Zum Internationalen Tag gegen Rassismus sprach Inga Dreyer mit dem Migrationsforscher Paul Mecheril über die Funktionsweise rassistischer Deutungsmuster und die Frage, wie man kritisch mit solchen Mustern umgehen kann.

Herr Professor Dr. Mecheril, in welchen gesellschaftlichen Bereichen spielt Rassismus in Deutschland eine Rolle?

Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich vom Verständnis von Rassismus ab. Die Tradition, in der ich mich mit der migrationsgesellschaftlichen Wirklichkeit beschäftige, geht davon aus, dass Rassismus zunächst einmal nicht das Ungewöhnliche, das Außergewöhnliche ist, sondern eher ein gewöhnliches Deutungs- und Handlungsmuster, das in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen ist und unter bestimmten Bedingungen auch genutzt wird.

„Es geht um die Legitimation und Durchsetzung von Ungleichheit“

Unter welchen Bedingungen geschieht dies? Welche Funktionen erfüllt Rassismus?

Rassismus ist ein Deutungssystem, das Menschen unter dem Primat der Rassekonstruktion versteht und so behandelt, dass der Wert eines Menschen unterschiedlich ausfällt und dies auch noch irgendwie richtig und gerechtfertigt erscheint. Wobei Rassekonstruktionen in den aktuellen Zeiten nicht notwendig explizit das Wort Rasse beinhalten müssen. Das heißt: Die Konstruktionen sind wirksam, kommen aber ohne die ausdrückliche Verwendung des Begriffs aus und greifen auf Formulierungen zurück wie beispielsweise Kultur, Ethnizität oder in letzter Zeit auch Religion. Im Sprechen beispielsweise über „die Religion der anderen“ können Rassekonstruktionen zum Vorschein kommen. Bei Bedingungen, unter denen eine implizite oder explizite Verwendung von Rassekonstruktionen zu einer rassistischen Figur wird, geht es letztlich um die Legitimation und Durchsetzung von Ungleichheit. Das heißt: Rassekonstruktionen werden an bestimmten Stellen genutzt – alltagsmäßig, institutionell –, um bestimmte Privilegienzusammenhänge zu bewahren und als rechtmäßig auszugeben.

Erklärt das, warum gerade jetzt, da Migrationsbewegungen in Deutschland und Europa so präsent sind, rassistische Deutungsmuster wieder eine so große Rolle spielen – auch in der Politik?

Ja. Rassistische Argumentationen können geäußert werden, weil diese Argumentationsmuster zur Wahl stehen. Unter bestimmten Bedingungen werden sie mobilisiert und aktualisiert. Vielleicht muss unter den gegenwärtigen Bedingungen ein besonderer argumentativer Aufwand betrieben werden, um Privilegienverhältnisse zu bewahren, von denen beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland und Europa sehr profitieren. Bewahren heißt einerseits: praktisch ermöglichen. Zugleich heißt es aber auch, sie als rechtmäßige Verhältnisse auszugeben. Da spielen Zuschreibungen wie „die Bedrohlichkeit der anderen“ eine wichtige Rolle. Die Gefahr, die angeblich von Flüchtlingen ausgeht, kann genutzt werden, um die eigenen Privilegien zu bewahren.

„Ich verstehe Rassismuskritik als Angebot zur Professionalisierung“

Privilegien gibt es ja nicht nur in politischen und wirtschaftlichen Kontexten, sondern auch in sozialen. Wie können soziale Organisationen, zum Beispiel die Deutsche AIDS-Hilfe, mit Rassismus in den eigenen Reihen umgehen?

