ich denke, dass der Gedanke, dass es eine kulturelle Evolution gibt, durchaus verträglich ist mit dem Konzept der biologischen Evolution strictu sensu. Eine evolutionäre Entwicklung kann ja ohnehin nur als zielgerichtet interpretiert (bzw. missverstanden) werden, solange die Umweltbedingungen weitgehend konstant bleiben. Das Problem bei der kulturellen Evolution besteht darin, dass wir durch bestimmte kulturelle “Umweltbedingungen” geprägt sind und es uns sehr schwerfällt, in unserer Betrachtung der Welt von diesen abzusehen. Gleichwohl hat es ja immer wieder kulturelle Umbruchphasen gegeben, die die scheinbar zielgerichtete Entwicklung unterbrochen haben. Bestes Beispiel in unserem Kulturraum: der Übergang von der Antike ins Mittelalter. Auch in Teilbereichen sind eher beständige Anpassungsprozesse (an kulturelle Randbedingungen) zu verzeichnen als Weiterentwicklungen, beispielsweise im Bereich der Bekleidung.

        • Ergänzung zu: eine kulturelle Evolution ist mit dem Konzept der biologischen Evolution verträglich strictu sensu
          Phänomenologisch gibt es grosse Übereinstimmungen zwischen biologischer Evolution und der linguistischen Evolution oder der Evolution von Musikstillen. Das geht so weit, dass Linguisten oder Musikstilforscher Tools verwenden, die für die Erforschung der biologischen Evolution erstellt wurden. Im von mir weiter oben verlinkten arxiv-Artikel The Evolution of Popular Music: USA 1960{2010

          The contrast with evolutionary biology, a historical science rich in quantitative data and models is striking; the more so since cultural and organismic variety are both considered to be the result of modication-by-descent processes [ 15 { 18 ]. Indeed, linguists and archaeologists, studying the evolution of languages and material culture, commonly apply the same tools that evolutionary biologists do when studying the evolution of species.

        • @Henning Lobin

          »Eine evolutionäre Entwicklung kann ja ohnehin nur als zielgerichtet interpretiert (bzw. missverstanden) werden, solange die Umweltbedingungen weitgehend konstant bleiben.«

          Das verstehe ich jetzt nicht. Ich hätte es genau umgekehrt formuliert: Gerade wenn sich die Umweltbedingungen ändern, kann man möglicherweise beobachten, dass eine Spezies sich so verändert, dass sie mit den neuen Bedingungen klar kommt (vulgo, sich anpasst). Eben dadurch könnte der Eindruck einer zielgerichteten Veränderung entstehen.

          Themenwechsel, Frage: Wenn eine Gruppe von Menschen aus dem Mittelmeerraum aufbricht, um sich irgendwo im menschenleeren hohen Norden niederzulassen, findet dann mit Blick auf deren Bekleidung ein kultureller Evolutionsschritt statt? Ein Kulturevolutionstheoretiker müsste diese Frage eigentlich bejahen.

          Desgleichen in der Musikbranche, dort wäre die Erfindung des RAP ebenfalls ein Evolutionsschritt gewesen.

          Oder in der Politik Hitlers Machtergreifung: Einen drastischeren kulturellen Wandel, der damit verbunden war, kann man sich ja kaum vorstellen. Wollen wir das wirklich als Ergebnis eines evolutiven Prozesses begreifen?

          • Hitlers Machtergreifung

            “Der Ausdruck „Machtergreifung“ suggeriert, dass die NSDAP dem frei gewählten Parlament und dem Rechtsstaat die Macht gegen deren Willen und ausschließlich mit illegalen Mitteln entzogen habe. Tatsächlich jedoch hatte die NSDAP eine nicht unerhebliche Unterstützung in der Bevölkerung.” (Wikipedia)

          • »Eine evolutionäre Entwicklung kann ja ohnehin nur als zielgerichtet interpretiert (bzw. missverstanden) werden, solange die Umweltbedingungen weitgehend konstant bleiben.«

            Das verstehe ich jetzt nicht. Ich hätte es genau umgekehrt formuliert: Gerade wenn sich die Umweltbedingungen ändern, kann man möglicherweise beobachten, dass eine Spezies sich so verändert, dass sie mit den neuen Bedingungen klar kommt (vulgo, sich anpasst). Eben dadurch könnte der Eindruck einer zielgerichteten Veränderung entstehen.

            Beides ist gleichermaßen richtig. Bei einer Änderung der Umweltbedingungen wird erkennbar, wie evolutionäre Prozesse zu Anpassungen führen, durch die völlig andere Merkmale ausschlaggebend werden als unter den ursprünglichen Bedingungen, also scheinbar den “Bruch” einer zielgerichteten Entwicklung bewirken. Bleiben die Umweltbedingungen konstant, dann kann es aus einer Betrachterperspektive so aussehen, als ob eine Entwicklung hin zu einem Optimum stattfindet, eine nach und nach erfolgende “Verbesserung” von Merkmalen. Ich denke, dass wir uns im Einklang mit der Theorie aber alle weitgehend einig sind (in vielen Kommentaren ist das ja so zum Ausdruck gebracht), dass Evolution nie zielgerichtet abläuft.

  10. Hat eigentlich die “Mem-Theorie” wie sie von S. Blackmore z. B. propagiert wurde, jemals etwas in den Kulturwissenschaften erklärt, dass nicht auch andere Ansätze oder bestehende Theorien erklären konnten? Veröffentlicht in einer Fachzeitschrift und einigermaßen akzeptiert unter den entsprechenden Fachleuten? Wenn nicht, dann ist das Mem bisher nicht mehr als eine Metapher, wie Michael Blume oben schon angemerkt hat.

    • Man sollte die Memetik wohl tatsächlich als eine metaphorische Darstellung einer Theorie kultureller Evolution verstehen. Gerhard Schurz referiert in seinem Buch “Evolution in Natur und Kultur” eine ganze Reihe von Studien, die kulturelle Evolution empirisch untersuchen, die Arbeiten von Jared Diamond z.B. Diese lassen sich zumeist in eine memetische Interpretation “übersetzen”.

      • Die sogenannte Memetik ist natürlich auch ein Kind seiner Zeit gewesen, 1975 zeitgeistig entsprechend [1] und “progressiv”.
        Insgesamt völlig nutzlos, esoterisch bestenfalls, aber seinerzeit passend, wenn auch nicht ohne Charme.
        Einer althergebrachten Sprachlichkeit entgegenstehend, dem seinerzeitigen Bemühen entsprechend Geisteswissenschaften auszubreiten, auch ins Biologische gehend, auch politische Positionen zu besetzen – mit was auch immer.

        MFG
        Dr. W

        [1]
        An die Revolution, die bis ca. 1971 noch denkbar bis möglich war, bitte nicht lachen, der Schreiber dieser Zeilen war seinerzeit dabei, war da nicht mehr zu denken, traditions-linkes Gedankengut ist seinerzeit sukzessive durch neomarxistisches ersetzt worden.

        • Och, so nutzlos ist sie vielleicht doch nicht gewesen, wie man an dieser Diskussion sehen kann. Übrigens reproduzieren wir darin auch fleißig die Meme “Mem” und “Memetik”…

        • @ Herr Lobin :
          Die Alternative besteht darin in Kultur & Sprache zu denken wie zu kommunizieren.
          Die “Memetik” diente seinerzeit ideologisch dazu kulturwissenschaftlich abzubauen, zu biologisieren, so wie es damals Mode war (und heute im Neomarxistischen [1] nachwirkt, unabhängig davon, dass die “Memetik” wissenschaftlich als abgebaut eingeschätzt wird).

          Sie haben’s doch auch dankenswerterweise eher mit der Sprache & Kultur, werter Herr Lobin, oder?!
          MFG
          Dr. W

          [1]
          Beim Fachbegriff ‘Neomarxismus’, bspw. die sogenannte Memetik meinend, Aussagen wie diese (“nicht als Frau geboren”) und jene (“Im Deutschen gibt es kein generisches Maskulinum und die „generische“ Verwendung maskuliner Formen bringt keinen praktischen Vorteil mit sich.”), muss der Schreiber dieser Zeilen natürlich auch lachen.
          Der Fachbegriff bleibt aber, lol, zu nennen, ansonsten klappt’s mit dem Verständnis nicht, wenn wild vorgetragen wird.

          • Sie haben’s doch auch dankenswerterweise eher mit der Sprache & Kultur, werter Herr Lobin, oder?!

            Ja, hab ich – allerdings kann man gerade als Linguist eine Menge lernen, wenn man sich mal intensiver mit (der biologischen) Evolutionstheorie auseinander setzt.

  11. @Martin Holzherr (und andere)

    » Sie widersprechen sich selbst, wenn sie zu Beginn ihres Kommentars den Begriff [kulturelle] Evolution ablehnen weil er mit der Entstehung der Arten zu tun habe und am Schluss darauf hinweisen, dass Darwin den Begriff Evolution in seinem Hauptwerk vermieden hat.«

    Nein, tue ich nicht. Das Problem ist, dass der Begriff „Evolution“ dem Wortsinne nach nicht zum natürlichen Wandel der Lebensformen über Generationen hinweg passt. Das hat Darwin offenbar erkannt. Nun haben aber seine Zeitgenossen dieses naturhafte und sinnlose Geschehen mit dem Begriff „Evolution“ belegt, obwohl sich da überhaupt nichts „entwickelt“. Daraus folgt, dass in der Biologie „Evolution“ heute wohl am ehesten mit „Wandel“ oder „Veränderung“ übersetzt werden muss. Im Sprachgebrauch der Kulturwissenschaften und auch ganz generell bedeutet „Evolution“ aber nach wie vor überwiegend „Entwicklung“ oder „Entfaltung“, von was auch immer.

    Wir haben es also mit zwei konträren Bedeutungen ein und desselben Begriffes zu tun, und das verrückterweise auch dann, wenn tatsächlich Bezug genommen wird auf den Wandel der Lebensformen. Die einen (z. B. Kulturwissenschaftler) meinen mit Evolution eine besondere Form der Entwicklung der Lebensformen, die anderen (z. B. Naturwissenschaftler/Biologen) meinen schlicht deren ziellosen Wandel.

    Ich wiederhole mich: Das wirklich Neue und Erschütternde an Darwins Theorie war, dass der Mensch sich nicht mehr als das Ziel und die Krone der Schöpfung bzw. eines echten Entwicklungsgeschehens fühlen konnte. Und zwar aufgrund von Prozessen, die dummerweise unter dem irreführenden Begriff „Evolution“ zusammengefasst wurden.

    Wer heute den Begriff Evolution in Bezug auf Kultur gebraucht, hat mit Sicherheit nicht dieses Bild der Sinnlosigkeit evolutiver Prozesse vor Augen.

    » Das [Übereinstimmungen zwischen biologischer Evolution und der linguistischen Evolution oder der Evolution von Musikstilen] geht so weit, dass Linguisten oder Musikstilforscher Tools verwenden, die für die Erforschung der biologischen Evolution erstellt wurden. Im von mir weiter oben verlinkten arxiv-Artikel…«

    Letzteres erinnert an den Spruch:

    Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.

    (Paul Watzlawick)

    Das Sprachvermögen des H. sapiensund die damit verbundene Sprache ist da schon etwas anderes. Es scheint mir fraglich, dass Lautäußerungen zum Zwecke der innerartlichen Kommunikation bereits ein Kulturmerkmal sind. Besitzen Vögel im gleichen Sinne Kultur wie die Menschen? Ich habe da meine Zweifel.

    • Im Prinzip haben Sie recht, aber ich denke, Sie sehen das zu puristisch. Die biologische Welt hat sich vom Einzeller zum Menschen entwickelt. Das ist nun mal Tatsache und im Rückblick eine erstaunliche und faszinierende Entwicklung. Aber diese Entwicklung hat im Vorausblick kein Ziel und keinen Zweck, sondern ist autopoietisch (Maturana/Varela). Sie entfaltet sich selbst als Bootstrappingprozess, also aus sich selbst heraus und durch die beeinflussenden Informationen aus der Umwelt. Richtig ist, dass im Rückblick einer Entwicklung oftmals eine Zwecksetzung unterstellt wird, die am Anfang aber nicht gegeben war und die Entwicklung den Zufälligkeiten des Weltgeschehens gefolgt ist. Bekanntlich ist mehrfach beinah alles Leben ausgestorben.

      Begriffe bekommen ihre Bedeutung durch ihren Gebrauch. Das sagte Wittgenstein. Man könnte dazu auch die Sapir-Whorf-Hypothese noch heranziehen. Die kollektive Sprache prägt das individuelle Denken und umgekehrt prägt individuelles Denken die kollektive Sprache. Man sollte Begriffe daher nicht in ein Korsett der Bedeutung zwängen wollen, es würde ohnehin nicht funktionieren. Das schließt allerdings ein, dass Begriffe überdehnt werden, was z.B. auf Begriffe der Physik, wie Energie, zutrifft, die für esoterische Zwecke missbraucht werden. Die “kulturelle Evolution” suggeriert ebenso Gemeinsamkeiten mit der biologischen Evolution, die nicht angemessen und irreführend sind, sei es Absicht oder nicht.

      Den Begriff der Evolution gab es schon vor Darwin, als Gegensatz zur Revolution. Ich glaube, ich hatte früher schon darauf hingewiesen, dass er erst durch Herbert Spencer bekannt wurde, in seinem Werk von 1862 “Erste Prinzipien”. Ob Darwin ihn absichtlich nicht benutzt hat, das weiß ich nicht. Darwins Hauptthese war die Selektion, die Variation dagegen hat er nur am Rande erwähnt, weil er dafür keine Erklärung hatte.

      • Biologische Evolution ist nur aus Menschensicht Höherentwicklung
        Folgendes ist Menschensicht: ” Die biologische Welt hat sich vom Einzeller zum Menschen entwickelt.” Doch der Mensch ist nur ein kleines Blättchen im riesigen Baum des Lebens. Die Evolution geht überall weiter, sogar bei den Einzellern. Hier möchte ich Balanus recht geben: Evolution gibt keine Entwicklungsrichtung vor und es ist nicht einmal klar ob es bei der biologischen Evolution eine klare Richtung von einfach zu komplex gibt. Die aus evolutionärer Sicht richtige Interpretation der Entstehung der Mehrzeller, der Wirbeltiere und schliesslich der Primaten sieht dagegen so aus: Überall wo es eine Lebensmöglichkeit gibt, einen Lebensraum wird diese auch von Organismen irgendwann zum Leben genutzt werden. Zugleich können Entwicklungen in Organismen selbst neue Lebensräume schaffen. Die Mehrzelligkeit und das Ausbilden von Organen als Teil eines komplexen Organismus hat solch einen neuen Lebensraum geschaffen, denn im Vergleich zu Einzellern sind komplexe Organismen in ähnlicher Weise in einen neuen Raum, eine neue Dimension vorgedrungen wie die Menschen als sie neue Kontinente entdecken. Einzeller leben zwar am selben Ort wie Mehrzeller, komplexe Tiere und Pflanzen, doch sie nutzen die Ressourcen auf ganz andere Art und viel weniger kontrolliert. Auch der Mensch hat einen neuen Lebensraum geschaffen über seine Fähigkeit Werkzeuge und Waffen herzustellen und sie für seine Ziele einzusetzen. Damit hat er nämlich Ressourcen zugänglich gemacht, die auf dem Baum lebenden Affen nicht zur Verfügung stehen.
        Die biologische Evolution nutzt über lange Zeiträume gesehen letztlich alle denkbaren Lebensräume und Ressourcen und viele dieser Ressourcen werden überhaupt erst von bestimmten Organismen entdeckt und erschlossen, was dann einen neuen grossen Ast im Lebensbaum entstehen lassen kann.
        Technik+Kultur-Wandel zeigen aus statistischer und Mustersicht ähnliche Merkmale wie die biologische Evolution
        Sie schreiben folgendes wohl aus Unwissenheit: “Die “kulturelle Evolution” suggeriert ebenso Gemeinsamkeiten mit der biologischen Evolution, die nicht angemessen und irreführend sind, sei es Absicht oder nicht.”
        Denn bei der Erforschung des Technikwandels und Kulturwandels mittels statistischen Ansätzen und der Beobachtung von sich wandelnden Merkmalen und Mustern geht es gar nicht darum eine künstliche Analogie zur biologischen Evolution herzustellen sondern vielmehr darum, eine ganze Landschaft von Objekten und ihrem Umfeld in ihrer zeitlichen Entwicklung zu charakterisieren. Bei dieser Forschung stösst man ganz von selbst auf evolutionäre Prinzipien, die auch aus der biologischen Evolution bekannt sind. Lesen sie doch einmal ein paar Forschungsartikel die sich mit Mustern im technologischen Wandel beschäftigen wie beispielsweise Evolutionary Theory of
        Technological Change:
        Im Übrigen wendet diese Forschungsrichtung vorwiegend Methoden aus der Informatik. Es verwundert mich ein bisschen, dass sie diese Forschung in Frage stellen obwohl sie selber auch aus der Informatikwelt kommen.

        • @Martin Holzherr;
          Sie haben meinen Beitrag etwas missverstanden. Dlie Diskussion dreht sich um Teleologie in der Evolution und um die Analogie von biologischer und kultureller Evolution. Ich versuchte nur darzustellen, wie der Eindruck von Zielgerichtetheit und Zweckmäßigkeit in der Interpretation der Evolution zustande kommt. Es ist klar, dass der Evolution alle in der Gegenwart existierenden Lebensformen unterliegen und dass die Höherentwicklung keine Notwendigkeit ist, obwohl die Zunahme struktureller Komplexität durch die Mechanismen der Molekularbiologie erklärt werden kann.

          Ein weiterer und beliebter Irrtum ist die Unterstellung, dass Evolution immer zu einem Optimum oder zu Perfektion führt. Das Gegenteil ist der Fall, denn die Evolution führt zur Verschwendung von Ressourcen, indem sie alle verfügbaren Ressourcen nutzt. Nur deshalb kann die Selektion überhaupt wirksam sein, weil die größten Verschwender eliminiert werden, wenn die Ressourcen knapper oder teurer werden! Das ist ein dialektischer Prozess der Evolution. Dieser Irrtum korreliert mit dem Schöpfungsglauben, aus naheliegenden Gründen.

          Der Vergleich von biologischer mit kultureller Evolution muss differenziert gesehen werden. Einerseits kann die Begrifflichkeit zu Irrtümern führen, andererseits gibt es selbstverständlich Vergleichbarkeiten in Details, z.B. Variation und Selektion mit Versuch und Irrtum im Wissenschaftsbetrieb. Selbstverständlich sind mir auch die evolutionären Algorithmen in der Informatik bekannt. Sicher gibt es auch noch weitere Beispiele.

          • Statistische Betrachtung von Landschaften und ihrer zeitlichen Entwicklung
            Die statische Betrachtungsweise von Objekt-Landschaften und ihrer zeitlichen Entwicklung offenbart bei bestimmten Objektkategorien Phänomene wie man sie auch aus der biologischen Evolution kennt. Das findet man im technischen und kulturellen Wandel als Objektkategorien, nicht aber beim Wetter und Klima. Auch das Wetter, ja sogar das Klima ändert sich ständig, aber ein sich neu entwckelndes Klima ist nicht eine Variation oder Selektion von vergangenen Klimata, denn es fehlt das Gedächtnis und die Instanz, die Neues aufgrund von Vergangenem oder von Gegenwärtigem schafft.
            Optimiert die Evolution?
            Ein Falkenauge ist auch aus technischer Sicht in vielerei Hinsicht perfekt. Daraus kann man aber keine Regel ableiten. Lange nicht alle Organe, Stoffwechselwege sind perfekt oder aus Sicht eines Ingenieurs nur schon gut. Denn
            1) Kann die Evolution keine globalen Optimierungen vornehmen sondern nur lokale. Die Optimierungsmethode ist in der Informatik als Hillclimbing bekannt. Kennzeichnung dieser Optimierungsmethode sind lokale Verbesserungen ohne grundlegend neues Design. Die Entwicklung innerhalb einer Linie zeigt bei der Evolution immer Kontinuität.
            2) Sogar die lokale Optimierung eines Merkmals (z.B. der Sehleistung)wirkt nur wenn es starke Selektionskräfte gibt. Beim Falkenauge ist das offensichtlich. Je besser ein Falke sieht desto erfolgreicher ist er in der Jagd.

