Allez les Blogs – Der Herrscher der Symmetrie

Symmetrie hat für die Chemie eine besondere Bedeutung: Die verschiedenen Spiegel- und Drehsymmetrien der Moleküle haben entscheidende Auswirkungen auf ihre Eigenschaften, um so mehr, je komplexer die Chemie wird: Das Leben selbst ist linkshändig. Doch die ersten Verbindungen von Symmetrie und Chemie stammen aus der Mineralogie, der Wissenschaft von den Kristallen[1]. Wer schon einmal einen Kristall in der Hand hatte, sieht den Grund: Fast alle kristallinen Stoffe bilden auffallend regelmäßige Strukturen, die schon auf ihre grundlegendste Eigenschaft hindeuten. Ihre Bestandteile folgen einer strengen Ordnung auf atomarer Ebene – der Kristallstrukturen.

Bild: Andif1, Elementarzelle von B2O3 in Raumgruppe P31</sub>21, CC BY-SA 3.0
Elementarzelle von B2O3 in Raumgruppe P3121, Andif1, CC BY-SA 3.0

Warum erzähle ich das? Heute ist, wie Thilo Küssner in seinem Blog berichtet, der Welttag der Kachelungen – und Kristalle sind, mathematisch gesprochen, Kachelungen des Raumes. Das heißt, sie bestehen aus identischen Körpern, die so aneinander gefügt sind, dass sie den Raum lückenlos ausfüllen. Diese Körper bezeichnet man in der Chemie als Elementarzelle – sie sind die grundlegenden Bausteine aller Kristalle. Wenn man die Elementarzelle kennt, kennt man den Kristall.

Die enorme Vielfalt der Minerale in der Natur hat sich allerdings schon früh als trügerisch erwiesen: Bereits in den 1880er Jahren zeigte der russische Mineraloge Jewgraf Stepanowitsch Fjodorow, Евграф Степанович Фёдоров, dass es lediglich 230 Typen von Elementarzellen gibt. Mit dieser Einsicht hielt die Symmetrie Einzug in die Chemie.

Den Raum restlos ausfüllen

Fjodorow wurde – nach dem damals in Russland gültigen julianischen Kalender – am 10. Dezember 1853 in Orenburg nahe der heutigen Grenze zu Kasachstan geboren. In seiner Jugend war er unter anderem im Untergrund und schrieb für revolutionäre Zeitschriften, doch schon mit 26 Jahren begann er an einer anderen Revolution zu arbeiten. Als er im Jahr 1880 ins Bergbauinstitut eintrat, (heute National Mineral Resources University, Национальный минерально-сырьевой университет), die älteste technische Hochschule Russlands, schrieb er bereits an seinem ersten Buch. Unter anderem ging es ihm um konvexe Paralleloeder (Körper mit parallelen Kanten und allen Ecken nach außen), mit denen man den dreidimensionalen Raum lückenlos pflastern kann – eben jene Kachelung des Raumes, die man zur Beschreibung von Kristallen braucht.

Zweidimensionale Kachelungen
Bild: Lars Fischer

Am bekanntesten sind Kachelungen in der Ebene. Wir haben sie alle im Badezimmer. Dort gibt es exakt zwei konvexe Paralleloeder, mit denen man die Ebene durch reines Verschieben lückenlos kacheln kann, nämlich Parallelogramme und Sechsecke. Interessanter wird es natürlich, wenn man mehr Symmetrieoperationen erlaubt. Darf man zum Beispiel drehen, funktioniert das auch mit Dreiecken; wirklich unterhaltsam wird es mit unregelmäßigen und konkaven Formen, wenn also Ecken nach innen zeigen dürfen, oder wenn mehrere unterschiedliche Polygone verwenden. Spektrum-Mathematikredakteur Christoph Pöppe hat sich dem Thema unter anderem hier gewidmet.