Also ich würde die rassismuskritische Perspektive immer als Angebot zur Professionalisierung verstehen und weniger als „moralistische Selbstdiskreditierung“. Wir können davon ausgehen, dass diese Muster angesichts der europäischen Geschichte, die zutiefst verwoben ist mit rassistischen Denk-, Fühl- und Handlungsformen – auf allen Ebenen gesellschaftlicher Realität vorhanden sind. Deshalb macht es für eine Professionalisierung Sinn, sich zu der Möglichkeit, auf rassistische Muster zurückzugreifen, reflexiv zu verhalten. Das gilt für die Aidshilfen genauso wie für andere Einrichtungen.

Der erste Schritt ist also, sich selbst zu hinterfragen?

Ja, sich selbst zu hinterfragen und eine Beobachtungsroutine auszubilden dafür, wann beispielsweise auf den unterschiedlichen Ebenen institutionellen Handelns verborgene Rassekonstruktionen eine Rolle spielen. Also: Wie wird zum Beispiel auf Religion, Religiosität, kulturelle Identität, kulturelle Differenz, ethnische Differenz oder ethnische Identität Bezug genommen? Das wären jetzt Marker für mögliche, implizite, an Rassekonstruktionen anschließende Argumentationen. Diese Zusammenhänge gilt es, genauer anzuschauen und zu gucken, wo indirekt und in der Regel ohne eine böse Absicht bestimmte Bilder und Zuschreibungen gezeichnet werden, die andere als rückständig oder womöglich als „in ihrer Identität gefangen“ darstellen.

„In Institutionen macht es Sinn, sich die eigene Personalstruktur anzugucken“

Kann die Förderung von Vielfalt in den eigenen Reihen auch ein Weg sein?

Es stünde jeder Institution gut zu Gesicht, sich im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Pluralität zu öffnen. Wir leben in einem mehrsprachigen gesellschaftlichen Zusammenhang. Es macht unbedingt Sinn, diese Mehrsprachigkeit auch auf die institutionelle Ebene zu ziehen. Darüber hinaus macht es Sinn, sich die eigene Personalstruktur anzuschauen – in mindestens zweierlei Hinsicht. Erstens im Hinblick auf die mit den Biografien verbundenen Zugänge zu migrationsgesellschaftlicher Realität. Zum Zweiten sollte man sich damit auseinandersetzen, welche migrationsgesellschaftliche Realität über den symbolischen Status des Personals artikuliert wird. Es macht einen Unterschied, ob eine Institution auf der Ebene derjenigen, die unbefristete Stellen haben oder Leitungsfunktionen übernehmen, im Wesentlichen weiß repräsentiert ist oder eben nicht nur weiß repräsentiert ist. Das macht den symbolpolitischen Unterschied und artikuliert Vielfalt. Dadurch werden im Hinblick auf die Klientel Signale gesetzt, zum Beispiel jenes, dass etwa die Aidshilfe eben nicht nur eine mehrheitsgesellschaftliche Organisation ist, die sich als solche an Minderheiten wendet.

Beim Thema HIV begegnet man immer wieder dem Vorurteil, dass afrikanische Migrant_innen die Krankheit nach Europa bringen. Was kann man dagegen tun?

Diese Bilder sind eingebunden in eine sehr lange Geschichte der europäischen Konstruktion von Afrika. Das bedeutet nicht notwendig, dass wir es mit verkommenen, bösen Rassisten zu tun haben. Rassistische Bilder sind eingelassen in europäische und auch deutsche Normalität und finden sich in Schulbüchern, medialen Darstellungen und im Handeln der Institutionen. Die Möglichkeiten für die Aidshilfe zum Beispiel liegen hier meines Erachtens erst einmal in einer Selbstreflexion. Bevor der Finger nach außen gerichtet wird, wäre es wichtig, zu schauen, wo im Rahmen der Texte der Deutschen Aids-Hilfe sowie im Selbstverständnis der wesentlichen Akteure solche Vorstellungen eine Rolle spielen. Wir bräuchten weniger eine Aufklärung auf der Ebene von individuellem Vorurteil, sondern stärker auf der Ebene gesamtgesellschaftlicher diskursiver Realität.