    • Noch ein kleiner Nachtrag zu Ihrem Beitrag weiter oben. Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen kultureller und biologischer Evolution. Die biologische Evolution setzt immer auf den Gegebenheiten der Gegenwart auf. Sie kann nicht anders. Es gibt keine Revolutionen, keine Brüche oder Neuerungen “aus dem Nichts” heraus. Die kulturelle Evolution dagegen ist nicht derart gebunden. Eine naturwissenschaftliche Entdeckung oder technische Erfindung kann Brüche in der kulturellen Evolution erzeugen, genauso wie Naturkatastrophen für eine regionale Kultur, aktuell z.B. die Ebola-Epidemie in Afrika, die eine kulturelle Revolution bewirkt hinsichtlich der Begräbnisrituale. Genauso sind Rückschläge möglich.

      Die Ethnologie und Kulturanthropologie war lange Zeit von der christlichen Religion geprägt. Das könnte manche Ihrer Fragen zur Geschichte der Kulturentwicklung erklären. Ich weise hier auf die Wiener Schule der Ethnologie unter Pater(!) Wilhelm Schmidt hin, die in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. maßgeblich war. Im Mittelpunkt standen die Monogenese, der Monotheismus und die Monogamie, gewissermaßen als kulturelle Normen oder Maßstäbe, an denen sich diese Lehre ausrichtete.

    • @Balanus

      »Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.«

      Ohne in der Sache widersprechen zu wollen, aber der Spruch stammt meines Wissens von Abraham Maslow (1908-1970).

      Von Watzlawick stammt hingegen: »Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!« (Aus Anleitung zum Unglücklichsein.)

        • @Balanus
          Ja, einen Beleg gibt es, gefunden mit wikiquote.org:

          I suppose it is tempting, if the only tool you have is a hammer, to treat everything as if it were a nail.

          Quelle: The Psychology of Science: A Reconnaissance (1966), Ch. 2, p. 15.

          Mir war gar nicht bekannt, dass es womöglich noch anderen Urhebern zugeschrieben wird, aber ich lasse mich da gerne belehren.

          Bei der Nennung von Watzlawick fiel mir nur ein, dass da doch eine Geschichte war, wo jemand nur einen Nagel hat, wohingegen der Hammer fehlt.

          • @Chrys

            Ah ja, danke, der gleiche Gedanke, aber verschieden (schöner bei Maslow) ausformuliert. Leider findet man keine Zeitangabe zu Watzlawick, so können wir also nicht sagen wie, hier die kulturelle Evolution verlaufen ist.

            Das scheint mir übrigens ein weiterer bedeutender Unterschied zur natürlichen Evolution zu sein, denn bei letzterer erzwingen die vorliegenden Strukturen, welche Varianten in der Nachfolgegeneration überhaupt möglich sind. Bei der Variation eines Gedankens gibt es derartige Beschränkungen nicht, man kann also nicht herauskriegen, wer was zuerst gesagt hat. Oder konkret: In wessen Gehirn das Hammer-Nagel-Problem-Mem mutiert ist.

            (Hm, so langsam finde ich Gefallen an der Memetik … )

          • @Balanus
            Für die Zuschreibung des Zitates an Watzlawick konnte ich mir keinen Beleg ergoogeln. Ich neige zu der Vermutung, dass die Sache ein Gerücht ist, das im Web kolportiert wird. Wäre schliesslich nicht das erstemal, dass so etwas passiert.

            »Oder konkret: In wessen Gehirn das Hammer-Nagel-Problem-Mem mutiert ist.«

            Mutiertes Hammer-Nagel-Problem-Mem … das erklärt natürlich alles … 😉

            Apropos Meme und Universal-Darwinismus als Theory of Everything, die NASA hat dazu noch eine Kollektion mit Beiträgen der üblichen Verdächtigen im Angebot [Cosmos & Culture].

          • @Anton Reutlinger
            Vielen Dank für den Link! Das scheint mir doch eine niet- und nagelfeste Klärung der Angelegenheit zu sein.

          • @Chrys

            Danke für den Link, dieses NASA-Werk scheint mir—unter anderem, versteht sich—eine echte Fundgrube für schräge Ideen zu sein.

            Beispiel aus der Einleitung, betreffend die Geschwindigkeit der kulturellen „Evolution“:

            Humans were not much different biologically 10,000 years ago, but one need only look around to see how much we have changed culturally.

            Dass in einigen Populationen in den letzten 9.100 Jahren kulturell nicht allzu viel passiert ist, wird (erstmal?) ausgeblendet.

            Und der erste Satz im Kapitel „Cosmic Evolution“ dürfte widerspiegeln, wo die Reise hingeht: Ins Triviale.

            Evolution, broadly considered, has become a powerful unifying concept in all of science, providing a comprehensive worldview for the new millennium.

            „Evolution, broadly considered“ bedeutet doch nichts anderes als zeitliche Entwicklung, und das soll nun ein mächtiges, vereinheitlichendes Konzept der Wissenschaft sein. Wo doch schon das Konzept der „Kausalität“ trotz seiner Alltagstauglichkeit kläglich gescheitert ist…

            —-
            @Anton Reutlinger

            Sehr interessant, die angelsächsische Hammer-Nagel-Geschichte.

            Als kleines Dankeschön ein OnTopic Hinweis auf “The evolution of the word ‘evolution’“.

  12. @ Anton Reutlinger

    »Die biologische Welt hat sich vom Einzeller zum Menschen entwickelt.«

    Dieser Gedanke dürfte es sein, der zu der unausrottbaren Auffassung führt, Evolution bedeute die graduelle Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten. Dabei wird jedoch ausgeblendet, dass das zwar vorkommt, aber eben nicht das Prinzip der Evolution ausmacht (z.B. bilden die Blütenpflanzen oder Säugetiere nur einen winzigen Ausschnitt aus dem Spektrum der rezenten Arten).

    Und Sie haben Recht, im Rückblick der Entstehungsgeschichte der „höheren“ Organismen drängt sich unweigerlich der Eindruck eines (unabänderlichen) Entwicklungsgangs auf (sofern man aus weltanschaulichen Gründen dem Evolutionsgedanken nicht ablehnend gegenübersteht), insofern ist dieses Missverständnis verständlich.

    »Man sollte Begriffe daher nicht in ein Korsett der Bedeutung zwängen wollen, es würde ohnehin nicht funktionieren.«

    Das sehe ich anders, und bin nun wahrlich keiner, der immer präzise formuliert und alle Begriffe eng auslegt (siehe @Ano Nyms Anmerkung). Aber wenn ich mit jemandem über Pferde diskutiere, dann muss der andere auch Pferde meinen, wenn er Pferde sagt, und nicht etwa Kühe.

    Zu Ihrem Unterschied zwischen kultureller und biologischer Evolution: Giesela Freund von der Universität Erlangen (Ur- und Frühgeschichte) hat Anfang der 1980er auf die enormen Schwierigkeiten hingewiesen, „mit Hilfe eines Evolutionsbegriffes im engeren biologischen Sinn, irgendwelche Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung der Kulturen zu erfassen“, (in Rolf Siewing, Evolution, 1982), und zwar trotz der Beschränkung auf gut zugängliche, technologischen Belege. Die „Gesetze“ [der Entwicklung der Kulturen], schreibt Freund, werden „offensichtlich von der Freiheit der menschlichen Entscheidung, vom menschlichen Gehirn bestimmt“.

    Damit ist eigentlich alles gesagt, was man zur sogenannten kulturellen Evolution wissen muss.

  13. Evolution: der empirische und der theoretische Ansatz
    Technik-und Kulturwandel zeigen Phänomene wie man sie aus der biologischen Evolution kennt. Es lassen sich auch die gleichen Softwaretools sowohl für die biologische Evolution wie für evolutionäre Phänomene in der Sprachentwicklung oder im Wekzeugbau einsetzen. Dieser Ansatz Phänomene mit Tools zu untersuchen, die sich in einem andern, aber verallgemeinert gesprochen, ähnlichen Bereich bewährt haben könnte man den empirischen Ansatz nennen so wie im Artikel empirische WIMPs und rationale SUSY-Teilchen dargestellt. Wenn man aber mit dem Begriff Mem startet und dann zeigen will wo überall die Memetik wirkt, dann verfolgt man einen theoretischen Ansatz. Der theoretische Ansatz, die Memetik, scheint mir für die Erforschung von evolutionären Phänomenen nicht nötig und die damit einhergehende Aufgabe nach Memen zu suchen ein unfruchtbares Vorhaben, denn 1) was bringt es wenn man die Meme benennt, die in der Entwicklung der Töpferei (angeblich) eine Rolle gespielt haben. Der empirische Ansatz dagegen ist viel fruchtbarer, denn hier benutzt man moderne statistische Verfahren, die in immer mehr Bereichen eine wichtige Rolle spielen, auch im Bereich “big data”, aber auch in der Quantenmechanik und der künstlichen Intelligenz wo bayes’sches Reasoning und der bayessche Wahrscheinlichkeitsbergriff eine zunehmend prominente Rolle spielen. These: “Evolutionäre Entwicklung” könnte bald schon zu einem Bestandteil der Statistikmethoden gehören, die auch mathematisch weiter untersucht werden.
    Evolutionismus: die Idee von der Höherentwicklung ist ein Irrweg
    Die von Ethnologen und Sozialwissenschaftlern des 19.Jahrhunderts gepflegte Idee, es gebe eine Entwicklung zum Höheren, eine Theorie, die sie Evolutionismus nannten geistert heute noch in vielen Köpfen herum, wohl weil das 19. Jahrhundert immer noch nicht abgeschlossen ist, wenn man den Bildungsstand der Allgemeinbevölkerung und auch der Gymnasiallehrer betrachtet. Der Begriff Evolution gehört ebenso wie viele Begriffe der Psychoanalyse zum zeitgenössischen Wissen. leider werden unter diesen Labels oft ideen aus dem vorvorletzten Jahrhundert – dem 19. – konserviert.

  14. @Martin Holzherr

    »These: “Evolutionäre Entwicklung” könnte bald schon zu einem Bestandteil der Statistikmethoden gehören, die auch mathematisch weiter untersucht werden.«

    Hm, was genau meinen Sie denn jetzt mit „Evolutionäre Entwicklung“ als eine Methode der Statistik?

    Evolutionäre Entwicklung, so haben wir doch inzwischen gelernt, führt meistens ins Nichts. Man kann eine evolutionäre Entwicklung ja relativ leicht simulieren. Zum Beispiel mit einem schlechten Kopierer. Man startet von einer beliebigen Vorlage aus und macht zahlreiche Kopien, von denen dann per Zufall eine ausgewählt wird, von der dann wieder zahlreiche Kopien angefertigt werden, und so fort, bis man dann irgendwann stoppt und das Ergebnis dieser evolutionären Entwicklung in Händen hält. Was soll das bringen?

    Der Band „Evolution“, herausgegeben vom Erlanger Zoologen Rolf Siewing (1982), basiert auf einer interdisziplinären Ringvorlesung. Die Themen reichen von „Evolution des Kosmos“ bis zu „Evolution im Bereich der Technik“, wobei die stammesgeschichtliche Entwicklung, also die Evolution im eigentlichen, biologischen Sinne, zentral ist.

    Im Vorwort heißt es:

    Fließende Übergänge der Evolution manifestieren sich auch in jenen Vorgängen, die sich mit der Menschwerdung anbahnen und in Kultur, Theologie und Technik ihre Krönung finden.
    So zieht sich ein kontinuierlicher Strom durch die Jahrmilliarden, beginnend mit dem Urknall und gipfelnd in den Schöpfungen des Menschen.

    Dieser „kontinuierliche Strom“ ist wohl weniger die evolutionäre Entwicklung, als vielmehr die selbstorganisatorische „Kraft“ der Materie.

    Im Buch selbst wird zwar natürlich der fundamentale Unterschied der Evolution im biologischen Sinne zu anderen Entwicklungsvorgängen stets betont, aber dennoch wird der Begriff „Evolution“ primär verstanden als graduelle Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten oder Komplexen. Das wird wohl immer so bleiben. Das von @Henning Lobin erwähnte Buch von Gerhard Schurz, „Evolution in Natur und Kultur“, dürfte ein weiterer Beleg dafür sein.

    »Nothing in human culture makes sense except in the light of evolution!«

    Würden Sie diesem Satz zustimmen?

    • @Balanus: Ihr Ansatz ist theoretisch zu aufgeladen was sie zur Ablehnung des Evolutionsprinzips führt.
      Ein fruchtbarer, nicht ideologischer Ansatz konzentriert sich auf evolutionär bedingte Phänomene, quasi auf den Phänotyp und nicht auf den Genotyp, denn der Genotyp ist in der Technik- und Kulturwandel gar nicht bekannt.
      Genau deshalb sehe ich den wissenschaftlichen Hintergrund für die Erforschung evolutionärer Phänomene mehr in statistischen Verfahren.
      Ein vorläufiges Ergebnis einer schnellen Internetsuche hat folgendes Papier ans Licht gebracht: Statistical Methods for Evolutionary Trees

      Ich werde weiter suchen und ihnen im Verlauf der Woche weitere Papiere aus dem statistischen Ansatz präsentieren.

      Noch zu den letzten Sätzen in ihrem Kommentar:

      dennoch wird der Begriff „Evolution“ primär verstanden als graduelle Entwicklung vom Einfachen zum Komplizierten oder Komplexen. Das wird wohl immer so bleiben.

      Dieser Glaube an die Höherentwicklung zu der die Evolution führe nennt man Evolutionismus. Das ist tiefestes 19. Jahrhundert. Leider haben aber viele Ideen und Theoriegebäude des 19. Jahrhunderts in den Köpfen des Bildungsbürgertums überlebt (z.B. die Freudsche Psychoanalyse mit ihren Begriffen)

    • @Martin Holzherr

      Zu dem verlinkten Paper: Dass man in den Naturwissenschaften, in der Evolutionsbiologie und insbesondere in der Populationsgenetik mit statistischen Methoden arbeitet, ja arbeiten muss, ist doch klar.

      Ich hatte vermutet, dass Sie an (neue?) statistische Methoden dachten, die sich irgendwie vom (biologisch verstandenen) Evolutionsprinzip herleiten.

      Ich lehne keineswegs ein Evolutionsprinzip ab, aber mir scheint, dass ich etwas anderes darunter verstehe, als Sie (und andere).

      • Zum evolutionären Prinzip und seiner Erforschung in der Biologie, dem technischen und kuturellen Wandel: Ich denke an heutige informatische Methoden (automatische Mustererkennung, etc) mit denen man die geschichlte Entwicklung beispielsweise von Töpfereiwaren, Baustilen oder Musikstilen untersucht. Dabei soll eben gerade nicht der Mensch das Kriterium bestimmen welches festlegt was einen evolutionären Sprung ausmacht, sondern die Evolution soll so weit als möglich anhand von abstrakten Mustern und allgemeinen Kriterien maschinell bestimmt werden. So wie das im arxiv-Artikel The Evolution of Popular Music: USA 1960-2010 gemacht wird, wo man folgendes abstract findet:

        In modern societies, cultural change seems ceaseless. The flux of fashion is especially obvious for popular music. While much has been written about the origin and evolution of pop, most claims about its history are anecdotal rather than scientifc in nature. To rectify this we investigate the US Billboard Hot 100 between 1960 and 2010. Using Music Information Retrieval (MIR) and text-mining tools we analyse the musical properties of 17,000 recordings that appeared in the charts and demonstrate quantitative trends in their harmonic and timbral properties. We then use these properties to produce an audio-based classification of musical styles and study the evolution of musical diversity and disparity, testing, and rejecting, several classical theories of cultural change. Finally, we investigate whether pop musical evolution has been gradual or punctuated. We show that, although pop music has evolved continuously, it did so with particular rapidity during three stylistic \revolutions” around 1964, 1983 and 1991. We conclude by discussing how our study points the way to a quantitative science of cultural change

        Sie schreiben: Ich lehne keineswegs ein Evolutionsprinzip ab, aber mir scheint, dass ich etwas anderes darunter verstehe, als Sie (und andere).

        Ich habe den Eindruck sie meinen mit dem Evolutionsprinzip eine These, die man entweder annehmen oder ablehnen kann. Ich meine dagegen, dass es Phänomene beim technologischen und kulturellen Wandel gibt, die man auch in der biologischen Evolution findet. Ich vermute, dass man diese evolutionären Phänomene überall findet wo etwas eine Geschichte des unsystematischen Wandels durchmacht, eines Wandels, der auch durch Zufälle, durch Wiederverwendung, Zweckentfremdung und Variation gekennzeichnet ist.

      • Der öffentliche Geschmack als Selektionsfaktor kann beginnend mit musikalischem Rauschen nach vielen Variationen zu so etwas wie Musik führen zeigt der Artikel Evolution of music by public choice wo man folgendes Abstract liest

        Music evolves as composers, performers, and consumers favor some musical variants over others. To investigate the role of consumer selection, we constructed a Darwinian music engine consisting of a population of short audio loops that sexually reproduce and mutate. This population evolved for 2,513 generations under the selective influence of 6,931 consumers who rated the loops’ aesthetic qualities. We found that the loops quickly evolved into music attributable, in part, to the evolution of aesthetically pleasing chords and rhythms. Later, however, evolution slowed. Applying the Price equation, a general description of evolutionary processes, we found that this stasis was mostly attributable to a decrease in the fidelity of transmission. Our experiment shows how cultural dynamics can be explained in terms of competing evolutionary forces.

  15. @Martin Holzherr

    » Ich habe den Eindruck [S]ie meinen mit dem Evolutionsprinzip eine These, die man entweder annehmen oder ablehnen kann.«

    Ich schätze, das trifft (leider) zu. Mehr als die Hälfte der Menschheit lehnt den (auch von mir vertretenen) Evolutionsgedanken ab.

    Evolution (im biologischen Sinne) bezeichnet für mich, kurz gesagt, ein sich selbst erhaltendes dynamisches Geschehen im Rahmen der Selbstorganisation des Systems Biosphäre.

    Darin eingeschlossen sind dann selbstredend auch sämtliche Aktivitäten und Verhaltensweisen der Systemteilnehmer, einschl. H. sapiens.

    Nicht eingeschlossen sind die leblose Umwelt inklusive der Produkte oder „Schöpfungen“ der Lebensformen. Das heißt, einem evolutiven Wandel können (nach meinem Verständnis) nur Lebensformen unterliegen, nicht aber tote Gegenstände wie Vogelnester, Bücher, oder Toiletten.

    Dessen ungeachtet kann man auch gerne den Wandel in den Schöpfungen des Menschen mit Methoden untersuchen und beschreiben, die auch in der Evolutionsbiologie funktionieren. Aber dadurch wird der Gegenstand der Untersuchung nicht zu einem aus sich heraus ablaufenden Evolutionsgeschehen. Der Mensch ist und bleibt der Schöpfer und damit „Ursache“ des Wandels.

    Wer allerdings für die Evolution (im biologischen Sinne) einen Schöpfer postuliert oder für eine denkbare Option hält, der tut sich wohl leichter damit, einen universalen Evolutionsbegriff zu vertreten, der dann die Schöpfungen Gottes und die Schöpfungen des Menschen umfasst.

    • Da kann ich ihnen voll zustimmen: Die biologische Evolution kommt ohne Schöpfer aus – und das macht sie ganz speziell. Denn ohne diese Selbstschöpfung, die letztlich auch uns hervorgebracht hat, gäbe es keine Intelligenz und kein Bewusstsein gleich welcher Stufe und damit auch keine kulturelle Evolution und keinen technologischen Wandel. Gleichwohl scheint man beim technologischen Wandel ähnliche Phänomene zu beobachten wie in der biologischen Evolution. Der Grund dafür dürfte in statistischen “Wahrheiten” zu finden sein, die für alle Systeme gelten, in denen es etwas gibt was reproduziert und variiert wird, wobei die Reproduktion auf dem aufbaut, was es bereits gibt oder gegeben hat.

    • Im Rahmen eines unfalsifizierbaren, weil richtigen, Pantheismus wird der Betrieb der Welt als göttlich verstanden, was vielleicht ein wenig blöde klingt, aber letztlich nur den großen Erkenntnisvorbehalt meint, dem erkennende Subjekte als Weltteilnehmer (vs. Weltbetreiber) ausgesetzt sind.
      Insofern weiß auch niemand mit wissenschaftlichem Anspruch Gott zu definieren (außer wie oben getätigt).

