Medizynicus Arzt Blog

Krankenhausalltag in der Provinz: Medizin und Satire, Ethik und Gesundheitspolitik

Schneeschaufelhelden

with 24 comments

Herr Wagner ist ein rüstiger Rentner. Er ist Mitte siebzig und bewohnt mit seiner Frau ein kleines Einfamilienhaus am Stadtrand. Heute aber geht’s ihm gar nicht gut.
„Haben Sie nicht eine Aufbauspritze für mich?“ fragt er.
„Wo fehlt’s Ihnen denn?“
„Ich muss mich verhoben haben. Vielleicht eine Muskelzerrung oder so, Herr Doktor!“
„Verhoben?“
„Beim Schneeschaufeln heute früh.“
„Aha?“
„Ja, wissen Sie, wir haben ein Eckgrundstück… das sind jeweils dreißig Meter Bürgersteit an jeder Seite!“
„Und das machen Sie ganz allein?“
„Natürlich, Herr Doktor! Gleich nach dem Wetterbericht im Fernsehen gestern Abend habe ich mir den Wecker gestellt auf fünf Uhr.“
„Fünf Uhr früh?“ Ich schüttele ungläubig den Kopf, „ist das wirklich notwendig?“
„Selbstverständlich, Herr Doktor! Sonst wäre ich doch niemals um sechs Uhr fertig. Wissen Sie, die Stadt hat ja das Streusalz verboten. Aus Umweltgründen, wegen der Bäume. Da dauert das Schneeschaufeln natürlich ein wenig länger…“
Ich schiele auf die Adresse. Eine ruhige Nebenstraße in einer gutbürgerlichen Wohnsiedlung.
„Warum um alles in der Welt müssen Sie denn da morgens um sechs Uhr den Bürgersteig freigeschaufelt haben? In Ihrer Gegend ist doch um diese Zeit noch kein Mensch unterwegs!“
„Darum geht es ja nicht. Um sechs Uhr müssen die Straßen geräumt sein. Das ist so Pflicht bei uns. Wissen Sie das nicht?“
Weiterhin kopfschüttelnd untersuche ich den Patienten. Er sieht wirklich nicht gut aus. Und fünf Minuten später weiß ich auch warum: Das EKG zeigt einen akuten Vorderwandinfarkt.
Soviel zum Thema Muskelzerrung.

Written by medizynicus

21. Dezember 2010 um 05:50

Veröffentlicht in Alltagswahnsinn

24 Antworten

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  1. Danke für das Posting. Ob ich es meinem Papa zeigen soll? Er ist Mitte 70 und genauso drauf. Dazu extrem übergewichtig, aber er ackert wie eine Maschine. Auch im Sommer Rasenmähen bei jeder Hitze.
    Menno, warum sind die Jungs immer noch so unvernünftig, auch wenn sie älter werden.
    Etwas ratlose Grüße, Svenja

    Svenja-and-the-City

    21. Dezember 2010 at 06:38

  2. Auch wenn er wieder wird: Die erste Stufe in Richtung Kiste… 😦

    Aber ich begreife (meine ich) die älteren Mensch: Ab einem bestimmte Punk kann man nur noch zuschauen, wie der eigene Körper zerfällt, nichts mehr so ist wie früher. Und das ist hart!!!
    Da verstehe ich auch, warum dann halb Blind noch Auto gefahren und geackert wird wie eine Maschine: Es geht am Ende nur darum den Abstieg noch etwas herausschieben und nicht wahrhaben zu wollen….

    Keine Ahnung wie ich mal in dem Alter mit dieser Situation umgehen werde.

    lorem42

    21. Dezember 2010 at 07:57

  3. Ohauahauaha… soviel zum Thema Pflichtbewußtsein….
    bei mir kam gestern Morgen eine Kundin, 84! Jahre alt, ewiges Frollein,fit wie ein Turnschuh,

    sie sagte: „ich bin ganz erledigt“,
    „wieso?“ frage ich,

    Sie: „ich hab gerade 27 m Strassenfront vom Schnee befreit, zum 4ten Mal heute Morgen“

    ich:“warum nehmen Sie sich nicht jemanden, der das macht?“

    sie: „ach, bis die jungen Leute aus den Puschen kommen, bin ich doch längst fertig!“

    Später konnte ich mich überzeugen, im ganzen Ortskern war vor ihrem Haus als einzigem anständig geräumt!

    sweetkoffie

    21. Dezember 2010 at 08:22

  4. recht hat er ja, das ist wirklich Vorschrift und wenn ein Frühschichtler ausrutscht, hat er den Salat.
    In seinem Alter sollte er aber schauen, obs nicht wer anders machen kann. Jetzt erst Recht.