„Rassistische Artikulationen und Aktionen nehmen zu“

Noch mal zurück zur politischen Lage in Europa: Was kann man Ihrer Meinung nach gegen den aktuellen Rechtsruck tun?

Es ist eine Zunahme an rassistischen Artikulationen und Aktionen zu beobachten. Allerdings ist der Ruck weniger ausgeprägt, als man denkt. Die Wahrnehmung eines „Rucks“ hängt sicher auch damit zusammen, dass die rassistische Normalität gesellschaftlicher Verhältnisse im öffentlichen Raum eher nicht thematisiert wird. Dadurch ist der Schrecken intensiver bei denen, die nicht um diese Realität wissen oder wissen wollen.

Ich will da den Ausdruck „Ruck“ ein wenig relativieren. Für die rassismuskritische Perspektive ist es weniger ein Ruck als die Wandlung einer Normalität in Richtung einer stärkeren Artikulation von etwas, das ohnehin die gesamte Zeit da ist. Wenn die Muster, in denen Rassekonstruktionen aktiviert werden, um eigene Privilegien zu schützen und zu legitimieren, im Alltagsbewusstseins und auf der Ebene institutioneller Routinen verankert sind, ist die Frage, was man tun kann, einerseits einfach und andererseits überhaupt nicht einfach zu beantworten. Die einfache Antwort ist: Wir müssen auf allen Ebenen eine Art rassismuskritischer Bestandsaufnahme machen. Die schwierige Antwort ist: Die Wahrscheinlichkeit, dass das geschieht, ist eher gering. Denn dann würden wir zu einer sehr, sehr grundlegenden Revision gesellschaftlicher Verhältnisse kommen. Dabei gibt es viel zu gewinnen, aber noch viel mehr zu verlieren. Insofern werden die Kräfte, die etwas zu verlieren haben, nicht sehr motiviert sein, in diese Revision einzusteigen.

„Es wird immer Herrschaftsverhältnisse geben“

Das klingt so, als müssten wir uns damit abfinden, dass es immer Rassismus geben wird?

 Wir müssen uns zumindest damit abfinden, dass es immer Herrschaftsverhältnisse geben wird. Gegenwärtig sind wir Zeitzeug_innen eines ziemlich offen ausgefochtenen Kampfes um die Frage, in welchen gesellschaftlichen Verhältnissen wir leben wollen. Es ist ja begrüßenswert, dass es diesen symbolischen Kampf gibt. Ich bin aber skeptisch, ob das Ergebnis kurzfristig dazu beiträgt, dass weniger rassistische Figuren notwendig sein werden. Wenn Sie beispielsweise auf die Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU gucken, dann ist Pessimismus noch eine sehr optimistische Beschreibung der Verhältnisse. Solange wir ein Europa haben, das seine Grenzen sichert und eine Migrationspolitik und Fluchtpolitik betreibt, die es darauf anlegt, dass Menschen sterben, und wir zugleich eine Selbstinszenierung Europas als Ort und Hort der Bewahrung von Menschenrechten haben, muss es notwendigerweise Rassismus geben, um diese Politik zu legitimieren. Es ist gewissermaßen ein doppelter Rassismus: Ein Rassismus, der Menschen ihr Recht auf Mobilität, um zu leben, verwehrt, und ein Rassismus, der dieses verwehrte Recht so wendet, dass das Vorenthalten als legitim erscheint. Angesichts dessen kann die Situation nur mit einem gerüttelt Maß an Ignoranz und „alternativen Fakten“ als positiv bezeichnet werden. Das gegenwärtige Europa lebt von dieser Heuchelei. Rassismuskritik ist somit auch ein Einsatz für ein anderes Europa.

Vielen Dank für das Gespräch!

Paul Mecheril ist Professor für Internationale Bildung am Institut für Pädagogik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Direktor des dort ansässigen Center for Migration, Education und Cultural Studies.

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