      Die Evolution oder die allgemeine Entwicklung göttlicher oder “göttlicher” Betriebsamkeit folgend wird regelmäßig im Ex Post festgestellt.
      Dieses oder jene wäre die Evolution, auch die biologische [1], so, weil dieses oder jene so wäre, eben tautologisch, im Ex Ante und Ex Inter hat es mau auszusehen. [2]

      Zur Primatenbildung ist anzumerken, dass weder die Gendatenhaltung genau verstanden werden kann, noch die “CPU” des Primaten, wegen Komplexität nicht, aber auch nicht wegen des o.g. Vorbehalts. [3]

      MFG
      Dr. W

      [1]
      Giraffen haben nicht deshalb einen langen Hals, damit sie so besser fressen können, sondern weil festgestellt worden ist, dass sie einen langen Hals haben könnten, um so besser fressen zu können. (“Der Systematiker behandelt eine Aussage zu einer Sache oder Sachverhalt zuvörderst als Aussage einer Person(enmenge) zu einer Sache oder Sachverhalt.”)

      [2]
      Fichte darf hier nicht fehlen, sinngemäß so zitiert:
      ‘Etwas ist, es ist, weil es ist, und es ist so wie es ist, weil es so ist, wie es ist.’

      [3]
      Bonmot:
      “Wäre das Hirn so einfach, dass es dessen Träger verstehen könnte, wäre das Hirn nicht so einfach, dass es dessen Träger verstehen könnte.”

    • @Balanus: Evolutiven Wandel kann es auch bei Toiletten, Vogelnestern und Büchern geben, wenn man den Begriff “evolutiv” verallgemeinert und ihn loslöst von seinem Gebrauch in der biologischen Evolution. “Evolutiv” meint in der Verallgemeinerung, dass es einen evolutionären Baum gibt, dessen Unteräste älteren Ästen näher bei der Wurzel entspringen und wo Änderungen von Ast zu Unterast nicht reinem Planen entspringen sondern wo es auch ein stochastisches Element gibt und lokale Einflüsse eine Rolle spielen.

      • Grundsätzlich ist zwischen der allgemeinen Evolution zu unterscheiden, die weiter oben von Ihrem Kommentatorenfreund philosophisch ein wenig beleuchtet worden ist, zwischen der (natürlichen) Selektion, mit der es Darwin hatte, und der sogenannten synthetischen Evolutionslehre, die problematisch scheint.

  16. @Martin Holzherr

    : » Evolutiven Wandel kann es auch bei Toiletten, Vogelnestern und Büchern geben, wenn man den Begriff “evolutiv” verallgemeinert und ihn loslöst von seinem Gebrauch in der biologischen Evolution.«

    Sicher, aber was hat man davon, wenn man die Bedeutung eines etablierten Begriffs so weit verändert und dehnt, bis er schließlich passt? Und etabliert ist nun mal die Assoziation zur Biologie. Wer anderes behauptet, ist in der Beweispflicht.

    » “Evolutiv” meint in der Verallgemeinerung, dass es einen evolutionären Baum gibt,… «

    Erst den Bezug des Begriffs zur Biologie durch Verallgemeinerung aufheben, und dann mit dem „evolutionären Baum“ durch die Hintertür wieder einführen. Das scheint mir wenig konsequent zu sein.

    Ich habe ja gar nichts dagegen, dass man die Dinge untereinander in zeitliche Beziehung setzt und z. B. die Interdependenzen eines Formenwandels aufzeigt. Aber ich sehe nicht, wie dabei die Verwendung eines nichtssagenden Evolutionsbegriffs zu einer tieferen Erkenntnis führen könnte.

    • @Balanus, Zitat: “Und etabliert ist nun mal die Assoziation [des Begriffs Evolution] zur Biologie. Wer anderes behauptet, ist in der Beweispflicht.”
      Nein. Den Begriff Evolution gab es schon vor Darwin und Darwin hat den Begriff in seinem Buch “Entstehung der Arten” bewusst vermieden, wahrscheinlich gerade darum, weil er die biologische Evolution als etwas ganz eigenständiges, inhärent biologisches herausstellen wollte und vermeiden wollte, dass man die Entstehung der Arten mit dem Begriff Evolution als erledigt betrachtete. Darwin streicht vor allem die Rolle der Selektion heraus weniger die Rolle der Weitergabe von Merkmalen von Generation zu Generation und der Mutation, denn er verstand selbst nicht recht wie Merkmale weitergegeben und variiert werden konnten (Genetik war ihm noch unbekannt). Ein zentraler Gedanke in seiner “Entstehung der Arten” war jedoch der des Verwandschaftsverhältnisses von Lebewesen, was sich in einem Abstammungsbaum wiederspiegelt.

      Allerdings gebe ich ihnen bezüglich Begrifflichkeit dennoch recht: Wenn ich beim Technik- oder Kulturwandel von “evolutiven” Phänomen spreche, meine ich Phänomene wie man sie auch in der Evolutionsbiologie beobachten kann. Phänomene wie Mutation, Selektion, Gendrift, den Abstammungsbaum, Koevolution, die Auswirkungen von Isolation auf den technisch-/kulturellen Wandel analog zur Situation bei den von Darwin untersuchten Inseln (Darwinfinken etc).
      Es gibt also analoge Erscheinungen in der biologischen Evolution und im technisch-kulturellen Wandel.

      Es gibt aber auch deutliche Unterschiede. Beispielsweise dadurch, dass in der Biologie in DNA-Molekülen abgelegte Gene Träger der Erfinformation sind, sexuelle Reproduktion eine wichtige Rolle spielt, die Rekombination von Genen nach einem festen Muster abläuft und diploide Gensätze bei sexueller Fortpflanzung die Regel sind, womit Phänomene wie dominante versus rezessive Merkmale eine Rolle spielen. Solche für die Biologie typischen genetischen Regeln (wie sie von Mendel entdeckt wurden: “Er zeigte, dass Merkmale von den Eltern an die Nachkommen vererbt werden, und dass diese Merkmale diskret sind: Wenn ein Elternteil runde und der andere faltige Erbsen hatte, dann zeigte der Nachwuchs nicht ein Gemisch, sondern entweder runde oder faltige Erbsen. “), die findet man beim technologischen und kulturellen Wandel nicht. Die Analogie bricht also irgendwann zusammen. Sicher bricht sie zusammen, wenn wir die biologischen Vererbungsregeln mit der “Vererbung” beim technisch-/kulturellen Wandel vergleichen.

    • Im engeren Sinne “evolutiv”, also von der Evolutionstheorie abgedeckt, kann in meinen Augen nur ein System sein, dessen Einheiten sich 1. reproduzieren, nach welchem Mechanismus und von welchen Voraussetzungen auch immer abhängend, die 2. dabei ein gewisses, nicht zu großes oder kleines Maß an Variation erfahren und die sich 3. in einer Umgebung befinden, mit der die Interaktion in unterschiedlichem Maße erfolgreich für die Reproduktion sein kann, also selektiv wirkt. Reproduktion, Variation und Selektion bilden den Kern eines jeden evolutiven Systems, gleichwohl ob biologisch, mathematisch oder kulturell.

    • Einverstanden, Herr Lobin, im Großen und Ganzen — nur, welche Einheiten eines kulturellen Systems können sich schon selbst reproduzieren?

      Im Gegensatz zu vielen anderen hier bin ich der Auffassung, dass die Selbst-Reproduktion essentiell ist für ein wirklich evolutives System im engeren Sinne. Im weiteren Sinne mag es hinreichend sein, dass die Einheiten eines Systems von anderen Einheiten reproduziert werden. Dann hätten wir es mit etwas zu tun, das einem echten evolutiven System mehr oder weniger ähneln würde.

      • Das wäre für mich gar kein Problem, wenn die grundlegenden Funktionen des Systems erhalten bleiben. Aber ist es nicht aus so, dass auch bei der biologischen Reproduktion sehr exakt bestimmte Bedingungen gelten müssen, um die Reproduktion der DNA zu ermöglichen? Die DNA benötigt ja einen hochkomplexen biochemischen Apparat in der Zelle, um “sich selbst” reproduzieren zu können. Wenn man das Vorhandensein eines solchen komplexen Apparats auch in der kulturellen Evolution ansetzt, die Gehirne, dann kann man im Dawkins’schen Sinne schon vom Mem als einem Replikator eigenen Rechts in Analogie zum Gen sprechen.

      • Herr Lobin, wenn die grundlegenden Funktionen des Systems tatsächlich erhalten blieben, wäre es in der Tat kein Problem, dass sich die Einheiten des Systems nicht selbst reproduzieren können. Aber zu den Bedingungen eines evolutiven Systems soll ja nun mal gehören, dass sich die Einheiten reproduzieren können. Wenn diese Bedingung nicht erfüllt ist, kann die Funktion, die darauf gründet, nicht erhalten bleiben, es sich folglich nicht um ein evolutives System handeln.

        Sie haben zwar Recht mit dem Hinweis, dass für die Replikation der DNA bzw. genetischen Information ein ganzer Apparat vonnöten ist. Aber das hilft hier nicht weiter, denn für Ideen und Gedanken ist kein der DNA-Replikation analoger Replikationsmechanismus bekannt. Sie haben es im Blog-Beitrag selber angedeutet, wie grundverschieden die Weitergabe genetischer Informationen von der Weitergabe von Gedanken ist. DNA und Proteine stehen in einer zirkulären Kausalbeziehung zueinander, was bei Gedanken („Memen“) und Gehirn oder Neuronen, soweit wir wissen, nicht der Fall ist.

  17. Der Begriff der Evolution ist nur eine leere Hülle. Sie muss gefüllt werden mit den Mechanismen der Evolution. Das ist die Reproduktion, die Variation und die Selektion. Außerhalb der Biologie hat man dafür andere Bezeichnungen, z.B. Versuch und Irrtum. Die Mechanismen können unterschiedlich ausgestaltet sein, entsprechend gibt es verschiedene Formen von Evolution. Ob ein Objekt der Evolution selbstreproduzierend ist oder nicht, ist nicht entscheidend für die Bezeichnung als Evolution, ist aber natürlich charakteristisch für die biologische Evolution.

    In der vorschriftlichen Zeit hat man Geschichten weitererzählt, unausweichlich mit Variationen des Autors. Die spannenderen Varianten blieben erhalten, die anderen wurden vergessen. Der Tod gehört zur Evolution wie die Geburt. Keine Kopie eines Dokuments ist identisch mit dem Original. Jede weitere Kopie von der Kopie entfernt sich vom Original. Es gibt gewisse, allgemeingültige Kriterien der Evolution, die für Objekte gültig sein müssen, um ihre Entwicklung als Evolution zu bezeichnen. Technische Produktentwicklungen oder menschliche Artefakte generell erfüllen diese Kriterien im allgemeinen nicht.

    • Eine kleine, aber wichtige Korrektur zu einem Flüchtigkeitsfehler ist notwendig. Mit Autor ist oben der vorausgehende Erzähler gemeint. Eine Kopie vom Original führt nie zu Evolution, sondern erst die Kopie von der letzten Kopie, bzw. die Erzählung der Geschichte, die man vom letzten Erzähler gehört hat. Die kulturelle Evolution ist daher mit Schrift und noch mehr mit dem Buchdruck teilweise zum Stillstand gekommen, besonders die Religionen auf der Basis der heiligen Schriften. Dagegen geht die Evolution der Wissenschaft weiter, weil neue Erkenntnisse in die Bücher eingehen. Aber die alten Bücher bleiben unverändert erhalten, im Unterschied zur biologischen Evolution.

      • @ Herr Reutlinger :

        Der Begriff der Evolution ist nur eine leere Hülle.

        Die Evolution meint die allgemeine Entwicklung, die weitgehend außerbiologisch, sozusagen, von Ihrem Kommentatorenfreund weiter oben erklärt worden ist.
        ‘Evolutive’ Sicht bietet sich insbesondere auch bei Vorhaben im wirtschaftlichen Bereich an, Sie selbst gelten ja als die moderne Informationstechnologie betreffend erfahren, und Anwendungen der Art OLAP bleiben herausfordernd, auch Dilbert-mäßig zu beschreiben, und witzigerweise sinnhaft.

        Keine Kopie eines Dokuments ist identisch mit dem Original.

        Im Digitalen ist die Kopie eines Dokuments (idealerweise) nicht vom Urdokument zu unterscheiden.

        Die kulturelle Evolution ist daher mit Schrift und noch mehr mit dem Buchdruck teilweise zum Stillstand gekommen, besonders die Religionen auf der Basis der heiligen Schriften.

        Hört sich, jetzt mal ganz unter uns, ganz schlecht an.
        Es gab im Primatenwesen und die Kultur betreffend mehrere Umbrüche oder Paradigmenwechsel:
        Die Erfindung der Sprache, der Schrift, des Buchdrucks und der netzwerkbasierten Verlautbarung.
        Der geschätzte Herr Dr. Lobin scheint hier auch “irgendwie” unterwegs zu sein.

        Dagegen geht die Evolution der Wissenschaft weiter, weil neue Erkenntnisse in die Bücher eingehen. Aber die alten Bücher bleiben unverändert erhalten, im Unterschied zur biologischen Evolution.

        Genmaterial des Lebens (der Biosphäre) bleibt mittlerweile auch recht gut erhalten, ähnlich Büchern; übrigens ist auch bei alten Büchern nicht immer klar, was Schrift & Wort seinerzeit genau gemeint haben könnten.

        MFG
        Dr. W

        • @Dr.Webbaer;
          Im großen und ganzen bestätigen Sie meine Ansicht, dass der Begriff der Evolution erst durch die näher bezeichneten Inhalte Bedeutung erhält und somit auf verschiedene Entwicklungsformen anwendbar ist.

          Eine digitale Kopie eines Originals ist selbstverständlich so gut wie identisch mit dem Original, das ist letztlich der Zweck der Digitalisierung. Dennoch sind immer zufällige Fehler möglich, die im Digitalbereich nur selten in Erscheinung treten. Gerade solche Fehler machen die Evolution aus. Eineiige Zwillinge sind im Embryonalstadium noch genetisch identisch, aber mit zunehmender Lebenszeit können sich bei den Zellteilungen genetische Fehler einschleichen. Das ist jedoch keine gesetzmäßige und determinierte Notwendigkeit.

          Man kann hier selbstverständlich nicht alle Eventualitäten und Abweichungen von der Regel ausdiskutieren. Die Evolution, insbesondere die biologische, ist äußerst komplex und wird daher oft missverstanden. Gerade die inhärente Zufälligkeit ist ein Hauptziel der Missverständnisse und der Ablehnung, weil es keine Zufälligkeit im Sinne des Glücksspiels ist, sondern eine scheinbare Zufälligkeit im Sinne der Komplexität. Der Ausgangspunkt jeder Evolution ist die Variabilität der Reproduktion, sei sie absichtlich oder unabsichtlich fehlerhaft.

    • @Anton Reutlinger
      Versuch und Irrtum wären eine volkstümliche Umschreibung für die befördenden und hemmenden Einflüsse, die für gestalt- oder strukturbildende Prozesse kennzeichnend sind und üblicherweise mit Selbstorganisation assoziiert werden. Solche Einflüsse treiben e.g. auch die Morphogenese eines Broccoli an, doch würden Biologen dies sicherlich nicht “Evolution” nennen wollen. Die Darwinsche Evolution passt zwar prinzipiell auch in dieses Schema, doch hat sie zudem als Charakteristikum, dass der Versuch (Variation) im Genotyp und der Irrtum (Selektion) im Phaenotyp ansetzt, wobei nur der Genotyp reproduktiv vererbt wird.

      Wenn nun die Darwinsche Evolution als Modell für kulturelle Entwicklung herhalten soll, dann sollte insbesondere gesagt werden, was im kulturellen Kontext mit Genotyp, Phaenotyp, sowie dem Mechanismus der Reproduktion korrespondieren soll, sonst fehlt der eigentliche Bezug zu Darwin.

      Dennett schreibt (in seinem Beitrag aus der NASA Kollektion): “What is a meme made of? It is made of information, which can be carried in any physical medium.” So ziemlich das einzige, was eine Analogie von Gen und Mem motiviert, scheint mir letztlich ein unreflektierter Gebrauch des Begriffs Information zu sein. Von Information schlechthin lässt sich gar nicht sprechen, und ohne Konkretisierung, ohne eine kontextuelle Begriffsbestimmung bleibt Dennetts Rede von memetischer Kulturevolution auch nur eine sinnleere Sprechblase.

  18. @Martin Holzherr, @Chrys;
    Zu den letzten Beiträgen habe ich keinen nennenswerten Einwand. Versuch und Irrtum erfüllen die wesentlichen Kriterien der Evolution. Ein wissenschaftliches Experiment wird ausgewertet und ein erneutes Experiment wird reproduziert, mit Variationen auf Grund der selektierten Werte des ausgeführten Experiments. Es sind also Reproduktion, Variation und Selektion vorhanden. Aber es gibt keinen Stammbaum im biologischen Sinn, sondern nur eine lineare Abfolge reproduzierter Experimente. Der Anfang des Experiments setzt nicht bei Null an, sondern abrupt auf den Vorkenntnissen des Experimentators. Und selbstverständlich hat die Serie ein Ende, wenn Verbesserungen nicht mehr zu erwarten sind, wenn Fehler/Irrtümer ausgemerzt sind – oder wenn das Geld ausgeht. Der evolutionäre Vorgang beschränkt sich also auf eine begrenzte Episode.

    Ob man dafür den Begriff Evolution für angemessen hält, das ist wohl eine Frage der subjektiven Anschauung oder der gesellschaftlichen Konvention. Ganz sicher wird der Begriff manchmal großzügig und inflationär gebraucht. Man könnte eine Norm formulieren, wie die DIN-Normen für technisch bedeutende Begriffe.

  19. @Anton Reutlinger

    : »Der Begriff der Evolution ist nur eine leere Hülle.«

    Das in meinen Augen Verrückte ist ja, dass praktisch jeder Bildungsbürger, wenn man ihn kontextfrei mit dem Begriff „Evolution“ konfrontiert, an die biologische Variante des Begriffs denkt und ihn dennoch mit „Entwicklung“ oder „Fortschritt“ gleichsetzt, wenn’s hoch kommt, vielleicht noch mit „Wandel“.

    Nun gibt es aber für den „Wandel“ eines beliebigen Gegenstandes alle möglichen Ursachen. Wenn man dennoch Wandel im Sinne einer Evolution meint, dann steht in aller Regel wieder der biologische Evolutionsbegriff Pate, denn dann werden für den Wandel bestimmte „Mechanismen“ reklamiert, ursächliche „Prinzipien“, wie sie eben seit Darwin mit dem Evolutionsprozess in Verbindung gebracht werden.

    In der Biologie ist der Evolutionsbegriff (heute!) definitiv ein anderer als z.B. in der Kosmologie, Geologie oder in den Kulturwissenschaften. Bemerkenswerterweise gibt es weder in der Kosmologie, Geologie noch in den Kulturwissenschaften explizite Evolutionstheorien bzw. eine Evolutionslehre. Mit Recht, denn wenn außerhalb der Biowissenschaften der Begriff Evolution schlicht für Wandel, Entwicklung oder Fortschritt steht, in oder bei was auch immer, dann wüsste ich nicht, worin eine sinnhafte Wandels-, Entwicklungs- oder Fortschrittslehre bestehen könnte.

    Es ist wohl kein Zufall, dass, wann immer von kultureller Evolution die Rede ist, implizit Bezug genommen wird auf den biologischen Evolutionsbegriff. Die Evolution im biologischen Sinne scheint, bei aller Verschiedenheit, die Blaupause für jede Form einer kulturellen Evolution zu sein. Und das, obwohl „Evolution“ von der ursprünglichen Wortbedeutung her überhaupt nicht wiedergibt, was dem Wandel der Lebensformen zugrunde liegt. Aber es gibt ja auch Kulturwissenschaftler, die ausdrücklich den Fortschrittsgedanken vertreten, wenn sie Evolution sagen, und dabei darauf hinweisen, Evolution habe schon immer Entwicklung/Entfaltung bedeutet, und dass Biologen nun diesen Begriff fälschlicherweise für den Wandel der Arten verwenden, dafür könnten sie ja nichts (und ‚Evolution‘ sagen sie vermutlich, weil es bedeutsamer klingt als ‚Entwicklung‘).