    Blogolade

    21. Dezember 2010 at 08:45

  5. Dass die älteren Herrschaften das aber auch so verbissen sehen. Wenn ich mich mal bei uns umschaue, ist das auch nur dort ordnungsgemäß erledigt, wo rüstige Rentner wohnen. Überall anders wird das sehr locker gehandhabt.

    Der Maskierte

    21. Dezember 2010 at 09:23

  6. @Der Maskierte: Manche älteren Herrschaften sind sich einfach der Tatsache bewusst, dass sie stärker auf geräumte Wege angewiesen sind. Weil sie eher ausrutschen und stürzen. Weil ihre Knochen nicht mehr alles mitmachen. Weil sie an Freunden gesehen haben, wie ein Oberschenkelhalsbruch der Anfang vom Ende der Selbständigkeit war. Zumindest in meiner Umgebung sind es die älteren Nachbarn, die nachdrücklich Wert auf sichere Wege legen — und die glücklicherweise ihre Grenzen kennen und bei Bedarf die Hilfe der Jüngeren einfordern.

    anna

    21. Dezember 2010 at 09:49

  7. Solche sind immer noch lieber als die, bei denen du nachts um 4 antanzen darfst, weil es möglicherweise seit drei Tagen ein bisschen im Brustkorb sticht, und man weiß ja nie…

    anna

    21. Dezember 2010 at 10:58

  8. Mein Urgroßvater ist so gestorben. Nach dem Schneeschippen hat er sich in seinen Sessel gesetzt – und ist gestorben. Meine Uroma hat ihn wenig später immer noch friedlich sitzend vorgefunden.

    Und zum Thema Räumpflicht fällt mir ein: Eigentlich eine Unverschämtheit, hab ich mir die Tage wieder gedacht. Die Städte/Gemeinden stellen solche strengen Satzungen auf – bekommen es aber selbst nicht hin, ordentlich zu streuen. Da wird dann höchstens ein Schild aufgestellt: „Eingeschränkter Winterdienst“ oder so. Pfft. Das sollten die Anwohner mal machen…

    Andrea

    21. Dezember 2010 at 11:16

  9. @Anna
    Wie geht das zusammen mit den überall verbreiteten Empfehlungen auch beim geringsten Verdacht IMMER sofort den Notruf auszulösen und mit dem sinngemäßen Spruch „besser 10 mal zuviel als einmal zu wenig“?

    drkall

    21. Dezember 2010 at 12:10

  10. @ Anna: Ich finde deine Aussage vollkommen daneben. Tut mir leid. Ich arbeite auch mit Menschen zusammen, alten Menschen. Und die klingeln auch ständig. Aber kann ich deshalb jedes Klingeln ignorieren? Gerade das EINE klingeln, könnte ein echter Notfall sein. Für mich kommt deine Aussage sehr arrogant rüber und ich hoffe, dass ich nie in die Nähe eines solchen Arztes mit ähnlichen Gedanken bzw. Gebahren komme.

  11. Ich finde, Anna hat recht. Zudem sagt sie ja nicht, es sollte jedes Krankheitszeichen ignoriert werden, sondern beklagt sich über Leute, die seit drei Tagen lächerliche Beschwerden haben und anstatt sie direkt beim Auftreten vom Hausarzt oder zur Not auch Krankenhaus abklären zu lassen, lieber nachts um 4 den Notruf wählen und JETZT und SOFORT Hilfe wollen. Zum Kotzen sowas.

    Shlomo

    21. Dezember 2010 at 17:40

  12. Mich würde mal interessieren, ob du dann auch noch kotzen würdest, wenn es dich selbst beträfe. Es soll nämlich schon vorgekommen sein, dass nur ein kleiner Stich ausreichend ist, um ins Jenseits zu wandern. Und wer darf sich hier aufschwingen um das Wort „lacherlich“ in Zusammenhang mit Beschwerden zu definieren? Ich kann viel verstehen und ich bin die Allerletzte, die die Arbeit von Medizinern nicht zu würdigen weiß. Alleine schon die Wortwahl „antanzen“ lässt in meinen Augen viel zu wünschen übrig. Wenn man sich in seiner Ausübung durch das „Antanzen“ gestört fühlt, sollte man über eine andere Art des Arbeiten nachdenkens. Nichts für ungut, ist nur meine Meinung.

