Da macht man sich jahrelang die Mühe, zu einem besseren Verstehen und zu einer besseren Versorgung für depressiv Erkrankte beizutragen, und dann kommen am 26.6. diese Schlagzeilen:
Pillen-Sucht auf Rezept! Psycho-Pillen mit Suchtpotenzial - Psychopharmaka sind weiblich. Eine Studie zeigt, dass Frauen mit Psychopharmaka überversorgt werden. Experten warnen vor zunehmender Medikamentensucht.
Ein Blatt schreibt sogar, dass Frauen viel zu lange mit Antidepressiva behandelt werden, obwohl "diese Mittel oft abhängig machen".
(Quellen: Blätterwald)
Was für ein Unsinn! Vor diesem Hintergrund wundert es mich nicht, wenn Menschen mit Depressionserfahrung immer mehr Hemmungen kriegen, einen Psychiater aufzusuchen - viele dürften nach diesen Meldungen glauben, dass sie mit "Psychopillen" abhängig gemacht werden sollen...
Dann will ich mal etwas Ordnung ins Chaos bringen.
Der Barmer GEK Arzneimittelreport 2012, auf den sich die Schlagzeilen beziehen, beschreibt, dass Frauen mehr Psychopharmaka verschrieben bekommen als Männer, nämlich 1 ,9- bis 2,9-mal mehr Neuroleptika und Antidepressiva. Leider wird nicht differenziert, welchen Stellenwert Neuroleptika und Antidepressiva jeweils genau haben, aber sei's drum. Ein paar Absätze weiter heißt es, dass die Verordnungen der süchtig machenden Benzodiazepine ab-, die der Antidepressiva zugenommen habe, während die der (ebenfalls potenziell abhängig machenden) Schlafmittel gleich geblieben sei.
Der stellvertretende Barmer GEK Vorstandsvorsitzende Schlenker weist in der Pressemappe darauf hin, "dass der Frauenanteil mit einer ambulanten Diagnose „Depressive Episode“ bei 12,7 Prozent, der Männeranteil bei 5,9 Prozent liegt. Somit passen die Anteile bei den Psychopharmaka ins Bild der Diagnosehäufigkeit. (...) Ob Frauen zu viel Psychopharmaka einnehmen oder aber Männer zu wenig, das müssen wohl weitere Studien klären".
Haben die Medien das so berichtet? Nein. Sie haben sich auf Prof. Glaeske gestürzt. Das ist der, der letztes Jahr verlauten ließ, dass Demente unsachgemäß mit Neuroleptika vollgestopft würden, ohne dass er die Differenzialdiagnose einer organischen wahnhaften Störung berücksichtigt hätte.
Dieser Experte tönt, ebenfalls in der Pressemappe, im Vergleich zu Männern sei festzustellen, dass Frauen Tranquilizer, Antidepressiva und Schlafmittel ohne erkennbare therapeutische Indikation in einer Menge verordnet würden, die auf Dauer zu erheblichen unerwünschten Wirkungen führen könne. Er vermutet: "Bei vielen Antidepressiva entstehen nach längerer Einnahmezeit Probleme beim Absetzen, die Betroffenen mögen oder können ohne die Arzneimittel ihre Alltagsbelastung nicht mehr aushalten."
Dieses Zitat sagt mehr über die Haltung des von den Kassen bezahlten Pharmakologen Glaeske zum Krankheitsbild Depression aus, als ihm lieb sein kann.
Ich fasse mal die Fakten zusammen:
Aus den Verordnungsdaten geht hervor, dass Frauen 2-3 mal mehr Antidepressiva verordnet bekommen, als Männer.
Bei Frauen wird 2-3 mal häufiger eine Depression diagnostiziert.
Wie man daraus die "Expertenmeinung" ableiten kann, es gebe keine erkennbare therapeutische Indikation für die längerfristige Verordnung von Antidepressiva, ist mir schleierhaft. Die nationalen Versorgungsleitlinien zur Depressionsbehandlung sagen etwas völlig anderes:
Antidepressiva sollen mindestens 4-9 Monate über die Remission einer depressiven Episode hinaus eingenommen werden, weil sich hierdurch das Risiko eines Rückfalls erheblich vermindern lässt. Patienten mit 2 oder mehr depressiven Episoden mit bedeutsamen funktionellen Einschränkungen in der jüngeren Vergangenheit sollten dazu angehalten werden, das Antidepressivum mindestens 2 Jahre lang zur Langzeitprophylaxe einzunehmen.