  20. @Anton Reutlinger

    : »Der Begriff der Evolution ist nur eine leere Hülle. Sie muss gefüllt werden mit den Mechanismen der Evolution. Das ist die Reproduktion, die Variation und die Selektion. Außerhalb der Biologie hat man dafür andere Bezeichnungen, z.B. Versuch und Irrtum.«

    „Versuch und Irrtum“ sind meiner Auffassung nach nicht kennzeichnend für das biologische Evolutionsgeschehen (inwiefern im übertragenen Sinne für Selbstorganisation oder Wachstumsprozesse, müsste @Chrys mal näher ausführen), sondern für individuelle Lernprozesse. Dem biologischen (genetischen) „Lernen“ der Organismen über Generationen hinweg liegt etwas völlig, ja kategorial anderes zugrunde als dem Lernen eines Nervensystems, welches eben in diesem Prozess des genetischen „Lernens“ erst entstanden ist.

    Damit kommen wir zu den sogenannten „Mechanismen“ der Evolution, die im Falle von Variation und Selektion wohl auch ziemlich „leere“ Begriffe sind, die erst gefüllt werden müssen.

    „Variation“ steht für das Phänomen, dass Organismen sich nicht perfekt reproduzieren können. Mit der „Selektion“ ist es etwas komplizierter, diese Metapher steht für das Phänomen, dass nur ein winziger Teil der großen Nachkommenschaft das Glück hat, zu überleben und selber wieder Nachkommen produzieren zu können.

    Das heißt, imperfekte Reproduktion und jede Menge Zufallsereignisse entscheiden offenbar wesentlich über den Verlauf der Evolution der Lebensformen.

    In diesem Szenario gibt es keine Versuche und auch keinen Irrtum. Das sind Zuschreibungen, die wohl gemacht werden, um ein bestimmtes Bild, eine vorgefasste Meinung zu bestätigen. Metaphern sind stets mit Vorsicht zu genießen, allzu leicht gerät man da aufs falsche Gleis.

    Für den biologischen Evolutionsbegriff ist essentiell, dass die sogenannte „Selektion“ natürlich ist. Beim kulturellen Evolutionsbegriff scheint man auf dieses Attribut keinen allzu großen Wert zu legen.

    Darüber hinaus ist zu bedenken, dass die „natürliche Selektion“ („natural selection“) bereits eine recht unglücklich gewählte, weil missverständliche Metapher ist, die das Wesentliche nicht trifft. Und das Wesentliche ist, nicht nur in meinen, sondern auch in Darwins Augen, die „natürliche Erhaltung“ (das schreibt Darwin in einem Brief an Lyell am 28.09.1860).

    Im Übrigen, Herr Reutlinger, die Wiederholung eines Experiments würde ich nicht als Reproduktion bezeichnen, auch wenn Forscher hin und wieder versuchen, die Ergebnisse von Kollegen zu reproduzieren. Der Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis ist wohl steinig, aber nicht evolutionär.

    Nicht zuletzt soll das Verfahren „Versuch und Irrtum“ zu einem bestimmten Ergebnis führen. In der Evolution ist das „Ergebnis“ ein Nebeneffekt der organismischen Lebensprozesse. Im Grunde ist die ganze Evolution (im biologischen Sinne) nicht mehr als eine generationenübergreifende Begleiterscheinung des Lebens.

    • @Balanus

      Was die Morphogenese angeht, da dachte ich im Prinzip an Vorgänge, die hier näher ausgeführt sind.

      Als ein Oberbegriff dazu wären Reaction-Diffusion Systems zu nennen, die vielfältige Anwendungen haben, “ranging from chemical and biological phenomena to medicine (physiology, diseases, etc.), genetics, physics, social science, finance, economics, weather prediction, astrophysics, and so on” (Encyclopedia of Nonlinear Science).

    • @Chrys

      Ok, und wo nun ist die (nichtlineare?) Verbindung zwischen den befördernden und hemmenden Einflüsse mit der volkstümlichen Umschreibung „Versuch und Irrtum“?

      Ich bin ja nun auch ein Teil des Volkes, aber mir drängt sich da keine Assoziation in diese Richtung auf. Aber egal, das müssen wir hier nicht vertiefen.

      Interessanter ist da schon, dass überhaupt das Trial-and-error-Prozedere mit dem Evolutionsprinzip in Verbindung gebracht wird. Als seien die Individuen, die es nicht bis zur eigenen Fortpflanzung schaffen, so etwas wie Irrtümer der Natur, bloße Fehlversuche. Ich halte das, ich erwähnte es schon, für ein völlig falsches Bild. Neuwagen gleichen Typs variieren in ähnlicher Weise wie die Nachkommen einer Stubenfliege, nämlich kaum. Wenn manche Fahrzeuge früher in die Werkstatt müssen als andere, spricht ja auch keiner von Fehlversuchen oder Irrtümern bei der Produktion.

      Aus alledem folgt, dass ein evolutives System (im engeren Sinne) nach ganz anderen Prinzipien funktioniert als gemeinhin vermutet. So wie ich das sehe, sind für ein solches System Notwendigkeit und Zufall bzw. Kontinuität und Kontingenz absolut konstitutiv. Ohne diese „Strukturmomente“ (Joachim Track, in: Rolf Siewing (Hrsg), Evolution,1982) kann es kein evolutives System geben, das seinen Namen verdient.

      Herr Lobin hat oben angedeutet, es könne neben biologischen und kulturellen auch mathematische evolutive Systeme geben. Ich kenne mich in der Mathematik nicht aus, aber der Zufall gehört wohl nicht zu den mathematischen Prinzipien, oder?

        • Verstehe. Dann geht das Argument wohl so: Wenn John Maynard Smith‘ Spieltheorie ökonomisches Verhalten beschreiben kann und in modifizierter Form auch die Dynamik biologischer, evolvierender Populationen, dann liegt der Schluss nahe, dass es sich auch bei der Kultur um ein evolutives System handelt oder zumindest handeln könnte.

      • @Balanus
        Die Verbindung verstehe ich mit etwas Phantasie und gutem Willen dahingehend, dass den wissenschaftlich weniger als Du Geübten durchaus befördernde Einflüsse als “Versuch” und hemmende Einflüsse als “Irrtum beim Versuch” von Mutter Natur, irgendwas zu bewerkstelligen, einleuchten mögen. Ein mäandrierender Flusslauf kommt etwa dadurch zustande, dass das Wasser sich seinen Weg sucht. Es versucht, irgendwie nach weiter unten zu kommen und stösst dabei hin und wieder auf Hinderungen, die es dazu zwingen, sein Bestreben in eine andere Richtung zu lenken. Wesentlich ist dabei doch, dass strukturbildende Prozesse in der Natur sich so gut wie immer auf antagonistisch auftretende Mechanismen (Kräfte, Agenten, …) zurückführen lassen, was auch beliebig komplex organisiert sein kann.

        Schau doch beispielsweise einmal bei scholarpedia unter Dynamical systems nach, wie oft und in welchem Sinne dort das Wort “evolution” verwendet wird. Auch Deine Frage nach dem Zufälligen wird dort wohl beantwortet.

        • @Chrys

          Fein, auf scholarpedia lese ich:

          »A dynamical system can be considered to be a model describing the temporal evolution of a system.«

          Ist ja alles schön und gut, die Sache mit den dynamischen Systemen, doch was bringt mir das bei der Frage, ob ein beliebiges kulturelles Phänomen Produkt, Ergebnis oder Ausfluss eines solch evolutiven Systems ist?

          Was den Zufall angeht, da habe ich offenbar Recht mit meiner Annahme, dass der in der Mathematik nur simuliert werden kann.

          • @Balanus

            Es ist doch irrelevant ob Zufall nur simuliert werden kann, oder erzeugt. Die Mathematik kann auf jeden Fall mit ihm rechnen. Und das sollten wir auch. Es könnte uns einen evolutionären Vorteil bringen, zufälligerweise, oder auch nicht.

          • Evolutionärer Vorteil?

            Wenn es Dir darum geht, dann mach’s wie die Amish, Mormonen und vor allem Haredim, die haben verstanden, wie Evolution funktioniert: Kinder, Kinder, Kinder…

            (Oder müsste ich sagen: wie Evolutionen funktionieren… es gibt ja nicht nur die eine…)

          • @ Balanus

            Kinder, Kinder? – Aber,aber; es geht bei der Evolution ja gar nicht nur um Reproduktion. Es geht doch auch um Selektion. Da schrecken mich die aus der Geschichte und Gegenwart bekannten interreligiösen Selektionsmechanismen. Und es geht um Variation. Haredim? Ich mache es wie ein Harlekin.

          • Verstehe, Du willst das religionsbiologische Schlachtfeld anderen überlassen…

          • @Joker

            »Aber,aber; es geht bei der Evolution ja gar nicht nur um Reproduktion.«

            Das verstehe ich jetzt nicht. Nach NdG-Lesart ist das bedingungslose Wachstum einer Population doch das einzige Kriterium für deren evolutionären Erfolg, denn Stillstand ist Rückschritt, ist “Verebben”. Hat der studierte Theologe Darwin das etwa nicht so gesagt?

            @Balanus

            Worauf Du mit dem Zufall da eigentlich hinauswillst, habe ich leider auch nicht recht verstanden.

          • @Chrys, @Joker

            Betr. Zufall:

            Es ging mir darum, zu klären, ob es außer dem biologischen evolutiven System auch mathematische evolutive Systeme geben könnte, also Verfahren, wo das Ergebnis mehr oder weniger systematisch vom Zufall abhängt. Es hätte ja sein können, dass mir auf dem Felde der Mathematik etwas entgangen ist. Aber inzwischen hat Herr Lobin ja klargestellt, worauf er hinaus wollte. Damit hat sich die Sache erledigt.

          • @Balanus
            Eine formale Auseinandersetzung mit Darwinscher Evolution ist schwierig, was in merkwürdigem Kontrast zu der Einfachheit der postulierten Regeln von Variation und Selektion zu stehen scheint. Über einen informationstheoret. Ansatz hat sich insbesondere Gregory Chaitin Gedanken gemacht, und hier schreibt er:

            In my opinion, if Darwin’s theory is as simple, fundamental and basic as its adherents believe, then there ought to be an equally fundamental mathematical theory about this, that expresses these ideas with the generality, precision and degree of abstractness that we are accustomed to demand in pure mathematics.

            Inzwischen hat Chaitin auch ein Buch dazu verfasst (Proving Darwin, Pantheon Books, 2012), wo er u.a. auch auf Maynard Smith und Dawkins kommt.

            Der Kurzschluss, dass “informationstheoret. Ansatz” irgendwie doch ganz gut zu Memen passen würde, die etwa Dennett zufolge vermeintlich aus “Information” bestehen, ist aber unbedingt zu vermeiden, denn Chaitin versteht schliesslich unter Information ganz etwas anderes als Dennett.

            Inwieweit sich die Prinzipien Darwinscher Evolution sinnvoll auf andere Bereiche übertragen lassen, bleibt einstweilen unklar. Das besondere Merkmal von genotypischer Variation und phaenotypischer Selektion ist in strikten Sinne wohl auch Neo-Darwinismus; Darwin selbst hatte ja noch kein Wissen über Genetik. Wenn nun irgendwie von Mechanismen der Variation und Selektion die Rede ist, auch ohne ersichtliche Entsprechungen zu Genotyp und Phaenotyp, dann ist es nicht so erstaunlich, wenn dies bereits mit Darwinscher Evolution assoziiert wird, selbst wenn das mit dem biologischen Vorbild dann kaum noch offensichtliche Gemeinsamkeiten hat.

          • @Chrys

            War einige Tage ohne Rechner unterwegs, konnte darum nicht früher antworten.

            Erstmal danke für den Link zum Chaitin-Artikel, ist schon irgendwie witzig zu sehen, wie Darwins Erkenntnisse bis heute die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise beschäftigen.

            Du schreibst:

            » Inwieweit sich die Prinzipien Darwinscher Evolution sinnvoll auf andere Bereiche übertragen lassen, bleibt einstweilen unklar.«

            Darwin erkannte diese Prinzipien, weil er Vorgänge aus anderen, eben kulturellen Bereichen (Tier– und Pflanzenzucht) auf die Vorgänge in der Natur übertrug. Im Grunde geht es jetzt darum, weitere kulturelle Bereiche zu entdecken, in denen die Vorgänge und der Wandel der „Dinge“ auf ähnliche Weise ablaufen wie in der Tier- und Pflanzenzucht, so dass ein universales Evolutionsprinzip postuliert werden kann (oder man verwechselt den Prozess der Selbstorganisation des Organischen mit der Evolution).

            „Darwinismus“ bedeutet für mich lediglich, dass der Ursprung der Arten auf natürliche (naturwissenschaftliche) Weise erklärt werden kann. Von daher macht der (eher weltanschauliche) Begriff „Neo-Darwinismus“ (für mich) keinen Sinn.

            Der zentrale Punkt bei alledem ist, meiner Ansicht nach, dass Evolution im darwinschen Sinne (also nicht im Sinne von „Entwicklung“) ein reiner Naturvorgang ist, da kann der Mensch machen und züchten und ausrotten, was er will, es bleibt ein natürliches Geschehen, das war es vor seinem Erscheinen, und das wird es auch nach seinem Verschwinden noch sein.

            Im Gegensatz dazu verschwindet die sogenannte kulturelle Evolution gemeinsam mit dem Menschen.

            Ende und aus!

          • @Balanus
            Abschliessend noch zur Klärung angemerkt:

            »Von daher macht der (eher weltanschauliche) Begriff „Neo-Darwinismus“ (für mich) keinen Sinn.«

            Peter Schuster sagt das so:

            In the 1940s, finally, Darwinian evolution and Mendelian genetics were united in the Synthetic or Neo-Darwinian Theory of Evolution by the works of the experimental biologists Theodosius Dobzhansky, Julian Huxley, Ernst Mayr, and others (Mayr, 1997).

            Keine Ahnung, ob mit Neo-Darwinismus anderweitig auch eine Weltanschauung gemeint ist.

            Ein Grundproblem beim Darwinismus entsteht wohl daraus, dass die Vorstellungen von Variation und Selektion so vage und vieldeutig sind, dass sie sich mit etwas Phantasie praktisch ubiquitär in Zusammenhang mit selbstorganisierter Musterbildung anbringen lassen. So ist dann auch eine Idee von Universal-Darwinismus als einer Art “Theory Of Everything” nicht wirklich überraschend, wenn man bedenkt, wie die Leute gemeinhin so ticken.

        • @Balanus

          Du schreibst:
          “Im Grunde geht es jetzt darum, weitere kulturelle Bereiche zu entdecken, in denen die Vorgänge und der Wandel der „Dinge“ auf ähnliche Weise ablaufen wie in der Tier- und Pflanzenzucht, so dass ein universales Evolutionsprinzip postuliert werden kann (oder man verwechselt den Prozess der Selbstorganisation des Organischen mit der Evolution).”

          Unternehmen innerhalb eines Marktes evolvieren auf eine ganz ähnliche Weise (z. B. die Automobilhersteller). Allerdings sind im kulturellen Bereich Kompetenzteilungen üblich (man spricht dann z. B. von Kernkompetenzen), die man in der Biologie noch nicht kennt. Deshalb sind die Darwinschen Prinzipien nicht auf komplexe kulturelle Evolutionen anwendbar. Man muss sie zuvor erweitern.

          Neo-Darwinismus ist keine Ideologie. Der Begriff steht für die Nicht-Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften bzw. die Weismann-Barriere als Ergänzung zur Darwinschen Selektionstheorie.

          “Der zentrale Punkt bei alledem ist, meiner Ansicht nach, dass Evolution im darwinschen Sinne (also nicht im Sinne von „Entwicklung“) ein reiner Naturvorgang ist, da kann der Mensch machen und züchten und ausrotten, was er will, es bleibt ein natürliches Geschehen, das war es vor seinem Erscheinen, und das wird es auch nach seinem Verschwinden noch sein.”

          Der Mensch könnte die ganze Erde in die Luft sprengen. Dann wäre auch die biologische Evolution zu einem Ende gekommen.

          “Im Gegensatz dazu verschwindet die sogenannte kulturelle Evolution gemeinsam mit dem Menschen.”

          Muss nicht zwingend so sein. Eine viel spätere Art (oder auch eine ET-Art) könnte das, was der Mensch vielleicht in einem sehr geschützten Bunker auf einer kaum alternden Grundlage hinterlassen hat, nach 100.000 Jahren entziffern und nutzen. Der Mensch ist das bislang einzige Lebewesen, das einen Teil seiner Kompetenzen außerhalb seines Körpers speichern und tradieren kann. Darin ist er einzigartig.

          • @Lena

            » Deshalb sind die Darwinschen Prinzipien nicht auf komplexe kulturelle Evolutionen anwendbar.«

            Und deshalb haben kulturelle „Evolutionen“ und die organismische Evolution nichts gemeinsam außer dem Begriff „Evolution“.

            »Neo-Darwinismus ist keine Ideologie. Der Begriff steht für die Nicht-Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften bzw. die Weismann-Barriere als Ergänzung zur Darwinschen Selektionstheorie.«

            Darwin konnte die Vererbbarkeit bestimmter erworbener Eigenschaften nicht ganz ausschließen, das stimmt (gewisse transgenerationale epigenetische Phänomene scheinen ihm da ein Stück weit Recht zu geben). Dennoch bezeichnet „Darwinismus“, nach meinem Verständnis, nicht dasselbe wie „Evolution“, „Evolutionsbiologie“ oder „Evolutionslehre“. Dasselbe gilt für „Neo-Darwinismus“. Es sind halt „Ismen“ (der Naturalismus ja auch keine Naturwissenschaft).

            »Der Mensch könnte die ganze Erde in die Luft sprengen. Dann wäre auch die biologische Evolution zu einem Ende gekommen.«

            Allenfalls die irdische Evolution.

            Wenn Sie „biologische“ Evolution schreiben, dann bedeutet „Evolution“ für Sie wohl schlicht „Entwicklung“. Richtig?

          • @Balanus

            Balanus: “Und deshalb haben kulturelle ‘Evolutionen’ und die organismische Evolution nichts gemeinsam außer dem Begriff ‘Evolution’.”

            Das ist eine mutige Behauptung, die von etlichen Evolutionstheoretikern bestritten wird. Es gibt auch eine Verallgemeinerung der Darwinschen ET – nämlich die Systemische Evolutionstheorie -, die behauptet, geeignete verallgemeinerte Evolutionsprinzipien gefunden zu haben. Das Problem dabei ist: Man muss zunächst einmal die gesamte Begriffswelt verallgemeinern, so wie es Einstein getan hat, als er Newtons Gravitationstheorie mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie für das gesamte Universum verallgemeinerte. Bei Newton kommen die Begriffe Lichtgeschwindigkeit und Raumzeitkrümmung noch nicht vor. Bewegt man sich in unserer heimischen Umgebung (“Apfel fällt vom Baum”), dann kommen beide Theorien jedoch zu identischen Ergebnisseen. Genauso sollte es auch bei einer Verallgemeinerung der Evolutionsprinzipien sein.

            Das Allgemeine, das gemäß der Systemischen Evolutionstheorie in Evolutionen evolviert, ist Wissen (pragmatische Informationen), oder in ihren Worten: Kompetenzen. Evolutionsakteure (auch Lebewesen) sind sogenannte (Kern-)Kompetenzverlust vermeidende Systeme. Diese Charakterisierung umfasst bei Organismen sowohl die Selbsterhaltung (und den Metabolismus) als auch die Fortpflanzung. Selbsterhaltung und Fortpflanzung sind im Sinne der Systemische Evolutionstheorie folglich nur zwei Teilprozesse eines umfassenderen Prozesses, nämlich der Kompetenzverlustvermeidung.

            Balanus: “Es sind halt ‘Ismen’ (der Naturalismus ja auch keine Naturwissenschaft).”

            Ja, die Begriffe sind unschön, das finde ich auch. Dennoch werden sie weiterhin reichlich gebraucht, insbesondere im angelsächsischen Sprachraum und von Biologen. Selbst Dawkins spricht regelmäßig vom Darwinism. Er bezeichnet sich selbst als Darwinisten.

            Balanus: “Allenfalls die irdische Evolution.”

            Wir wissen bislang nicht, ob es jenseits unseres Sonnensystems noch eine weitere biologische Evolution gibt. Selbst Jacques Monod hielt das für eher unwahrscheinlich. Auch ist das Lebensproblem (wie konnte aus unbelebter Materie irgendwann Leben entstehen) bislang völlig offen und ungeklärt.