Aber auch wenn heute der Tag der Kachelungen ist, das führt uns zu weit weg vom Thema, nämlich E.S. Fjodorows 230 verschiedenen Raumgruppen. Fjodorow nämlich untersuchte die möglichen Grundbausteine solcher dreidimensionaler Kachelungen und ihre Symmetrien. Hat man nämlich ein begrenztes Objekt, zum Beispiel ein Molekül, kann man seine geometrischen Eigenschaften anhand der Symmetrieoperationen beschreiben, die mit ihm möglich sind: Drehungen und Spiegelungen.

Die Symmetrie der Kristalle

Im zweidimensionalen Raum ist das noch einigermaßen übersichtlich. Der Fußballplatz zum Beispiel hat zwei Spiegelachsen und eine Drehachse, und damit die sogenannte Punktgruppe pmm in der international üblichen Hermann-Mauguin-Notation. 17 solcher Punktgruppen mit verschiedenen Kombinationen von Symmetrien gibt es in zwei Dimensionen, Fjodorow hat sie quasi als Vorspiel zu den Punktgruppen des dreidimensionalen Raumes beschrieben.

Bild: ClkerFreeVektorImages / Lars Fischer, CC0
Bild: ClkerFreeVektorImages / Lars Fischer, CC0

Beschreibt man eine Fläche oder einen Kristall, reicht die Punktgruppe nicht mehr aus, weil man sehr viele Versionen des gleichen Elements braucht, und dadurch kommen weitere Symmetrien ins Spiel. Man kann zum Beispiel Fußballplätze einerseits simpel nebeneinander stapeln, andererseits aber auch jede Reihe um eine halbe Platzlänge verschieben. Das sind zwei unterschiedliche Raumgruppen mit der gleichen Punktgruppe.

Im dreidimensionalen Raum der Kristalle gibt es 32 Punktgruppen, die auch in einer Kachelung des Raumes funktionieren und deswegen in den 230 Raumgruppen auftauchen. Das gilt nicht für alle Punktgruppen: Der Fußball zum Beispiel hat eine ikosaedrische Symmetrie, Punktgruppe 532/m nach Hermann-Mauguin-Notation – er hat eine fünfzählige Drehachse, und sowas gibt es in Kristallen nicht.

In der Chemie macht man es sich gemeinhin einfacher, wenn man Kristallstrukturen beschreiben will. Wenn man sich nicht mit Punktgruppen rumschlagen will, gibt es die sieben Kristallsysteme, die man vollständig über die Kantenlängen und Winkel der Elementarzelle beschreibt: Dem gedachten geometrischen Körper in der Kristallstruktur, der einen Satz Atome so umschließt, dass viele dieser Elementarzellen aneinandergereiht den Kristall ergeben. Sie sieben Systeme habt ihr sicher schon mal gehört: trigonal, hexagonal, kubisch, tetragonal, orthorhombisch, monoklin und triklin.

Kuriositäten jenseits von Fjodorow

So ganz ohne Symmetrien kommt man allerdings nicht aus, deswegen wählt man als Elementarzelle nicht die kleinste mögliche, sondern jene, die alle möglichen Symmetrien des gesamten Kristalls umfasst. Das allerdings führt dazu, dass auf den Ecken der Elementarzelle meist kein Atom oder Molekül mehr liegt. Wenn man die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Elementarzellen berücksichtigt, erhält man die 14 Bravais-Gitter. Die beschreiben die geometrischen Verhältnisse innerhalb der Elementarzelle – zum Beispiel das kubisch-flächenzentrierte Gitter, auf dem die Kristallstruktur elementaren Goldes basiert, oder das hexagonales Kristallsystem des gängigen Wassereises. Für Kristallographen hat es die die Raumgruppe P63/mmc.
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Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Fjodorow selbst veröffentlichte erst einmal 228 der Gruppen, sein deutscher Kollege Arthur Moritz Schoenflies gelangte etwas später zu 227 Raumgruppen. Erst nachdem beide intensiv korrespondierten, publizierte Fjodorow im Jahr 1891 seinen kompletten Satz der 230 Raumgruppen aller Kristalle.