  13. Mich würde mal interessieren, ob du dann auch noch kotzen würdest, wenn es dich selbst beträfe. Es soll nämlich schon vorgekommen sein, dass nur ein kleiner Stich ausreichend ist, um ins Jenseits zu wandern. Und wer darf sich hier aufschwingen um das Wort „lacherlich“ in Zusammenhang mit Beschwerden zu definieren? Ich kann viel verstehen und ich bin die Allerletzte, die die Arbeit von Medizinern nicht zu würdigen weiß. Alleine schon die Wortwahl „antanzen“ lässt in meinen Augen viel zu wünschen übrig. Wenn man sich in seiner Ausübung durch das „Antanzen“ gestört fühlt, sollte man über eine andere Art des Arbeiten nachdenken. Nichts für ungut, ist nur meine Meinung. Und ich werde auch weiterhin in der Nacht um 4 den Notarzt antanzen lassen – auch wenn es nur ein kleiner Stich ist, der einem alten Mann die Nacht zur Hölle macht.

  14. Ich habe gelesen, dass es sich um – gefühlte – Schmerzen in der Brust handeln soll.

    Und in JEDER öffentlichen Empfehlung an medizinische Laien wird empfohlen, beim leisesten Verdacht konsequent einen potentiellen Notfall anzunehmen und entsprechend zu handeln. Man kann die Leute nicht dafür verurteilen, dass sie diesen Empfehlungen folgen. Sie sind nicht selbst für die Diagnose zuständig sondern die Ärzte.

    Wenn es bessere Ratschläge gibt, wie ein Laie Symptome diferenzieren kann, dann mögen diese bitte auch entsprechend öffentlich propagiert werden.

    Ich rede _nicht_ von Patienten, bei denen bereits mehrfach irrtümlich als Herzbeschwerden angenommene Symptome als durch harmlose andere Ursachen bedingt diagnostiziert wurden.

    Es geht nicht an, dass öffentlich eine, vielleicht übertriebene, Furcht vor kardialen Ereignissen geschürt wird, und dann Patienten, die die Harmlosigkeit oder Ernsthaftigkeit ihrer Beschwerden gar nicht beurteilen können, verurteilt werden, wenn dann an anderer Stelle sich wieder beschwert wird, dass der Patient über’s Wochenende gewartet hat statt zum Arzt zu gehen und man ihm dabei quasi die Schuld am Ausmaß der Schädigung selbst in die Shuhe schiebt.

    drkall

    21. Dezember 2010 at 18:01

  15. Ich habe das bei Anna eher als den geliebten 3 Uhr morgens Anruf empfunden – Herr Dokotor, ich habe schon seit 3 Tagen so einen Husten und ein Stechen in der Brust – Notdienst, sofort. Auf einem Mittwoch. 3 Tage Zeit zum Arzt zu gehen verpasst und dann mitten in der Nacht den Notdienst rufen. Oder in die Notaufnahme, Samstag Nacht um 4, weil die Ohrenschmerzen seit 2 Wochen immer noch nicht besser geworden sind.
    Egal, was dem medizinischen Laien erzählt wird – wenn es seit 3 Tagen da war, kann man es auch beim „normalen“ Arzt abklären und muss nicht mitten in der Nacht damit anfangen den Arzt kommen zu lassen.

    Anke

    21. Dezember 2010 at 20:20

  16. Gehört zwar nicht hier hin, aber ich bekomme zu Weihnachten das Buch vom Medizynicus 😉 musste ich mal loswerden, wie ich mich schon darauf freue 😀

    timotheus

    21. Dezember 2010 at 20:20

  17. Du wirst deinen Spaß beim Lesen haben. Garantiert. Ich habe es mir auch bestellt und es im Null Komma Nix durchgelesen. Leider ist es viel zu dünn. Ich hätte gerne noch mehr gelesen…

  18. @anna, die mich ansprach

    Klar, verstehe ich. Aber erstens bin ich noch berufstätig und hüpfe deswegen garantiert nicht um 5 Uhr morgens rum, weil der Herr Renter um 6 Uhr gerne seines Weges ginge, ich aber erst um 2 Uhr nachts vom Kundentermin zurück kam und demzufolge mich erdreiste auch mal 10 Minuten später im Büro aufzuschlagen. Daher ist – wenn ich dran bin – bei mir halt auch mal erst um 9 Uhr geräumt. Das Problem ist ja auch nicht frisch gefallener Schnee, sondern angefrorener und vereister. Der macht die Wege erst rutschig.