            Balanus: “Wenn Sie ‘biologische’ Evolution schreiben, dann bedeutet ‘Evolution’ für Sie wohl schlicht ‘Entwicklung’. Richtig?”

            Nein, falsch. Zweifellos finden auf unserer Erde auch soziokulturelle Evolutionen statt, die den gleichen Evolutionsprinzipien gehorchen wie die biologische Evolution. Allerdings beruhen sie nicht auf genetischem Wissen, sondern auf anderem (soziokulturellem) Wissen, das aber ebenfalls tradiert, akkumuliert und adaptiert wird. Auch existieren längst Populationen aus Superorganismen (z. B. Unternehmen auf Märkten), die auf einer höheren Ebene genauso evolvieren, wie es Populationen aus Zaunkönigen tun.

            Charakteristisch für Evolution ist die langfristige Adaption an die Umwelt (d.h. die Wissensanreicherung). Entwicklung hat hingegen nichts direkt mit Adaption zu tun. Deshalb sind Entwicklungen zumeist von relativ kurzer Dauer, während die biologische Evolution nun immerhin schon 4 Mrd. Jahre andauert.

            Wir Menschen sind die bislang einzige biologische Art, die zu echter Kompetenzteilung fähig ist. Deshalb kann es für uns selbst aus evolutionären Gründen durchaus attraktiv sein, keine eigenen Nachkommen zu haben. Jesus Christus, Ludwig van Beethoven, Kurt Gödel (um nur einige wenige Beispiele zu nennen) hatten alle keine eigenen Nachkommen, hinterließen jedoch ein riesengroßes kulturelles Erbe (kulturelle Kompetenzen), das weit über ihren Tod hinausreicht.

            Und deshalb sind wir zu größerer Adaption in der Lage, als jede andere Art. Es gibt Menschen, die spezialisieren sich auf ein winzig kleines Sachgebiet und reichern das Wissen darüber an. Andere tun das bei anderen Sachgebieten. In der Summe erlangt so die Menschheit Expertise in ganz verschiedenen Sachgebieten. Keine andere Art ist dazu in der Lage.

            Kompetenzteilung ist ein Begriff, der in der Darwinschen Evolutionstheorie noch überhaupt keine Rolle spielt. Es gibt nicht einmal einen Begriff dafür, denn angeblich streben alle Lebewesen danach, ihre eigenen Gene im Genpool zu mehren. Angeblich verhalten sich alle Lebewesen gen-egoistisch. Aus all diesen Gründen passt die Darwinsche Evolutionstheorie nicht mehr, wenn man den Menschen und seine soziokulturellen Evolutionen in Betracht ziehen möchte. Dies gilt auch für die Memetik.

          • @Lena

            »Kompetenzverlustvermeidung.«

            Das erinnert mich an Darwins „natural preservation“ anstelle von „natural selection“ (in einem Brief an Lyell am 28.09.1860).

            Das heißt, als Grundlage der Evolution einen Prozess der (Selbst-)Erhaltung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten zu sehen, ist so verkehrt nicht.

            Nur, wo finden wir denn solche Prozesse außerhalb der belebten Umwelt?

            In meinen Augen sind die von Ihnen und anderen propagierten soziokulturellen „Evolutionen“ lediglich ein Teilaspekt der natürlichen Evolution. Wenn sich bei der Weitergabe von Wissen und Kultur Vorgänge finden lassen, die dem natürlichen Evolutionsprozess ähneln, dann liegt das vielleicht schlicht daran, dass die Spezies, die dieses evolvierte Verhalten zeigt, selbst das Ergebnis eben dieses natürlichen Evolutionsprozesses ist. Alles, was der Mensch veranstaltet, findet im Rahmen der natürlichen Evolution statt, die m. E. alles Lebendige voll umfasst. Wenn viele Menschen etwas zusammen unternehmen, dann entsteht daraus kein „Superorganismus“ namens “Unternehmen”. Wie sich Unternehmen, die ja kein Eigenleben besitzen, auf Märkten entwickeln, wird durch andere Gesetzmäßigkeiten bestimmt als die Veränderungen in Tier- und Pflanzenpopulationen. Daran ändert sich auch nichts, wenn ich zur Beschreibung der jeweiligen Veränderungen die gleichen mathematischen Werkzeuge verwenden kann.

            Wenn ich zurückblicke, dann sucht der Mensch schon fast von Anbeginn an eine Erklärung für die Vielfalt der Lebewesen. Eine Erklärung für die Vielfalt der Kulturen oder Kulturprodukte sucht er aber erst seit relativ kurzer Zeit, nämlich erst seitdem es wissenschaftlich fundierte (biologische) Evolutionstheorien gibt. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht?

            »Charakteristisch für Evolution ist die langfristige Adaption an die Umwelt (d.h. die Wissensanreicherung). Entwicklung hat hingegen nichts direkt mit Adaption zu tun. «

            Ok, dann haben Sie sich also von der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs Evolution gelöst. Für E. B. Tylor beispielsweise bedeuteten Entwicklung (“development”) und “evolution” noch in etwa dasselbe, als er 1871 sein Buch: „Primitive culture: researches into the development of mythology, philosophy, religion, art, and custom“ verfasste.

            Was die „langfristige Adaption“ anbelangt: Lebensformen waren schon immer an die Umwelt, in der sie existieren konnten, „angepasst“, das war vor drei oder vier Milliarden Jahren nicht anders als heute. Der Witz bei der natürlichen Evolution ist halt, dass diese generelle Anpassung an die Umwelt über die ganze Zeit hinweg erhalten geblieben ist. Nicht für die einzelnen Lebensformen, sondern ganz allgemein für das Prinzip „Leben“.

            »Selbst Dawkins spricht regelmäßig vom Darwinism. Er bezeichnet sich selbst als Darwinisten.«

            Soweit ich sehe macht er das vor allem deshalb, um sich von Kreationisten und IDlern abzugrenzen. Eine Rolle könnte aber auch spielen, sich innerhalb der Evolutionsbiologie zu positionieren, denn es herrscht ja keineswegs Einigkeit über die Wichtigkeit der einzelnen Evolutionsmechanismen für den Gesamtprozess.

            »Und deshalb [wegen der Kompetenzteilung] sind wir zu größerer Adaption in der Lage, als jede andere Art.«

            Mit Adaption meinen Sie hier ein der jeweiligen (Umwelt-)Situation angepasstes Verhalten. Das hat mit dem Effekt der Adaption infolge der natürlichen Evolution nichts zu tun.

          • @Balanus

            Balanus: “Das heißt, als Grundlage der Evolution einen Prozess der (Selbst-)Erhaltung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten zu sehen, ist so verkehrt nicht.”

            Dies ergibt sich indirekt auch aus dem 2. HS der Thermodynamik. Siehe dazu auch die Erläuterungen von Addy Pross in “What is Life”.

            Balanus: “Nur, wo finden wir denn solche Prozesse außerhalb der belebten Umwelt?”

            Sie sind charakteristisch für das Leben und für alles, was darauf aufbaut.

            Balanus: “In meinen Augen sind die von Ihnen und anderen propagierten soziokulturellen „Evolutionen“ lediglich ein Teilaspekt der natürlichen Evolution. Wenn sich bei der Weitergabe von Wissen und Kultur Vorgänge finden lassen, die dem natürlichen Evolutionsprozess ähneln, dann liegt das vielleicht schlicht daran, dass die Spezies, die dieses evolvierte Verhalten zeigt, selbst das Ergebnis eben dieses natürlichen Evolutionsprozesses ist. Alles, was der Mensch veranstaltet, findet im Rahmen der natürlichen Evolution statt, die m. E. alles Lebendige voll umfasst.”

            Wenn Sie unter “natürlicher Evolution” lediglich jegliche Evolution verstehen, die als Naturprozess eigendynamisch operiert, stimme ich Ihnen zu (in diesem Sinne sind auch Apple, Amazon und die Deutsche Bank “natürlich”). Wenn Sie darunter jedoch Evolution auf der Grundlage der üblichen Evolutionsprinzipien inkl. natürlicher Selektion verstehen, dann stimme ich Ihnen nicht zu. Die höheren soziokulturellen Evolution lassen sich nicht mit den üblichen biologishcen Evolutionsprinzipien modellieren. Sie sind zu komplex.

            Balanus: “Wenn viele Menschen etwas zusammen unternehmen, dann entsteht daraus kein „Superorganismus“ namens “Unternehmen”.”

            Wenn sich Menschen zu einem Meeting zusammentreffen, dann nicht. Unternehmen sind aber eindeutig Superorganismen. Sie besitzen ein Eigenleben. Bienensozialstaaten übrigens auch. Sie sind sogar Warmblüter, obwohl die einzelnen Bienen Kaltblüter sind. Sie besitzen eigenständige Kompetenzen, Reproduktionsinteressen und Reproduktionsprozesse.

            Balanus: “Wie sich Unternehmen, die ja kein Eigenleben besitzen, auf Märkten entwickeln, wird durch andere Gesetzmäßigkeiten bestimmt als die Veränderungen in Tier- und Pflanzenpopulationen.”

            Große Unternehmen besitzen ein Eigenleben. Und: Sie evolvieren gemäß den gleichen Evolutionsprinzipien (der Systemischen Evolutionstheorie) wie z. B. Elefanten.

            Balanus: “Was die „langfristige Adaption“ anbelangt: Lebensformen waren schon immer an die Umwelt, in der sie existieren konnten, „angepasst“, das war vor drei oder vier Milliarden Jahren nicht anders als heute. Der Witz bei der natürlichen Evolution ist halt, dass diese generelle Anpassung an die Umwelt über die ganze Zeit hinweg erhalten geblieben ist. Nicht für die einzelnen Lebensformen, sondern ganz allgemein für das Prinzip „Leben“.”

            Das Besondere ist die Organisation des Lebens. Lebende Systeme (und Superorganismen) sind bestrebt, ihre Kernkompetenzen nicht zu verlieren (der 2. HS der TD zwingt sie dazu). Mit diesen Kompetenzen sind sie in der Lage, aus ihrer jeweiligen Umwelt Energie und andere Ressourcen zu beziehen. Gemäß 2. HS der TD gehen Ihre Kompetenzen bei Untätigkeit von selbst verloren. Also müssen sie reproduziert werden. Für diese Reproduktion werden Energie und andere Ressourcen benötigt. Diese erlangt man jedoch nur mit entsprechend leistungsstarken Kompetenzen (Darwin sprach von Anpassung). Dies ist der Kreislauf des Lebens. Lebende Systeme, die sterblich sind, müssen ihre Kompetenzen rechtzeitig auf andere lebende Systeme (z. B. Nachkommen) transferieren. Potenziell unsterbliche Systeme brauchen dies nicht.

            Der im Laufe der Evolution feststellbare Komplexitätszuwachs (bzw. die dabei beobachtbare Wissensanreicherung) kommt zustande, weil die einzelnen Systeme bestrebt sind, ihre Kompetenzen nicht zu verlieren (der 2. HS der TD zwingt sie dazu). Deshalb befinden sie sich ständig auf Nahrungssuche, bei der Ressourcenbeschaffung (beim Menschen: Geld) oder bei der Reproduktion.

            Nehmen Sie als einfaches Beispiel eine Sportart wie den Eiskunstlauf. Wenn einem Sportler ein 5-fach Toeloop gelingt, dann sind alle Wettbewerber über kurz oder lang dazu gezwungen, nachzuziehen. 20 Jahre später dürften 5-fach Toeloops dann zu den normalen Kompetenzen der Weltspitze gehören. Auf diese Weise entwickeln die Eiskunstläufer ihre Eiskunstlaufkompetenzen sukzessive weiter (es findet Evolution statt), obwohl eigentlich alle nur darum bemüht sind und waren, nicht schlechter (absolut und im Vergleich zum Wettbewerb) zu werden.

            Balanus: “… denn es herrscht ja keineswegs Einigkeit über die Wichtigkeit der einzelnen Evolutionsmechanismen für den Gesamtprozess.”

            Stimmt.

            Balanus: “Mit Adaption meinen Sie hier ein der jeweiligen (Umwelt-)Situation angepasstes Verhalten. Das hat mit dem Effekt der Adaption infolge der natürlichen Evolution nichts zu tun.”

            Nein. Hunde können Gerüche und auch bestimmte Tonfrequenzen viel besser wahrnehmen als Menschen. Man könnte fragen, warum das so ist. Die Antwort: Für den Menschen waren solche Kompetenzen nicht überlebenswichtig. Lebewesen können nicht alle Informationen ihrer Umwelt wahrnehmen und verarbeiten. Dazu wären ungeheure Kompetenzen erforderlich, für die ungeheure Mengen an Energie erforderlich wären, um sie zu bewahren (zu reproduzieren). Also fand per Evolution eine Beschränkung bei der Wahrnehmungsfähigkeit statt. Diese gilt aber nur für jedes einzelne Lebewesen.

            Der Mensch ist mit seiner Technologie (seiner Kultur) in der Lage, viel größere Informationsspektren wahrzunehmen und zu verarbeiten, als jedes andere Tier. Wir durchforsten sogar das Universum nach Radiowellen. Einzelne Menschen sind damit beschäftigt, ständig den Himmel mit bestimmten Geräten zu beobachten, um frühzeitig gefährliche Objekte, die die Erde treffen könnten, wahrzunehmen. Kein anderes Tier kann das.

            Wir Menschen können das aber auch nur aufgrund unserer Arbeitsteilung. Es sind einige wenige Menschen, die das können und die die entsprechenden teuren Geräte bedienen und auswerten. Fällt ihnen etwas Wichtiges auf, informieren sie den Rest der Welt. Das ist viel viel viel effizienter, als wenn jedes einzelne Individuum über entsprechende Fähigkeiten verfügen müsste (wie es bei den Tieren der Fall ist). Es ist unsere kulturelle Kompetenzteilung, die uns an jede erdenkliche Nische besser anpassen lässt, als darauf spezialisierte Tiere. Wir sind deshalb in der belebten Natur einzigartig.

            Ich glaube aber nicht, dass man dies ohne die Lektüre von “Die egoistische Information” wird tiefgreifend nachvollziehen können.

          • @Lena

            “Das ficht Personen wie Lena nicht an. […] Und sie war eine der ersten Personen, die Merschs (*) Potenzial erkannte. Deshalb ist sie irgendwie tatsächlich ein Superstar.

            Was Mersch (im Alter von über 60 Jahren) abliefert, ist genial, anders kann man es mittlerweile nicht mehr benennen.”

            (donquijote, http://www.atheisten.org/forum/viewtopic.php?f=10&t=8219&start=555)

            Sind Sie rein zufällig die Lena, auf die sich donquijote bezieht, sind Sie dieser Superstar? Und Sie sind nicht mit donquijote oder Herrn Mersch verwandt, verschwistert oder gar identisch?

            (*) Mersch ist der Autor von “Die egoistische Information”.

          • @Joker

            Hatten Sie noch irgendein inhaltliches Argument, das Sie gerne unterbringen möchten? Das Internet ist leider voll von Stalkern, die nur stören möchten und zu inhaltlicher Diskussion nicht in der Lage sind, deshalb kann ich zu Ihren sonstigen (nicht sachbezogenen) Fragen nichts sagen. Zur Systemischen Evolutionstheorie: Es reicht zunächst das zu lesen, was G. Vollmer dazu in Buchform hinterlassen hat.

          • Zur Memetik noch einmal (um die es hier hauptsächlich geht):

            Sehr aufschlussreich dazu sind insbesondere die beiden folgenden Artikel:
            1. http://cfpm.org/jom-emit/2005/vol9/edmonds_b.html
            Der Artikel befindet sich in der letzten Ausgabe des Journal of Memetics, danach wurde es eingestellt.

            2. “What’s the Matter with Memes?” von Robert Aunger in: Grafen, Alan/Ridley, Mark (Hrsg.) (2006): Richard Dawkins. How a Scientist Changed the Way We Think. Oxford: Oxford University Press, S. 176-188

            Robert Aunger war über mehrere Jahre einer der engagiertesten Memetiker. Er kommt in dem genannten Buch (das immerhin der wissenschaftlichen Arbeit Richard Dawkins’ gewidmet ist) zu dem Schluss, dass die Memetik auch konzeptionell gescheitert ist.

          • @Lena

            Begriffsklärung:

            »Wenn Sie unter “natürlicher Evolution” lediglich jegliche Evolution verstehen, die als Naturprozess eigendynamisch operiert, stimme ich Ihnen zu (in diesem Sinne sind auch Apple, Amazon und die Deutsche Bank “natürlich”).«

            Ich gebrauche hier „natürlich“ synonym zu „organismisch“, um den naturwissenschaftlichen Evolutionsbegriff vom kulturwissenschaftlichen oder umgangssprachlichen Evolutionsbegriff abzugrenzen. Organismen sind lebende Systeme, als Superorganismus würde ich einen arbeitsteiligen Verband von relativ selbstständigen Organismen bezeichnen (Bienenvolk, Ameisenstaat). Ob ein Menschenvolk (ein Stamm oder Staat) in diesem Sinne ebenfalls als Superorganismus bezeichnet werden muss, bezweifle ich. Da würde ich schon eher die gesamte belebte Natur als einen einzigen, riesigen Superorganismus betrachten.

            Die zweite Bedeutung von „natürlich“, die hier mitschwingt, ist „nicht künstlich“. Künstlich ist alles Menschengemachte, also Unternehmen wie Apple oder Amazon oder das Hausschwein.

            »Die höheren soziokulturellen Evolution lassen sich nicht mit den üblichen biologishcen Evolutionsprinzipien modellieren. Sie sind zu komplex.«

            Vielleicht liegt es aber auch bloß daran, dass es eben keine „höheren“ soziokulturellen „Evolutionen“ gibt. Die „üblichen biologischen Evolutionsprinzipien“ reichen hin, um die Entstehung kulturfähiger und geistbegabter Menschen zu modellieren (zumindest im Prinzip). Aber sie reichen nicht hin, um die Entwicklung vom Lagerfeuer zum Induktionsherd zu modellieren. Wenn Sie zeigen können, dass ein heutiger Elektrobackofen das Produkt eines soziokulturellen Evolutionsgeschehens ist, dass also die Entstehungsgeschichte vom Feuer bis zum Backofen (oder von der „Faustkeilwerkstatt“ zum Apple-Konzern) anhand bestimmter Gesetzmäßigkeiten nachgezeichnet werden kann (etwa analog zur Entstehung des Säugerauges), dann bin ich bereit, meine ablehnende Haltung gegenüber der „kulturellen Evolution“ zu überdenken.

            Die treibenden Kräfte der natürlichen Evolution sind blinde physikalische Gesetzmäßigkeiten. Die treibende Kraft der sogenannten soziokulturellen „Evolution“ ist hingegen der menschliche, vorausschauende Erfindungsgeist. Woraus folgt: Bei der „kulturellen Evolution“ handelt es sich um ein reines Hirngespinst, und zwar im Wortsinne.

            Wegen dieses fundamentalen Unterschieds sehe ich eigentlich keinen Grund, von irgendwelchen universellen Evolutionsprinzipien zu reden, die dem organismischen Evolutionsgeschehen übergeordnet wären. Es gibt sie einfach nicht.

            » Balanus: “Mit Adaption meinen Sie hier ein der jeweiligen (Umwelt-)Situation angepasstes Verhalten. Das hat mit dem Effekt der Adaption infolge der natürlichen Evolution nichts zu tun.”

            Nein….«

            Mir ist nicht ganz klar, worauf sich Ihr „Nein“ bezieht.

            Der sensorische Apparat stellt klarerweise eine Anpassung an die physikalische Umwelt dar. Für die Entstehung des menschlichen kognitiven Apparates spielten derlei Anpassungsmechanismen wohl keine Rolle. Sie schreiben:

            »Es ist unsere kulturelle Kompetenzteilung, die uns an jede erdenkliche Nische besser anpassen lässt, als darauf spezialisierte Tiere.«

            Wenn ich z. B. meine Kleidung der aktuellen Temperatur anpasse, dann ist das ein spezifisches Verhalten in Reaktion auf eine Umweltbedingung. Mit den evolutiv bedingten Anpassungen z. B. eines Eisbären an die Bedingungen seines Lebensraumes hat das nichts zu tun. Das war mein Punkt.