Das war für fast einhundert Jahre das letzte Wort in Sachen Kristallstrukturen – dass es jenseits dieser 230 Kristallvarianten keine geordneten Festkörper gebe, galt als mathematisch belegte Tatsache. Doch das erwies sich als Irrtum. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckte der israelische Forscher Dan Shechtman bei Experimenten mit Metallen eine Struktur, die es nicht geben sollte: Sie hatte eine bis dahin für unmöglich gehaltene fünfzählige Symmetrie – im Jahr 2011 erhielt Shechtman für die Entdeckung der Quasikristalle den Nobelpreis für Chemie.

Was Fjodorow von dieser Abnormität gehalten hätte, ist eine interessante Spekulation. Der Tonfall seiner Briefe an Schoenflies legt nahe, dass er daran seinen Spaß gehabt hätte. Und besonders entzückt wäre der Mineraloge sicherlich über den Umstand, dass die fünfzählige Symmetrie keine reine Laborkuriosität ist – 2009 berichteten vier Wissenschaftler über das natürlich vorkommende Mineral Ikosahedrit, gefunden im äußersten Nordosten von Fjodorows Heimatland Russland.

Lust auf mehr Wissenschaft aus Russland? Der Nature Index, eine große Datenbank über Publikationen aus vielen Ländern und Instituten, gibt Ihnen einen Überblick über die dortige Forschungsszene.
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[1] Jaja, ich weiß, und amorphe Sachen und so.

3 Kommentare

  1. Der Symmetriebegriff bildet den Kern einer der ältesten Theorien der bildenden Kunst, die im Kanon des griechischen Bildhauers Polyklet aus der 2. Hälfte des 5. Jhd. v. Chr. überliefert ist. Der Kanon beinhaltet u.a. eine Proportionslehre in der er die idealen Maßverhältnisse des menschlichen Körpers beschrieben werden. Der Mensch wurde als das Maß aller Dinge betrachtet, deshalb kam Polyklets Proportionenlehre nicht nur in der Bildhauerei, sondern auch in der klassisch-griechischen Architektur, hier vor allem im Tempelbau, zur Anwendung. Kunst und Architektur wurden durch die antike Symmetrielehre nachhaltig beeinflusst.

    Den mathematischen Symmetriebegriff findet man also bereits in der Antike. So waren Symmetrie und Harmonie bei den Pythagoreern zentrale Leitbegriffe für die Deutung und Interpretation alles Seienden. Allerdings sahen sie die Mathematik (“Zahlenmystik”) als religiös-philosophische Disziplin an.

    Mathematische Methoden der Gruppentheorie ermöglichten R.-J. Haüy 1801 die Entdeckung des Symmetriegesetzes der Kristallographie und Fjodorow/Schoenflies 1891 die Ableitung der 230 kristallographischen Raumgruppen. Haüy verwendete den Symmetriebegriff erstmals außerhalb der Mathematik, als er das Symmetriegesetz der Kristallographie beschrieb.

    Symmetrien finden sich überall in der Natur und doch hat eine Entwicklung hin zu einem wissenschaftlich fundierten Symmetriekonzept erst relativ spät stattgefunden. Heute sind Symmetriebetrachtungen unverzichtbarer Bestandteil aller Naturwissenschaften, um Aufbau und Struktur sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede von abstrakten Objekten oder Räumen zu erkennen, zu analysieren und zu klassifizieren.

  2. Pingback:Noch mehr mysteriöse Meteorite: Jetzt auch mit Quasikristallen (und schwerer Artillerie) » Exo-Planetar » SciLogs - Wissenschaftsblogs » SciLogs - Wissenschaftsblogs » SciLogs - Wissenschaftsblogs » SciLogs - Wissenschaftsbl

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