    Ich denke, gegenseitige Rücksichtnahme ist angesagt. Und das meine ich mit lockerer Handhabung.

    Der Maskierte

    21. Dezember 2010 at 22:02

  19. @Maskierter: Da habe ich dich wohl falsch verstanden — dachte, dass „sehr locker gehandhabt“ soviel bedeutet wie schlecht bis garnicht erledigt. Deinem letzten Beitrag kann ich nur zustimmen, insbesondere dem Schlusssatz.

    anna

    22. Dezember 2010 at 09:12

  20. Versteh jetzt auch nicht ganz die Aggressionen gegen Annas Post… Jeder im medizinischen Bereich kennt doch diese völlig sinnlosen Notarztanrufe oder Notaufnahmenbesuche mit eben schon seit Tagen bestehenden Beschwerden… Natürlich sollen die Leute kommen, aber eben bitte gleich! Aber auch natürlich können sie im Zweifelsfalle auch nach drei Tagen noch kommen, müssen sich dann aber schon die Frage gefallen lassen, warum sie bisher nichts unternommen haben!
    Meine Top 3 „Notaufnahmen“:

    – 2.00 Samstag morgen: gestern mal kurz Nasenbluten gehabt. Seit Stunden nichts mehr. Jetzt auf dem Heimweg vom Weggehen überlegt, „mal den Arzt draufkucken zu lassen“

    – Husten seit 2 Wochen, ohne Fieber, an einem Donnerstagnachmittag mit der Begründung „beim Hausarzt dauerts immer so lang“

    -„Ich habe da diese Pilze gesammelt, weil mir so eine Frau im Wald gesagt hat, dass man die essen kann und jetzt hab ich sie gegessen und nachher nochmal in meinem Buch nachgeschaut, könnten es nicht auch diese hochgiftigen sein?“ sinnlos, weil die Ursache der Problematik so leicht vermeidbar gewesen wäre…

    chilara

    22. Dezember 2010 at 13:01

  21. „Egal, was dem medizinischen Laien erzählt wird – wenn es seit 3 Tagen da war, kann man es auch beim „normalen“ Arzt abklären und muss nicht mitten in der Nacht damit anfangen den Arzt kommen zu lassen.“

    Vielleicht hat er einfach mal mitten in der Nacht ANGST bekommen?

    drkall

    23. Dezember 2010 at 15:07

  22. @ drkall
    Niemand hat ein Problem mit Patienten, die kommen, weil ihnen der eigene Zustand zunehmend Angst bereitet. Probleme hatte ich mit den Patienten, die einfach darum mitten in der Nacht den Diensthabenden in Anspruch genommen habe, weil es einfacher, ihrer Meinung nach schneller oder bequemer oder passender oder was weiß ich war.
    Notaufnahmen und Notdienste sind für Notfälle. NOTfälle. Nicht für nach der Disko mal gerade abklären lassen, ob der Pickel auf dem Rücken nicht doch was Schlimmes sein könnte. Und wer keine Lust darauf hat in der Woche zum Arzt zu gehen, der sollte sich was schämen am Wochenende mal eben gerade im Krankenhaus vorbeizufahren, weil er dann gerade Zeit hat.

    Anke

    23. Dezember 2010 at 20:33

  23. Die Räumpflicht zu nächtlichen Zeiten ist idiotisch. Wer vor halb acht aus dem Haus geht, fährt eh mit dem Auto… und wer’s noch nicht mitgekriegt hat: Autofahrer müssen ihren Autos das richtige Schuhwerk verpassen, das dürfte für Fußgänger wohl auch gelten. Ich meine mich zu erinnern, daß Leute, die in Sandaletten ausgerutscht sind, dafür vom Richter auch einen hübschen Dämpfer gekriegt haben. Es gibt für Füße, anders als für Autoräder, immerhin sogar Spikesüberzüge.

    Wolfram

    24. Dezember 2010 at 13:30

  24. […] Gehsteig, zum dritten Mal an diesem Tag auf die Idee eine Schneeschaufel zu bedienen, was mich an Medizynicus Schneeschaufelhelden erinnerte…Die Begründung meines Opas klang auch sehr einleuchtend:“Jetzt muss man doch […]


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