            Dass „unsere kulturelle Kompetenzteilung“ es uns ermöglicht, fast überall siedeln zu können, sogar auf dem Mond, bestreite ich natürlich nicht. Aber mit Adaption im evolutionstheoretischen Sinne hat auch das, nach meinem Verständnis, nichts zu tun.

            Systemtheorien sind Systemtheorien, und Evolution ist Evolution. Ich habe nichts gegen eine systemtheoretische Beschreibung oder Analyse des Evolutionsgeschehens und/oder gewisser kultureller Phänomene, und wenn sich da gewisse Gemeinsamkeiten zeigen, ist das für einen Systemtheoretiker sicherlich ein spannender Befund. Aber ich bezweifle, dass damit ein neues Licht auf den Evolutionsprozess oder auf kulturelle Entwicklungen geworfen wird.

          • @Lena

            Bei meiner Recherche zum Thema Systemische Evolutionstheorie und dem von Ihnen empfohlenen Buch “Die egoistische Information” bin ich auf den Kommentar von @donquijote gestoßen. Der hat mich tatsächlich etwas aus der Bahn geworfen, bitte entschuldigen Sie.

            Sie haben natürlich vollkommen recht, nicht auf meine Fragen zu antworten. Ich selbst nutze ja ebenfalls die Pseudonymität, beantworte weitere Anfragen zu meiner Person auch nicht und so soll es auch bleiben.

          • @Balanus

            Balanus: “Ich gebrauche hier „natürlich“ synonym zu „organismisch“, um den naturwissenschaftlichen Evolutionsbegriff vom kulturwissenschaftlichen oder umgangssprachlichen Evolutionsbegriff abzugrenzen.”

            Ich finde, dass eine solche Aufteilung aus naturwissenschaftlicher Sicht nur schwer zu argumentieren ist. Für mich gab es den Urknall (oder vielleicht auch nicht) und aus dem ist dann alles auf natürliche Weise (den Naturgesetzen gehorchend, kein Schöpfereingriff) entstanden. Menschen sind in dem Sinne auch nur Produkte des Urknalls, menschliche Organisationen dito.

            Balanus: “Organismen sind lebende Systeme, als Superorganismus würde ich einen arbeitsteiligen Verband von relativ selbstständigen Organismen bezeichnen (Bienenvolk, Ameisenstaat). Ob ein Menschenvolk (ein Stamm oder Staat) in diesem Sinne ebenfalls als Superorganismus bezeichnet werden muss, bezweifle ich. Da würde ich schon eher die gesamte belebte Natur als einen einzigen, riesigen Superorganismus betrachten.”

            Als Superorganismus würde man eine Gemeinschaft von Organismen bezeichnen, die eigenständige Kompetenzen gegenüber ihrer Umwelt besitzt (die mehr als die Summe der Kompetenzen ihrer Mitglieder sind), um daraus Ressourcen zu erlangen, und die ihre Kompetenzen fortwährend zu reproduzieren versucht. Superorganismen sind in dem Sinne Akteure, die ein “Reproduktionsinteresse” gegenüber ihren Kompetenzen besitzen. Das ist bei Bienensozialstaaten eindeutig der Fall (versuchen Sie mal in ein Wespennest zu stechen), bei Unternehmen ebenfalls (versuchen Sie mal etwas Übles über ein Unternehmen zu sagen). Die gesamte belebte Natur ist dagegen kein Superorganismus. Das hat bereits Josef Reichholf in einem seiner Bücher sehr plastisch ausgedrückt: “Ökosysteme sind keine Superorganismen, sie wuchern.”

            Balanus: “Künstlich ist alles Menschengemachte, also Unternehmen wie Apple oder Amazon oder das Hausschwein.”

            Diese Begriffsunterscheidung dürfte nur schwer durchhaltbar sein. Ein Hausschwein ist z. B. ganz eindeutig ein Lebewesen. Möchten Sie behaupten, dass es weniger natürlich ist als ein im Kreißsaal per Kaiserschnitt entbundenes Säugling?

            Balanus: “Vielleicht liegt es aber auch bloß daran, dass es eben keine „höheren“ soziokulturellen „Evolutionen“ gibt. Die „üblichen biologischen Evolutionsprinzipien“ reichen hin, um die Entstehung kulturfähiger und geistbegabter Menschen zu modellieren (zumindest im Prinzip). Aber sie reichen nicht hin, um die Entwicklung vom Lagerfeuer zum Induktionsherd zu modellieren. Wenn Sie zeigen können, dass ein heutiger Elektrobackofen das Produkt eines soziokulturellen Evolutionsgeschehens ist, dass also die Entstehungsgeschichte vom Feuer bis zum Backofen (oder von der „Faustkeilwerkstatt“ zum Apple-Konzern) anhand bestimmter Gesetzmäßigkeiten nachgezeichnet werden kann (etwa analog zur Entstehung des Säugerauges), dann bin ich bereit, meine ablehnende Haltung gegenüber der „kulturellen Evolution“ zu überdenken.”

            Es kommt darauf an, worauf man seinen Blick bei der Evolution wirft. Für die Systemische Evolutionstheorie werden alle Evolutionen von Evolutionsakteuren (und ihren Eigeninteressen) angetrieben. Sie betrachtet ausschließlich Populationen aus Evolutionsakteuren (im Normalfall: Lebewesen) und deren Evolution. Um es noch einmal klarzustellen: Die erwähnten Eigeninteressen speisen sich ursächlich aus dem 2. HS der TD.

            Die Memetik sieht das anders. Gemäß ihr kann es eine eigenständige memetische Evolution der Singvogelmelodien geben. Für die Systemische Evolutionstheorie handelt es bei den Melodien der Singvögel dagegen um Kompetenzen (von Vögeln, d.h. von Akteuren). Sie dienen dazu, Ressourcen zu erlangen, im konkreten Fall: Knappe weibliche Fortpflanzungsressourcen. Um diese Ressourcen stehen sie im Wettbewerb. Dies erklärt übrigens bereits, warum bei den meisten Singvogelarten nur die Männchen singen. Der Wettbewerb der Männchen um den Zugang zu den Weibchen (die sehr stark über den Gesang selektieren) sorgt dann für die regelmäßige Weiterentwicklung bei den Melodien. Diese “Melodienevolution” ist jedoch – anders als es die Memetik behauptet – nicht eigenständig, sondern ein Nebenprodukt der Evolution der Singvogelart. Eigentlich handelt es sich dabei nur um Entwicklung.

            Andere Vogelarten bauen ihren Weibchen stattdessen kunstvolle Nester. Ein Weibchen selektiert dann nicht den tollsten Gesang, sondern ein Nest (inkl. Nestbauer), das ihren Gefallen gefunden hat. Hier können Sie eine direkte Parallele zu Apple & Co ziehen: Diese Unternehmen konkurrieren mit ihren jeweiligen Kompetenzen (die sich entsprechend den Nestern der Vögel in ihren Produkten, z. B. Smartphones) ausdrücken um Ressourcen. Konkret: Um das Geld der Kunden. Damit die Kunden auch von ihren tollen Produkten /Kompetenzen wissen, stoßen sie regelmäßig Brunftschreie aus, z. B. in Form von Fernsehwerbung.

            Unternehmen besitzen übrigens einen eigenständigen Energiehaushalt (Metabolismus). Manche Unternehmen verbrauchen mehr Energie als Millionenstädte. Aus diesem Grund konnten sie erst mit der Entdeckung und Nutzbarmachung der fossilen Brennstoffe (und des Atomstroms) im großen Stil entstehen. Voraussetzung für die Unternehmensevolutionen war die Nutzbarmachung neuer, viel ergiebigerer Energiequellen.

            In diesem Zusammenhang kann man dann auch leicht erklären, warum Marktwirtschaften sozialistischen Gesellschaften in der Regel ökonomisch weit überlegen sind: Karl Marx hob hervor, dass die Produktionsmittel nicht dem Unternehmen, sondern nur den Werktätigen gehören sollten. Damit können Unternehmen jedoch keine eigenständigen Kompetenzen (jenseits ihrer Mitarbeiter) entwickeln. Sie sind dann tatsächlich nur Zusammenschlüsse von Menschen, jedoch keine Superorganismen, die auf Märkten einer eigenständigen Evolution unterliegen. Marktwirtschaften bewirken Unternehmensevolutionen, sozialistische Gesellschaften dagegen nur Unternehmensentwicklungen. Ob Ersteres den Menschen bzw. der Umwelt besser oder schlechter bekommt, ist eine ganz andere Frage, das steht hier nicht zur Debatte. Ich weise nur darauf hin, dass die Memetik für all diese Fragen keine Antworten hat. Sie kann die entsprechenden Vorgänge, die unser ganzes Leben massiv beeinflussen oder gar bestimmen (längst beherrschen supranationale Konzerne das Weltgeschehen) nicht angemessen modellieren.

            Balanus: “Die treibenden Kräfte der natürlichen Evolution sind blinde physikalische Gesetzmäßigkeiten. Die treibende Kraft der sogenannten soziokulturellen „Evolution“ ist hingegen der menschliche, vorausschauende Erfindungsgeist. Woraus folgt: Bei der „kulturellen Evolution“ handelt es sich um ein reines Hirngespinst, und zwar im Wortsinne.”

            Ich sehe das ganz anders, siehe den Gesangswettbewerb unter den Singvogelmännchen. Die physikalische Hauptkraft ist in allen Fällen der 2. HS der TD. Aus diesem Grund darf man absolut nicht schlechter werden. Man würde dann nämlich seine Kompetenzen verlieren, die man aber benötigt, um die Kompetenzen reproduzieren zu können (d. h. dem Wirken des 2. HS der TD zu entkommen). Mindest genauso wichtig ist der Wettbewerb unter Gleichen: Wenn sich andere verbessern, verschlechtert man sich selbst. Dies wirkt oftmals sogar stärker als der 2. HS der TD. Es kommt dann zu sogenannten Red-Queen-Prozessen: Man muss so schnell laufen, wie man kann, um dort zu verweilen, wo man vorher war. Es handelt sich in allen Fällen um die gleichen physikalischen und systemischen Bedingungen für Evolution. Aus dieser Sicht besteht überhaupt kein Unterschied zwischen der biologischen und der soziokulturellen Evolution. Wenn man – wie es vielen Naturwissenschaftler (mich eingeschlossen) tun – dann noch den freien Willen als gar nicht wirklich frei auffasst (sondern auch nur als einen Naturprozess), dann bleibt überhaupt kein Unterschied mehr.

            Balanus: “Der sensorische Apparat stellt klarerweise eine Anpassung an die physikalische Umwelt dar. Für die Entstehung des menschlichen kognitiven Apparates spielten derlei Anpassungsmechanismen wohl keine Rolle.”

            Wie bitte? Beispielsweise konnte unser Gehirn nur so groß werden, wie der Organismus ohne Schaden aufzunehmen Energie aufwenden konnte.

            Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie meine Anmerkung zum sensorischen Apparat korrekt verstanden haben, jedenfalls haben Sie sie nicht angemessen gewürdigt, obwohl sie extrem wichtig für das Verständnis von Evolution sind. Ich hatte darauf hingewiesen, dass es aus evolutionären Gründen zu Einschränkungen in der Sensorik kommen muss: Sensorische Wahrnehmung benötigt fortwährend Energie. Wenn die zusätzlichen sensorischen Fähigkeiten nicht in der Lage sind, so viel zusätzliche Energie zu beschaffen, dass sie fortwährend betrieben werden können, werden sie aus evolutionären Gründen ausrangiert. Dann stellen sie nämlich einen energiefressenden evolutionären Nachteil dar. Jedes Lebewesen kann nur die Kompetenzen besitzen, die es energetisch betreiben kann. Beispielsweise ist es für ein Lebewesen schlichtweg unmöglich, alle Radiowellen, die aus dem Universum auf uns einprasseln, wahrzunehmen. Es würde dabei viel zu viel Energie verbrauchen, die es ständig beschaffen müsste. Sie sprechen dagegen nur von Anpassung an eine Umwelt. Doch was heißt Anpassung? Grundsätzliche systemische Überlegungen zum Energiebedarf von Lebewesen scheinen Sie überhaupt nicht zu interessieren.

            Der Mensch hat das genannte Problem per Kompetenzteilung überwunden. Bei ihm spezialisieren sich einige wenige Menschen auf ein ganz bestimmtes Problem. Darauf konzentrieren sie all ihr Tun und Wissen. Und wenn sie etwas entdecken, das für andere wichtig sein könnte, informieren sie die anderen. Daraus beziehen sie ihre Ressourcen. Auf diese Weise war es möglich, im Vergleich zu allen anderen Tieren geradezu ungeheure Kompetenzen zu entwickeln und auch permanent energetisch zu betreiben. Bei meiner Anmerkung handelte es sich deshalb nicht um eine Trivialität.

            Balanus: “Wenn ich z. B. meine Kleidung der aktuellen Temperatur anpasse, dann ist das ein spezifisches Verhalten in Reaktion auf eine Umweltbedingung. Mit den evolutiv bedingten Anpassungen z. B. eines Eisbären an die Bedingungen seines Lebensraumes hat das nichts zu tun. Das war mein Punkt.”

            Das sieht selbst Richard Dawkins im Egoistischen Gen ganz anders. Siehe seinen Abschnitt über die Memetik.

            Balanus: “Systemtheorien sind Systemtheorien, und Evolution ist Evolution. Ich habe nichts gegen eine systemtheoretische Beschreibung oder Analyse des Evolutionsgeschehens und/oder gewisser kultureller Phänomene, und wenn sich da gewisse Gemeinsamkeiten zeigen, ist das für einen Systemtheoretiker sicherlich ein spannender Befund. Aber ich bezweifle, dass damit ein neues Licht auf den Evolutionsprozess oder auf kulturelle Entwicklungen geworfen wird.”

            Das sieht fast die gesamte moderne Evolutionsliteratur anders, die der Memetiker übrigens auch. Ich wundere mich mal wieder, dass etwas so Unausgegorenes und zu keinen Ergebnissen führendes wie die Memetik (worin es nun wirklich keinerlei Bezug mehr zur Physik und zum 2. HS der TD gibt) weiterhin ernsthaft in D diskutiert wird (vermutlich weil sie ursprünglich von Dawkins ist), während solch ernsthafte und uns alle betreffenden Fragen (z. B. was sind die evolutionären Voraussetzungen für die moderne Unternehmensevolution und warum dominieren uns diese Systeme mittlerweile? Was hat das alles mit Energie zu tun? Warum reden wir heute ständig von erneuerbaren Energiequellen und was hat das mit Evolution zu tun?) auf keinerlei Interesse stoßen. Vermutlich deshalb, weil die maßgeblichen Überlegungen dazu von einem Deutschen in deutsch formuliert wurden, was in Deutschland jedoch allgemein nichts gilt, da man nur auf das hört, was die English speaking Experts aus den US und aus GB so von sich geben.

          • @Lena

            : »Ich finde, dass eine solche Aufteilung [natur-/kulturwissensch. Evolutionsbegriff] aus naturwissenschaftlicher Sicht nur schwer zu argumentieren ist.«

            Da gibt es m. E. nichts zu argumentieren. Dass viele Kulturwissenschaftler unter Evolution etwas anderes verstehen als die meisten Biologen, ist Fakt, das muss einfach nur zur Kenntnis genommen werden.

            Das bringt mich zu der Zwischenfrage: Wie definiert man bei der Systemischen Evolutionstheorie eigentlich „Evolution“? Die Definitionen der Biologen werden ja wohl als zu eng betrachtet. Ich fürchte, Ihr systemtheoretischer Evolutionsbegriff, der angeblich ja sogar Unternehmer-Entscheidungen modellieren kann, ist so weit gefasst, dass er nahezu leer ist.

          • @Lena

            : »Um es noch einmal klarzustellen: Die erwähnten Eigeninteressen [der Lebewesen] speisen sich ursächlich aus dem 2. HS der TD.«

            Mit anderen Worten: Die Aufrechterhaltung der dynamischen Prozessstrukturen der Organismen erfordert Energie. Ohne (Energie-)Stoffwechsel kein (aktives) Leben.

            Das ist ja nun beileibe keine neue Erkenntnis. Neu ist nur, dass man bei bewusstseinslosen, sich selbst erhaltenden lebenden Systemen von einem „Eigeninteresse“ spricht. Diese Metapher erklärt wenig bis gar nichts, finde ich, also nichts, was nicht ohnehin bekannt wäre.

          • @Balanus

            Balanus: “Dass viele Kulturwissenschaftler unter Evolution etwas anderes verstehen als die meisten Biologen, ist Fakt, das muss einfach nur zur Kenntnis genommen werden.”

            Viele Kulturwissenschaftler erkennen nicht einmal an, dass auch biologische (genetische) Eigenschaften von Menschen eine Rolle bei der kulturellen Evolution spielen können. Überspitzt ausgedrückt, ist ihre Vorstellung wie folgt: Erst fand die biologische Evolution statt, dann wurde der Mensch nach Gottes Ebenbild per Schöpfungsvorgang geschaffen, und schließlich kam es zur kulturellen Evolution.

            Viele Kulturwissenschaftler sind von der Vorstellung her verkappte Kreationisten. Deshalb sprach ich von “aus naturwissenschafticher Sicht”.

            Balanus: “Wie definiert man bei der Systemischen Evolutionstheorie eigentlich „Evolution“?”

            Dies sind Entwicklungsprozesse, die den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie genügen.

            Balanus: “Die Definitionen der Biologen werden ja wohl als zu eng betrachtet. Ich fürchte, Ihr systemtheoretischer Evolutionsbegriff, der angeblich ja sogar Unternehmer-Entscheidungen modellieren kann, ist so weit gefasst, dass er nahezu leer ist.”

            Einzelne Unternehmerentscheidungen kann keine Theorie modellieren. Aber auch die Ökonomie macht grundsätzliche Annahmen über das Verhalten von Akteuren. Eine sehr bekannte Annahme dieser Art (die man in der Zwischenzeit in der Ökonomie abzuschwächen versucht) ist die des Homo oeconomicus. Wirtschaftswissenschaftler machen immer wieder klar, dass man ohne entsprechende Verhaltensannahmen keine Wirtschaftstheorie betreiben kann. Nehmen wir einmal an, für einen Akteur (ein Tier, ein Mensch, ein Unternehmen) bietet sich eine Situation, die für ihn einen Vorteil darstellt. Dann gehen alle Wirtschaftstheorien (aber im Grunde auch alle Annahmen der Biologen) davon aus, dass die Vorteile im Allgemeinen von den Akteuren wahrgenommen werden. Das gilt übrigens sogar für Bakterien. In Pross, Addy (2012): What is Life? How Chemistry Becomes Biology. Oxford: Oxford University Press, heißt es auf S. 15: “Put a bacterium in a glucose solution in which the glucose concentration is variable and the bacterium ‘swims’ toward the high concentration region. That phenomenon is called chemotaxis.”

            Die Systemische Evolutionstheorie nennt dieses Grundverhalten des Lebens (Kern-)Kompetenzverlustvermeidung. Vorteile, die nicht genutzt werden, stellen Nachteile dar, wenn sie von anderen genutzt werden. Das gilt für einfache Zellen genauso wie für Unternehmen. Selbst das zentrale Theorem der Ökonomie, Ricardos Theorem der komparativen Kostenvorteile, lässt sich unmittelbar daraus herleiten, das angeblich gen-egoistische Verhalten einfacher Lebewesen ebenso.

            Wie kann also etwas leer sein, aus dem sich nicht nur die Verhaltensgrundannahmen der Biologen für einfache Lebewesen, sondern auch fundamentale Sätze der Ökonomie herleiten lassen?

            Mir scheint hier im Übrigen ein Missverständnis vorzuliegen, was den Begriff der Verallgemeinerung von Theorien angeht. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist viel allgemeiner als die entsprechenden Newtonschen Gesetze. Das gilt insbesondere für die verwendeten Begrifflichkeiten. Ist sie deshalb inhaltsleer? Kann sie deshalb die Bewegung eines Apfels, der vom Baum fällt, nicht beschreiben? Ganz im Gegenteil, sie macht sogar die viel genaueren Vorhersagen. GPS-Satelliten wären ohne die Allgemeine Relativitätstheorie nicht betreibbar. Beim Apfel, der vom Baum fällt, ist ihre Begriffswelt allerdings eindeutig ein Overkill. Was machen die Physiker in solchen Fällen? Sie berechnen die Bewegung mittels den Newtonschen Gesetzen, weil sie viel einfacher anzuwenden sind. Man nimmt an, dass die relativen Geschwindigkeiten in diesem Fall vernachlässigbar sind. Den Begriff der Raumzeit benötigt man dann noch nicht. So ist das auch bei Evolution: Bei den kulturellen Evolutionen können Phänomene eine entscheidende Rolle spielen (z. B. Kompetenzteilungen zwischen Akteuren), die es im biologischen Bereich noch überhaupt nicht gibt, an die dort auch nicht zu denken ist. Deshalb kann man die entsprechenden Begrifflichkeiten dann vernachlässigen. Mersch hat jedenfalls nachweisen können, dass sich die klassischen biologischen Evolutionsprinzipien bei einfachen Lebewesen unmittelbar aus den allgemeineren Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie ableiten lassen. Entsprechendes hat man bei der Allgemeinen Relativitätstheorie gegenüber Newton auch gemacht. Die Vorgehensweise entspricht also der, die in den Naturwissenschaften üblich ist.

            Balanus: “Mit anderen Worten: Die Aufrechterhaltung der dynamischen Prozessstrukturen der Organismen erfordert Energie. Ohne (Energie-)Stoffwechsel kein (aktives) Leben. Das ist ja nun beileibe keine neue Erkenntnis. Neu ist nur, dass man bei bewusstseinslosen, sich selbst erhaltenden lebenden Systemen von einem ‘Eigeninteresse’ spricht. Diese Metapher erklärt wenig bis gar nichts, finde ich, also nichts, was nicht ohnehin bekannt wäre.”

            In der Tat ist das keine neue Erkenntnis. Allerdings hat sie sich unter Evolutionstheoretikern bis heute nicht durchgesetzt, wie könnte man sonst etwas wie die Memetik vorgeschlagen haben, die ganz ohne solche Annahmen auskommt. Und warum sonst sollte Addy Pross in seinem Buch “What is Life?” (aus 2012) immer und immer wieder auf diesem ganz entscheidenden Punkt (sogar für die Abiogenese) herumreiten.

            Nehmen Sie zum Vergleich einmal die Verallgemeinerten Evolutionsprinzipien, die Gerhard Schurz in seinem Buch (für die biologische und kulturelle Evolution) publiziert hat (z. B. S. 191):

            – Reproduktion: Es gibt evolutionäre Systeme bzw. Organismen, die sich hinsichtlich gewisser bedeutsamer Merkmale immer wieder reproduzieren. Diese Merkmale nennt man reproduzierte oder vererbte Merkmale, und jeder solche Reproduktionsvorgang erzeugt eine neue ‘Generation’ dieses evolutionären Systemtyps.
            – Variation: Die Reproduktion bringt Variation mit sich, die mitreproduziert bzw. vererbt werden.
            – Selektion: Es gibt Selektion, weil gewisse Varianten unter gegebenen Umgebungsbedingungen fetter sind, d. h. sich schneller reproduzieren als andere und dadurch die anderen Varianten langfristig verdrängen. Die selektierenden Parameter der Umgebung heißen auch Selektionsparameter.

            Einen Bezug zum 2. HS der TD kann ich darin nicht erkennen. Und genau deshalb können dies keine allgemeinen Evolutionsprinzipien sein.

          • @Lena

            Auf die Frage, wie man bei der Systemischen Evolutionstheorie eigentlich „Evolution“ definiert, antworten Sie:

            »Dies sind Entwicklungsprozesse, die den Prinzipien der Systemischen Evolutionstheorie genügen.«

            Weiter oben hatten Sie in einem Kommentar geschrieben:

            »Charakteristisch für Evolution ist die langfristige Adaption an die Umwelt (d.h. die Wissensanreicherung). Entwicklung hat hingegen nichts direkt mit Adaption zu tun.«

            Dann wäre für Sie Evolution also ein bestimmter Entwicklungsprozess, der langfristig zu Wissensanreicherung führt.

            So wie ich das sehe, ist das ja nun doch ganz schön weit vom Evolutionsverständnis der (meisten) Biologen entfernt. Anders formuliert: Auch in der Systemischen Evolutionstheorie hat der Begriff „Evolution“ im Kern eine andere Bedeutung als in der Biologie.

            Das geht in Ordnung, hat aber m. E. zur Folge, dass, wenn über die SE diskutiert wird, allenfalls nur bestimmte Randaspekte der Evolution mit einbezogen sein können.

            (war über ‘ne Woche außer Gefecht gesetzt, deshalb die späte Reaktion…)

          • @Balanus

            Biologen definieren Evolution häufig ganz ähnlich, wie es auf Wikipedia getan wird, nämlich als allmähliche Veränderung der vererbbaren Merkmale einer Population von Lebewesen von Generation zu Generation. Diese Merkmale sind in Form von Genen codiert, die bei der Fortpflanzung kopiert und an den Nachwuchs weitergegeben werden. Irgendwann fällt dann meist noch der Begriff der Anpassung, der aber nicht weiter definiert wird.

            Das ist ein Evolutionsbegriff, der allein der Besitzstandswahrung dient und somit speziell für die Debatte hier unbrauchbar ist. Alles was im Gehirn gespeichert und darüber tradiert wird, fällt gemäß dieser Definition nicht unter Evolution. Würde irgendwann noch ein weiteres Speichermedium zur Tradierung von Informationen in Lebewesen entdeckt werden, so spielte das gemäß dieser Definition ebenfalls keine Rolle. Das Gleiche gilt für den horizontalen Gentransfer. Der biologische Evolutionsbegriff hört sich so speziell an, als würde man noch heute ein Postfahrzeug als gelbe Kutsche mit mindestens 2 vorgespannten Pferden definieren.

            Geht es um kulturelle Evolution, so hält man sich am besten von den Biologen fern, das gilt im ganz besonderen Maße für Richard Dawkins. Diese Leute denken von den Genen aus und das führt bei Kultur leider nicht weiter.

          • @Lena

            »Das [der biologische] ist ein Evolutionsbegriff, der allein der Besitzstandswahrung dient und somit speziell für die Debatte hier unbrauchbar ist. «

            Ich denke, das trifft es so in etwa. Im Grunde müssten die Biologen einen anderen Begriff für den Prozess der Entstehung und des Wandels der Arten finden, für die transgenerationale Änderung der Genfrequenzen in einer Population, denn mit „Evolution“ im kulturellen Sinne hat dieser natürliche Prozess praktisch nichts zu tun.

            »Der biologische Evolutionsbegriff hört sich so speziell an, als würde man noch heute ein Postfahrzeug als gelbe Kutsche mit mindestens 2 vorgespannten Pferden definieren.«

            Das trifft es nun überhaupt nicht, finde ich. Es geht bei allen modernen biologischen Evolutionsdefinitionen eben immer um das Naturgeschehen, was sonst? Was man sich außerhalb der Biologie unter Evolution so vorstellt, ist eben meist etwas völlig anderes.

  21. Nicht Wörter haben Bedeutung, sondern nur ganze Sätze. Das sagte ein Sprachwissenschaftler, und er hat recht. Man muss ergänzen, er meinte Wörter alleine für sich genommen. Wer ein Wort erklären oder definieren will, muss schon ganze Sätze dazu verwenden. Variation und Selektion sind auch nur Hüllen, die näher spezifiziert werden müssen, aber sie haben jeweils schon mehr Inhalt als der Evolutionsbegriff.

    Die Selektion hat zwei Seiten, eine positive und eine negative, also Förderung oder Vernichtung. Beides ist in der Biologie zu beobachten, in der Gesellschaft und Kultur übrigens auch. Ihrer Aussage bezüglich “natürlicher Erhaltung” will ich deutlich widersprechen. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum und steht eklatant im Widerspruch zur Ziellosigkeit der Evolution, die Sie auch selber explizit postulieren. Bekanntlich sind 99% aller Arten schon ausgestorben. Also deutlicher kann der Widerspruch zur angeblichen Arterhaltung nicht sein.

    Ob man die Wiederholung von Experimenten mit Variation als Reproduktion ansieht oder nicht, das ist subjektive Deutung und Freiheit. Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun. Mir scheint, wie ich früher schon geschrieben hatte, dass Sie den Evolutionsbegriff zu eng sehen. Andererseits haben Sie recht, dass er oftmals auch überdehnt und angewendet wird, wo er nicht mehr angemessen ist, nur weil jedes Kind ihn kennt.

    • Zum meinem ersten Absatz habe ich eben noch recherchiert und folgendes Zitat gefunden. Es stammt von dem Logiker Gottlob Frege (Grundlagen der Arithmetik, 1884):

      Es ist also die Unvorstellbarkeit des Inhalts eines Wortes kein Grund, ihm jede Bedeutung abzusprechen oder es vom Gebrauche auszuschließen. Der Schein des Gegentheils entsteht wohl dadurch, dass wir die Wörter vereinzelt betrachten und nach ihrer Bedeutung fragen, für welche wir dann eine Vorstellung nehmen. So scheint ein Wort keinen Inhalt zu haben, für welches uns ein entsprechendes inneres Bild fehlt. Man muß aber immer einen vollständigen Satz ins Auge fassen. Nur in ihm haben die Wörter eigentlich eine Bedeutung […] Es genügt, wenn der Satz als Ganzes einen Sinn hat; dadurch erhalten auch seine Theile ihren Inhalt.

  22. @Anton Reutlinger

    » Ihrer Aussage bezüglich “natürlicher Erhaltung” will ich deutlich widersprechen. Das ist ein weit verbreiteter Irrtum und steht eklatant im Widerspruch zur Ziellosigkeit der Evolution, die Sie auch selber explizit postulieren.«

    Meine Aussage steht aber im Einklang mit der Auffassung Darwins, dem Vater der Selektionstheorie, die er in einem Brief an Lyell (28.06.1860) kundgetan hat:

    »Talking of “Natural Selection”, if I had to commence de novo, I would have used ‘natural preservation’; for I find men like Harvey of Dublin cannot understand me; though he has read the Book twice.«

    Quelle: http://www.darwinproject.ac.uk/entry-2931)

    Es geht also nicht um eine andere Theorie, sondern um das richtige Verständnis dessen, was bei der sogenannten „natürlichen Selektion“ realiter abläuft.

    Die Metapher „Selektion“ wird gemeinhin viel zu wörtlich genommen. So wie auch der biologisch verstandene Begriff „Evolution“ von vielen wörtlich genommen und schlicht mit „Entwicklung“ übersetzt wird.

    Darwins „natural preservation“ verstehe ich als den Vorgang der Selbsterhaltung und der Selbstorganisation, im Grunde also das, was Dawkins mit seiner Metapher vom „egoistischen Gen“ wohl zum Ausdruck bringen wollte: An der Basis des ganzen Geschehens steht das sich replizierende Gen(om), das Gen/die Lebensform „will“ einfach nur immer weiterexistieren, seine/ihre Existenz aufrechterhalten. Das ganze Fortpflanzungsgedöns dient letzten Endes doch nur dazu, Nachkommen zu produzieren, die sich so gut wie gar nicht von den Eltern unterscheiden.

    Dieses naturhafte Geschehen kann selbstredend auch ohne jede Teleologie beschrieben werden.

    • Man muss zweifellos unterscheiden zwischen der Erhaltung des Indivuums in der Form der Selbstorganisation und der Erhaltung der Art, oder äquivalent dazu des Genotyps. Jedes Lebewesen will sich selbst erhalten, das ist unstrittig. Bei der Erhaltung der Art wird es schwieriger. Wenn zwei Menschen miteinander ins Bett gehen, um Kinder zu zeugen, dann bestimmt nicht in der Absicht, die menschliche Art zu erhalten, um es drastisch auszudrücken.

      Man sollte sich nicht zu eng an die Worte von Darwin halten, er musste auch auf den Zeitgeist damals Rücksicht nehmen., oder wollte es zumindest, um nicht unnötig zu provozieren und es den Gegnern nicht allzu leicht zu machen. Auch in der Populärliteratur wird häufig die Arterhaltung als Motiv oder Ziel der Evolution bzw. Selektion dargestellt. Das ist einfach nur falsch und durch die bereits ausgestorbenen Arten widerlegt. Eine Art ist nur ein Schnappschuss der Gegenwart und unterliegt ständigen Veränderungen.

      • Jedes Lebewesen will sich selbst erhalten, das ist unstrittig.

        Gegenbeweis: Ein Lebewesen, dass sich selbst nicht erhalten wollte: http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Lubitz

        Wenn zwei Menschen miteinander ins Bett gehen, um Kinder zu zeugen, dann bestimmt nicht in der Absicht, die menschliche Art zu erhalten, um es drastisch auszudrücken.

        Auf der einen Seite entbrennt über die Frage, ob die Absicht, Kinder zu zeugen, überhaupt eine gemeinsame ist, regelmäßig Streit. Auf der anderen Seite gab es ein Paar, dass sich seinen Kinderreichtum als Dienst an der Gesellschaft anrechnen lassen wollte und damit obsiegte (jedenfalls in der umlagefinnazierten, gesetzlichen Pflegeversicherung):

        http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv103242.html

        Die komplette Ideologisierung, also die Umdeutung des eigenen Geschlechtstriebes als Erfüllung eines Auftrag zur Art-, Gesellschafts- oder Staatserhaltung, ist da nicht mehr weit entfernt. Wieso Eltern, die durch die Zeugung ihrer Kinder deren künftigen Pflegebedarf überhaupt erst verursachen, bei den Kosten der Pflege ent– und nicht belastet werden, kann nur verstehen, wer sich vom Verursacherprinzip verabschiedet hat.

      • @Anton Reutlinger

        Nachdem Sie nun den Gedanken der Arterhaltung ins Spiel gebracht und kritisiert haben, meinerseits noch eine kleine Anmerkung dazu:

        Art bzw. Spezies ist ein schwieriger Begriff, da haben Sie Recht, es ist schwer zu trennen zwischen den faktischen Gegebenheiten und den menschengemachten Kategorien.

        Was es sicherlich tatsächlich gibt, in dem Sinne, dass wir es von bloßen Ideen gut abgrenzen können, sind Populationen, die eine Fortpflanzungsgemeinschaft bilden.

        Sie schreiben:

        » Wenn zwei Menschen miteinander ins Bett gehen, um Kinder zu zeugen, dann bestimmt nicht in der Absicht, die menschliche Art zu erhalten, um es drastisch auszudrücken.«

        Das hätte ich früher wohl auch so gesagt, aber seit ich Michael Blumes Blog kennengelernt habe, bin ich mir da nicht mehr so sicher (Stichwort: biokulturelle Fortpflanzung). Es muss ja nicht gleich die ganze Spezies sein, die das Paar bei der Kopulation im Blick hat, das Volk oder die Gemeinschaft tun es ja auch. Im Grunde genügt es, wenn man eine Familie haben möchte, im Endeffekt tut man damit dann auch was für die Erhaltung der Art.

        Denn dass die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Organsimen auf Fortpflanzung und Vermehrung ausgerichtet sind, kann ja kaum ernsthaft bestritten werden. Man schaue sich nur das enorme Reproduktionspotential mancher Arten an.

        Insofern stehe ich dem Gedanken der Arterhaltung (nicht als Ziel, sondern als Nebeneffekt) wohl weniger kritisch gegenüber als Sie. Dass inzwischen mehr Lebensformen ausgestorben sind als derzeit existieren, scheint mir denn auch kein überzeugendes Gegenargument zu sein. Der Planet bietet einfach nicht genug Platz und Ressourcen, um alle einmal entstandenen Lebensformen am Leben zu erhalten.

        • @Balanus;
          Denn dass die Eigenschaften und Verhaltensweisen der Organsimen auf Fortpflanzung und Vermehrung ausgerichtet sind, kann ja kaum ernsthaft bestritten werden.

          Ja; wenn die Fortpflanzung ausbleibt, dann bleibt die Arterhaltung aus. Der entscheidende Irrtum ist jedoch die Annahme, dass die Fortpflanzung auf Arterhaltung ausgerichtet sei. Diese Ausdrucksform suggeriert eben eine Teleologie, Zielgerichtetheit oder Zweckmäßigkeit. Die Arterhaltung ist eine Nachwirkung der Fortpfllanzung, keine Ursache und keine Begründung.

          Die Arbeiten von Herrn Blume sehe ich äußerst kritisch, aus mehreren Gründen. Die Fortpflanzung fängt zwar beim Kind an, wird aber erst wirksam im fortpflanzungsfähigen Alter. Die Kinderzahl ist also von geringer Bedeutung, wenn die Kindersterblichkeit oder Müttersterblichkeit sehr hoch ist, wie es in früheren Zeiten der Fall war, oder in Armutsgesellschaften noch heute so ist. Das ist übrigens auch ein Grund für Polygamie, denn die Fruchtbarkeit von Mann und Frau ist asymmetrisch.

          Im Rahmen der kulturellen Evolution ist zu berücksichtigen, dass die Menschen sich im Verlauf des Lebens verändern können, seien es ihre Anschauungen, Gewohnheiten, Moralvorstellungen, Verhaltensweisen. Die Frage, wo die Grenze zwischen Natur und Kultur oder nature und nurture ist, das ist noch immer umstritten. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass vieles, was als angeboren gilt, in Wirklichkeit erlernt ist, nach oder schon vor der Geburt.

          • Frage: ist das Erlernen auch erlernt? Dies zu (Zitat): “Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass vieles, was als angeboren gilt, in Wirklichkeit erlernt ist,”

          • Was wir als Teleologie, als zielgerichtet empfinden, kann evolutionär entstehen, als logische Konsequenz des Evolutionsprinzips. Scheinbare Zielgerichtetheit und evolutionär bedingt sind also keine Gegensätze wie oben mit folgendem angedeutet

            Der entscheidende Irrtum ist jedoch die Annahme, dass die Fortpflanzung auf Arterhaltung ausgerichtet sei. Diese Ausdrucksform suggeriert eben eine Teleologie, Zielgerichtetheit oder Zweckmäßigkeit. Die Arterhaltung ist eine Nachwirkung der Fortpfllanzung, keine Ursache und keine Begründung.

            Es ist evolutionär betrachtet denkbar einfach: Wer sich nicht fortpflanzt, dessen Gene spielen in der nächsten Generation keine Rolle mehr. Über viele Generationen hinweg bleiben nur diejenigen übrig, die sich scheinbar Mühe geben sich fortzupflanzen. Fortfplanzung scheint damit plötzlich zielgerichtet zu sein. Und in einem gewissen Masse ist sie das auch obwohl es keinen Ingenieur gibt, der in die Geschöpfe, die sich fortpflanzen, den Fortpflanzungswillen eingepflanzt hat.

  23. @Balanus (14.6., 21:21);
    Interessanter ist da schon, dass überhaupt das Trial-and-error-Prozedere mit dem Evolutionsprinzip in Verbindung gebracht wird. Als seien die Individuen, die es nicht bis zur eigenen Fortpflanzung schaffen, so etwas wie Irrtümer der Natur, bloße Fehlversuche.

    Begriffe sind symbolische Repräsentanten der Wirklichkeit. Es ist ein Fehler, die Eigenschaften der Wirklichkeit aus den Begriffen ableiten zu wollen, indem man ihnen die eigenen, subjektiven Vorstellungen unterstellt. Selbstverständlich sind Fehlgeburten Fehlversuche der Natur im Verlauf der Fortpflanzung. Nur weil die meisten Befruchtungsversuche gar nicht erst in Erscheinung treten, werden sie ignoriert oder geleugnet. Würden alle Befruchtungsversuche ins Verhältnis gesetzt zu fortpflanzungsfähigen Nachkommen, dann würden Sie und viele Andere sehr staunen, wie niedrig diese Erfolgsquote, wie hoch also die Quote der Befruchtungsirrtümer wäre. Dann würde sich zeigen, wie miserabel und schlampig die göttliche Schöpfung, oder wie fehlerhaft die biologische Evolution wirklich ist. Die Vielfalt der Arten widerspiegelt die Fehlerhaftigkeit der lebenden Natur! Mir scheint, Sie haben von Evolution eine völlig falsche, schablonenhafte und eigenwillige Vorstellung.

    • @Anton Reutlinger

      “Selbstverständlich sind Fehlgeburten Fehlversuche der Natur im Verlauf der Fortpflanzung.”

      Und Sand ist ein Fehlversuch der Natur im Verlauf der Gebirgsbildung?

      Ich halte es, mit @Balanus, für einen Fehler, der Natur Versuche zu unterstellen.
      Ich halte es, mit ihnen, für einen Fehler, zu viel aus den Begriffen abzuleiten.

      Eine falsche, wenn auch nicht völlig falsche, Vorstellung der Evolution sehe ich eher bei Ihnen.

      • Gebirgsbildung und Fortpflanzung beschreiben Vorgänge, die ein Ziel und einen Zweck umfassen, nämlich das Ziel zu erreichen. Unter dem Aspekt der Gebirgsbildung ist ein Sandhaufen ein Fehlversuch der Natur. Man kann eine Fehlgeburt auch unter dem Aspekt sehen, das Leben der Mutter zu erhalten, denn ein toter Fötus wäre auch für die Mutter tödlich. Dann ist eine Fehlgeburt ein Rettungsversuch der Natur. Genauso kann ein Sandhaufen als Habitat für Pflanzen und Tiere betrachtet werden, dann ist er kein Fehlversuch.

        Der Aspekt wird vom Menschen vorgegeben, nicht von der Natur. Die Arterhaltung ist der Natur völlig egal. Die sprachliche Personifizierung der Natur ist an sich schon ein Fehler. Die Bezeichnungen oder Begriffe und ihre Bedeutungen sind Menschenwerk und mehr oder weniger willkürlich.

        • @ Anton Reutlinger

          Ich weiß weder welches Ziel Sie haben noch zu welchem Zweck Sie hier kommentieren. Sicher ist allerdings, dass sich Menschen Ziele setzen und Mittel zum Zweck ihres Erreichens einsetzen können. Beides kann die Natur nicht.

          Richtig, dass es Menschen sind, die die Natur sprachlich beschreiben und ihre subjektiven Vorstellungen in diese Beschreibungen einfließen lassen. Natürlich können Menschen sich dabei willkürlich einzelne Aspekte herausgreifen und die Vorgänge in der Natur dabei auch teleologisch formulieren. Das scheint mir kein Problem zu sein, solange klar ist, dass es sich um metaphorische Redeweisen handelt. Wenn aber, wie Sie das hier penetrant machen, eine darüber hinausgehende Gültigkeit beansprucht wird, dann führt das nicht nur zu harmlosen Missverständnissen, sondern führt zu falschen Schlussfolgerungen, endet in grobem Unfug und macht es mithin unmöglich die Mechanismen zu erkennen, die in der Evolution tatsächlich einzig wirksam sind.

          • @joker;
            Sie meinen also, der Mensch ist nicht Natur, oder funktioniert anders als die Naturgesetze, wenn Sie schreiben “Sicher ist allerdings, dass sich Menschen Ziele setzen und Mittel zum Zweck ihres Erreichens einsetzen können. Beides kann die Natur nicht.”

            Dann müssten Sie erklären, worin genau der Mensch sich von der Natur unterscheidet, mit handfesten Argumenten, nicht mit Wortakrobatik. Auch die Zielsetzungen des geistig tätigen Menschen sind nur scheinbare Teleologie, wie überall in der lebenden Natur, weil sie auf die nichtlebende Natur rückführbar ist. Dafür ist in der Biologie der Begriff der Teleonomie gebräuchlich (Colin Pittendrigh, 1958).

          • @Aton Reutlinger

            »Auch die Zielsetzungen des geistig tätigen Menschen sind nur scheinbare Teleologie, wie überall in der lebenden Natur, weil sie auf die nichtlebende Natur rückführbar ist. Dafür ist in der Biologie der Begriff der Teleonomie gebräuchlich…«

            Meines Wissens bezieht sich der Begriff Teleonomie nur auf zielgerichtete, etwa durch das genetische Programm gesteuerte Prozesse (wie z. B. bei der Ontogenese). Geistige Zielvorstellungen sind da schon etwas anderes, da bestimmt ein angepeiltes Ziel, welche Aktionen oder Handlungen nacheinander auszuführen sind. Da wird wirklich vom Ende her gedacht und gehandelt.

          • @Joker
            “Sicher ist allerdings, dass sich Menschen Ziele setzen und Mittel zum Zweck ihres Erreichens einsetzen können. Beides kann die Natur nicht.”

            Indem der Mensch sich Ziele setzen und Mittel zum Zweck ihres Erreichens einsetzen kann, setzt diese die Natur ein.
            Indem der Mensch vernünftig agiert, agiert die Natur vernünftig.
            Indem der Mensch Natur betrachtet, betrachtet Natur sich selbst.
            Der Mensch kann nicht getrennt von der Natur betrachtet werden.
            Wäre es der Fall, müsste eine eindeutige Antwort auf Reutlingers Frage gefunden werden können (grüß dich, Zenon).

          • @ Anton Reutlinger

            “Sie meinen also, der Mensch ist nicht Natur, oder funktioniert anders als die Naturgesetze”

            Nein, wie kommen Sie darauf? Ich behaupte nur, es entsteht Unfug, wenn Sie Eigenschaften oder Fähigkeiten von Teilen gleichzeitig auch dem Ganzen zuschreiben.

            Selbst wenn mal eine Sicherung in einem Auto durchbrennen kann, habe ich noch nicht gehört, dass ein Auto durchbrennen könnte, und dann ganz einfach ersetzt werden kann. Aus der Aussage, das Rad dreht sich mehrfach in der Sekunde um seine Achse, zu schließen, das ganze Auto könne das auch, halte ich für gewagt.

            Die Natur ist gleichzeitig groß und klein, dick und dünn, dumm und schlau? Die Natur kann Fallschirmspringen und Seilhüpfen?

            Ich könnt mich totlachen, und bezweifle, dass die Natur das auch könnte.

          • @ Maciej Zasada

            “Indem der Mensch vernünftig agiert, agiert die Natur vernünftig.”

            Das lasse ich als Poesie gelten.

            Im Allgemeinen sollte man aber doch besser auf dieses Agenten-Geschwafel bei Diskussionen über die Natur der Natur verzichten.”[It] would save us from a lot of unnecessary misunderstandings and acrimony generated by people who use agent-centered language much too easily and way too loosely. ” (Massimo Pigliucci, oben von @Chrys verlinkt, in Bezug auf Gene geäußert)

          • Hey Joker,
            Agentengeschwafel?
            Ich glaube Du sollst bei, mit Verlaub, deinem Geschwafel konkreter werden.
            Bitte eindeutige Grenze ziehen zwischen Mensch und Natur.

            Erst dann kannst Du mein Geschwafel als Geschwafel bezeichnen.
            Solange es dir nicht gelingt, nenne ich dein Geschwafel Geschwafel und Du meins nicht, bitte.

            Konflikte – idiotische Pest. Ich bin nicht dein Feind nur weil deine Feinde nicht meine sind.
            Anatol Rapoport.

            Nur…jede Kategorisierung

          • @Joker
            Und wenn Du die Autosicherung ansprichst…
            Ein Auto mit einer durchgebrannten Sicherung ist ein nutzloser Gegenstand, der seinen Zweck nicht erfüllt.

          • Der Mensch ist durch und durch Natur! – so meine ich.

            Für den hier diskutierten Fall von Wirkmechanismen der Evolution benötigen wir weder eine klare Definition des Naturbegriffs (es sollte zumindest erkennbar sein, dass hier nicht der Unterschied zwischen Natur und Kultur oder der zur Zivilisation besprochen wird), noch eine klare Grenze zwischen Mensch und dem Rest der Natur. Es reicht die Inklusionsrelation, der Mensch ist Teil der Natur. Dem scheinen mir alle Beteiligten ja auch zuzustimmen.

            Der Begriff der Handlung hat eine lange Tradition sowohl im Alltag als auch in der Philosophie. Wenn dieses Konzept auf neue Fälle übertragen wird, und weitere Entitäten, neben den Menschen, als Handelnde (Agenten) bezeichnet werden, die agieren können, Ziele haben und Zwecke verfolgen können, so ist zunächst dies begründungsbedürftig.

            Im Tierreich scheint mir dies gelungen. Zumindest höher entwickelten Tieren wird man die Fähigkeit zum Handeln kaum noch absprechen können, wenn es auch immer noch von einigen Philosophen getan wird. Im Fall der Gene und der Natur sehe ich dies als nicht gelungen an, ja sogar als widerlegt. (Meme sind ein weiteres gescheitertes Beispiel). Und ich wiederhole mich, solche anthropomorphisierenden Redeweisen respektiere ich daher nur als metaphorisch oder poetisch.

            Unbeachtet all dessen, also wenn die Natur tatsächlich Handelnde wäre, könnte man nicht von Teilen der Natur, so einfach wie Du und @Anton Reutlinger es hier machen, auf ihre Eigenschaften als Gesamtes rückschließen.

            Schön ist, wir müssen uns gar nicht einig werden. Religiöse sehen ebenfalls vielerorts Handelnde, wo es mir versagt ist. Auch das sind keine Feinde von mir, alles nur Menschen, alles Natur.

  24. Herr Reutlinger, Sie schrieben am 5. Juni 2015 11:04:

    » Der Vergleich von biologischer mit kultureller Evolution muss differenziert gesehen werden. Einerseits kann die Begrifflichkeit zu Irrtümern führen, andererseits gibt es selbstverständlich Vergleichbarkeiten in Details, z.B. Variation und Selektion mit Versuch und Irrtum im Wissenschaftsbetrieb.«

    Wie hätte ich ahnen können, dass Sie mit den biologisch verstandenen Begriffen Variation und Selektion auf die Vorgänge bei und nach der Befruchtung im Eileiter, in der Gebärmutter oder im Ei anspielten, als Sie die Analogie mit ‚Versuch und Irrtum‘ im Wissenschaftsbetrieb brachten.

    Die „Individuen“, von denen ich sprach, haben diese erste Hürde selbstverständlich bereits genommen und sind nunmehr Teil der Population, das heißt lebenstüchtige, gesunde und fortpflanzungsfähige Nachkommen der Elterngeneration, die sich hinsichtlich ihrer Fortpflanzungswahrscheinlichkeit minimal unterscheiden.

    »Die Vielfalt der Arten widerspiegelt die Fehlerhaftigkeit der lebenden Natur!«

    Wenn Sie mit „Fehlerhaftigkeit“ die Tatsache meinen, dass es in der Natur keine perfekte Reproduktion des Erbguts gibt, dann gebe ich Ihnen Recht. Ohne diese natürliche Variation gäbe es keinen evolutionären Wandel.

    »Mir scheint, Sie haben von Evolution eine völlig falsche, schablonenhafte und eigenwillige Vorstellung.«

    Dieser (unberechtigte!) Vorwurf ist mir vertraut, allerdings aus einer ganz anderen Richtung.

    Schauen Sie, ich versuche hier für einen wissenschaftlichen Evolutionsbegriff zu argumentieren. Was ich bislang zur kulturellen Evolution gelesen habe, ist alles seltsam vage und nebulös. Einerseits werden gerne die fundamentalen Unterschiede zwischen biologischer und kultureller Evolution betont, andererseits will am aber auch nicht vom geliebten Evolutionsbegriff lassen.

    Herr Lobin hat seine Kriterien für ein evolutives System oben benannt: Reproduktion, Variation, Selektion. Variation ist völlig unproblematisch (kein makroskopischer Gegenstand gleicht einem anderen aufs Haar). Über Fortpflanzung kann man diskutieren (die Weitergabe von Ideen und Gedanken könnte man als eine Art Fortpflanzung ansehen). Bleibt die (natürliche) Selektion, jenes Prinzip also, für das Darwin im Nachhinein die Bezeichnung „natürliche Erhaltung“ („natural preservation“) als weniger missverständlich ansah. Und da scheiden sich offenbar die Geister, da die Selektions-Metapher häufig überstrapaziert wird. Was da kurz als „natürliche (!) Selektion“ bezeichnet wird, ist keineswegs so einfach und klar, wie es klingt.

    Man stelle sich das vor, wenn Darwin tatsächlich nicht die Auslese im Fokus gehabt hätte, sondern, positiv gewendet, die Erhaltung, also das, was in jeder Generation für die Weitergabe des Lebens, vulgo Fortpflanzung, erhalten bleibt.

    Dann müssten heute die Bedingungen für einen Universalen Darwinismus wohl lauten: Reproduktion, Variation und Erhaltung. Vielleicht wäre man auch gar nicht auf die Idee eines Universalen Darwinismus‘ gekommen, wer weiß…

    Schlussbemerkung: Die Spezies Mensch zeichnet sich allem Anschein nach durch eine große Variabilität aus. Nicht nur in der Statur, sondern vor allem auch „geistig“. Diese biologisch bedingte Verschiedenheit spiegelt sich auch in seinem sozialen Verhalten und kulturellen Äußerungen wider. Und es ist keine Frage, dass der Wandel in den sozialen und kulturellen Verhältnissen in den verschiedenen Populationen äußerst komplexe Vorgänge sind, die sich zum Teil dem steuernden Einfluss der beteiligten Akteure entziehen. Bis hierhin gehe ich gerne mit. Aber für den nächsten Schritt, nämlich dass dieser soziale und kulturelle Wandel in Gänze evolutionstheoretisch beschrieben werden kann, fehlen mir derzeit noch die Evidenzen.

  25. @Balanus;
    In mehreren Beiträgen zuvor hatte ich Ihnen schon teilweise zugestimmt. Deshalb nehme ich den spontanen und unberechtigten Vorwurf mit Bedauern zurück.

    Der Begriff der Selektion hat eine doppelte Bedeutung. Er beschreibt sowohl den Vorgang der Selektion als auch das Resultat. Der Begriff der Erhaltung beschreibt nur das Resultat. Zudem ist die Selektion in sich doppeldeutig, nämlich als positive Auswahl “das will ich” und als negative Auswahl “das will ich nicht”. Beides ist in der Biologie nebeneinander zu beobachten. Beides bezieht sich ausschließlich auf die physisch realen Individuen. Die Auswahl eines Individuums oder einer Gruppe bedeutet die Nichtwahl der übrigen Individuen oder Gruppen. Ausnahmen oder Abweichungen davon sind nicht ausgeschlossen, so wie die Biologie generell nicht mit den strikten Naturgesetzen der Physik vergleichbar ist.

    In der biologischen Evolution muss der vollständige Generationszyklus der Reproduktion betrachtet werden. Man darf nicht beliebige Ausschnitte davon herausgreifen, so wie es in technologischen oder kulturellen Bereichen vorkommen kann. Die Reproduktion beginnt mit der Befruchtung und endet mit der Befruchtungsfähigkeit zur nächsten Generation. In jedem Stadium sind Fehler möglich, bis zur Tötung von Kindersoldaten, die für die weitere Reproduktion nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Selektion beschränkt sich also keinesfalls nur auf die nachgeburtlichen Phänotypen oder die Äußerlichkeiten, wie oft irrtümlich angenommen wird, selbst in der Fachliteratur. Ob man diese Vorgänge als Irrtum, als Fehler oder als (negative) Selektion bezeichnet, das ist im Rahmen oder im Verständnis der Evolution einerlei. Es sind nur Repräsentanten für die realen, im Effekt vergleichbaren Vorgänge.

  26. @Anton Reutlinger

    »Die Selektion beschränkt sich also keinesfalls nur auf die nachgeburtlichen Phänotypen oder die Äußerlichkeiten, wie oft irrtümlich angenommen wird, selbst in der Fachliteratur.«

    Ich schätze, da kommt es darauf an, was Gegenstand der Untersuchung ist. John Maynard Smith‘ Spieltheorie beispielsweise kann sich nur auf Individuen beziehen, die das Licht der Welt erblickt haben. Ungelegte Eier sind nun mal schwierig zu handhaben.

    Aber die Übergänge von vorgeburtlicher zu nachgeburtlicher Auslese sind fließend, ein mangelhaft ausgebildetes Immunsystem macht sich eben erst in der Umwelt so richtig bemerkbar. Ein fehlerhafter Herzmuskel kann schon viel früher die Entwicklung beenden.

    Aber all dies hat m. E. nichts mit jenen Selektionsprozessen zu tun, die gemeint sind, wenn von evolutiven Systemen die Rede ist. Da geht es offenbar nur um die Auseinandersetzung des Individuums mit den Bedingungen der Umwelt.

    Ein nicht geborener Nachkomme bzw. nicht befruchtetes und/oder nicht gelegtes Ei wäre aus kulturevolutionistischer Sicht wie ein Gedanke, der nicht kommuniziert wird—irrelevant für den Fortgang der (kulturellen) Evolution.

    Im Übrigen wird bei der Selektionsfrage häufig unterschlagen, dass es sich im Falle der Biologie um eine natürliche Selektion handelt, was etwas völlig anderes ist als die artifizielle Selektion etwa eines Pflanzenzüchters. Das eine ist zuvörderst ein stochastischer Prozess, das andere eine zielgerichtete Handlung. Und bei einem stochastischen Selektionsprozess ist keineswegs sichergestellt, dass vor allem die physisch Tauglichsten überleben und sich fortpflanzen (aber es passiert offenbar häufig genug).

    Wie wichtig ein richtiges Verständnis der natürlichen Selektion/Erhaltung auch für bestimmte kulturwissenschaftliche Fragestellungen ist, kann man an der verbreiteten Vorstellung ersehen, demographische Daten (wie z. B. Familiengrößen) könnten Hinweise auf evolutionsbiologisch relevante Vorgänge liefern.

  27. @Balanus;
    Fast 100% Zustimmung, bis auf eine kleine Ausnahme:
    Aber all dies hat m. E. nichts mit jenen Selektionsprozessen zu tun, die gemeint sind, wenn von evolutiven Systemen die Rede ist. Da geht es offenbar nur um die Auseinandersetzung des Individuums mit den Bedingungen der Umwelt.

    Entscheidend ist nicht, was der Mensch meint und denkt, sondern wie die Natur funktioniert. Die Umwelt ist nicht nur die äußere Umwelt, sondern die Umwelt des Embryos und Fötus, also der mütterliche Organismus. Es ist nicht weiter notwendig zu begründen, dass Alkohol, Medikamente und Drogen, sogar die Nahrungsgewohnheiten der Mutter für das Kind selektiv wirksam sind. Die Tatsache, dass alle Menschen in einer ähnlichen Umwelt leben, weil die Erde relativ homogene Bedingungen aufweist, verschleiert die Wirksamkeit der Umwelteinflüsse. Dasselbe gilt für kulturelle und soziale Einflüsse auf Neugeborene in der Intelligenzforschung.

  28. Die Memetik wurde von Dawkins vor ca. 40 Jahren ins Leben gerufen, danach intensiv diskutiert, doch heute ist sie tot. Ihr fehlt u.a. die Vereinbarkeit mit der Physik. Wesentliche Anfangsvertreter der Memetik (wie Robert Aunger) haben sich längst von ihr abgewendet. Wissenschaftstheoretiker haben sie zum Teil hart kritisiert und ihr gar den Wissenschaftsstatus abgesprochen.

    Mich überzeugen die Ausführungen nicht. Vielleicht sollte man in Deutschland einmal weniger nach Dawkins und Co Ausschau halten, sondern nach dem, was direkt in Deutschland entwickelt worden ist, z. B. Mersch: “Die egoistische Information”. Das geht weit über die Memetik hinaus und ist auch von Wissenschaftstheoretikern wie Vollmer sehr positiv rezensiert worden. Allerdings ist diese Theorie wesentlich komplexer als die doch sehr einfach gestrickte Memetik.

    • So mausetot scheint sie mir heutzutage gar nicht zu sein, wenn auch nicht immer unter diesem Namen. Schurz z,B. zeigt sehr schön in seinem Buch zur verallgemeinerten Evolutionstheorie, dass viele empirische Arbeiten zur kulturellen Evolution zur Unterstützung des Mem-Konzepts herangezogen werden können. Und Blackmores letzte Arbeiten zur Memetik sind gerade einmal ein paar Jahre alt und werden, wie mir scheint, als gar nicht so abseitig angesehen. Ich meine nicht, dass man die Dawkins’sche Memetik wie eine (falsifizierbare) naturwissenschaftliche Theorie betrachten darf, dazu ist sie ja viel zu wenig formalisierbar und begrifflich unscharf. Aber auch solche Ideen haben ihre Berechtigung, und gerade dieses Beispiel zeigt ja, das damit eine neuartige Sicht auf kulturelle Entwicklungsprozesse möglich geworden war, die bis heute bedeutsam ist. Vielleicht sollte man die Rede von der Evolution der Meme eher als eine Art Denkstil im Sinne Ludwik Flecks betrachten.

      (Diesen) Mersch kannte ich noch nicht. Werde ich mir mal ansehen – vielen Dank für den Hinweis.

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