In der erhitzten Diskussion um ungeschützte oder geschützte Sexualität von HIV-Positiven wird es Zeit für eine nüchterne Betrachtung, sagt unser Gastautor Honke Rambow.

Der Beitrag erschien zuerst im März 2016 auf www.kulturwest.de; wir haben ihn leicht bearbeitet und aktualisiert. Herzlichen Dank an den Autor und die Herausgeber_innen für das Recht zur Zweitveröffentlichung!

„Das Kondom ist verknüpft mit einer Idee von Sauberkeit, die sich nicht mehr auf seine medizinische Schutzwirkung beschränkt. Wer Kondome benutzt, ist auch in einem moralischen Sinne der Reine und Gute. Wer sie nicht benutzt, steht im Verdacht, sich amoralisch zu verhalten, wird als ‚böse‘ und bis in die Rechtsprechung hinein sogar als kriminell angesehen. Der Kondomgebrauch ist zu einem moralischen Ausweis geworden, der für Verantwortung, Rücksichtnahme und Empathie für das Gegenüber steht. Dem Kondom ist somit eine gewisse Heiligsprechung widerfahren. Das schließt – wie oft bei normativen Prozessen – ein, dass es für das allein selig machende Präventionsmittel gehalten wird.“

Wer Kondome benutzt, wird auch moralisch als der Reine und Gute gesehen

Dr. Dr. Stefan Nagel ist Mediziner im Bereich Psychosomatik und Psychotherapie sowie Geisteswissenschaftler und sieht diese symbolische Verknüpfung von Kondomgebrauch und Moralität als durchaus problematisch an. Als in den 1980er-Jahren Aids, also das Vollbild und Endstadium der HIV-Infektion, den Krankheitsverlauf zwingend prägte, waren Kondome tatsächlich das einzige Mittel, die Epidemie einzudämmen. Doch seitdem hat ein in der Medizingeschichte beispielloser Erfolg die Situation verändert: Menschen, die sich mit dem Virus infiziert haben, müssen dank der medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten kaum mehr fürchten, in das Endstadium der Erkrankung zu kommen. Soweit zurzeit abschätzbar, haben sie voraussichtlich sogar eine ähnliche Lebenserwartung wie Nichtinfizierte. Die HIV-Infektion hat sich seit Mitte der 90er-Jahre vom sicheren Todesurteil zur chronischen Krankheit gewandelt.

Und noch etwas Entscheidendes hat sich mit der Kombinationstherapie aus mehreren Medikamenten verändert: HIV-positive Menschen können unter erfolgreicher Therapie das Virus nicht mehr weitergeben, da sich kein Virus mehr in den entsprechenden Körperflüssigkeiten befindet. Das stellte bereits 2008 ein Papier der schweizerischen Eidgenössischen Kommission für AIDS-Fragen (EKAF) fest und formulierte bestimmte Bedingungen, unter denen Sexualität zwischen einem infizierten und einem nichtinfizierten Partner auch ohne Kondomgebrauch als ungefährlich gilt. Je mehr sich diese Botschaft nun verbreitet und auch in konkrete Präventionskampagnen umsetzt, umso mehr erregt sich eine Diskussion in Deutschland um dieses auch als „Treatment as Prevention“ (Prävention oder Schutz durch Behandlung) bezeichnete Vorgehen und die damit verbundene Nichtbenutzung von Kondomen durch HIV-infizierte Menschen.

Schutz durch Therapie führt zu erregten Diskussionen

Ein Auslöser in der letzten Zeit war ein junger Mann, der auf Facebook bekannte, dass er als HIV-Positiver Sex ohne Kondom habe und seine Partner nicht immer über seinen Status informiere, da er wisse, dass er keine Gefahr für sie darstelle. Eine private Aussage, die er selbst nicht als gezielte Provokation gemeint habe, wie er sagt. Dennoch verbreitete sie sich, auch befeuert mittels einer kleinen Anfrage im NRW-Landtag durch die FDP-Abgeordneten Ulrich Alda und Susanne Schneider, rasant. Wenige Tage später startete die Kampagne „Wir machen’s ohne – Safer Sex durch Therapie“, in der sich in Therapie befindliche HIV-Positive zum Sex ohne Kondom bekennen, auf Facebook.

Mit Blick auf die medizinischen Erkenntnisse wäre daran nichts zu kritisieren. Die Kombinationstherapie senkt die Viruslast im Blut so weit, dass die Weitergabe des Virus nahezu ausgeschlossen ist. Zumindest ist das Risiko nicht höher als bei (korrektem) Kondomgebrauch, der im Gegensatz zu verbreiteten Vorstellungen ebenfalls nicht ohne verbleibendes Risiko ist, also keineswegs hundertprozentigen Schutz darstellt. Doch die Reaktionen auf die Kampagne waren sowohl innerhalb der schwulen Community als auch außerhalb ablehnend und überaus heftig.

„Die dahinter stehende Bewertung des Kondomgebrauchs als Ausweis für moralisch richtiges Verhalten ist kaum noch aus den Köpfen heraus zu bekommen“, erklärt Nagel. „Zudem geschieht das alles vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die momentan Sexualität wieder viel stärker als etwas Bedrohliches empfindet, das eingedämmt und reguliert werden muss. Das zeigt sich zum Beispiel auch an Selbstdefinitionen wie der ‚Besorgten Eltern‘ in Baden-Württemberg und anderswo. Diese Eltern fürchten Risiken für ihre Kinder durch eine zu liberale Sexualaufklärung in Schulen. So kombiniert sich aktuell eine diffuse und wenig reflektierte Sexualitätsangst mit der vor HIV und Aids, wobei diese Infektion schon von Anfang an symbolisch für eine moralisch fragwürdige und problematische Sexualität stand.“

Sexualitätsangst kombiniert sich mit der Angst vor HIV

Verschärfend tritt hinzu, dass der erwähnte junge Mann in der schulischen Aufklärung tätig war. Mittlerweile ist er zum Schutz der Organisation von seinem Amt zurückgetreten. So wie ‚Besorgte Eltern‘ unsinnigerweise fürchten, dass sich ihre Kinder allein durch die Aufklärung über sexuelle Vielfalt ‚anstecken‘ und plötzlich lesbisch und schwul werden könnten, setzt auch beim Thema HIV ein Beschützerinstinkt ein, der stärker als die Faktenlage ist. Da das Aufklärungsprojekt unter anderem vom Land NRW finanziert wird, musste auch Gesundheitsministerin Barbara Steffens Stellung beziehen. Nahezu reflexhaft forderte sie die AIDS-Hilfe dazu auf, keinesfalls von der hergebrachten Präventionsstrategie abzuweichen. Auch auf Nachfrage relativiert sie diese Aussage nur insofern, als sie anmerkt: „Dass ‚Schutz durch Therapie‘ in einer festen Partnerschaft ein wichtiger Schritt zur Normalisierung des Lebens ist, muss ebenso vermittelt werden.“ Nagel sieht hier eine fragwürdige Hypostasierung von Partnerschaft. „Ganz abgesehen davon, dass damit ein Bild von Partnerschaft transportiert wird, das mit der Lebensrealität (und Infektionsausbreitung) wenig zu tun hat, steckt die Idee dahinter, dass Partnerschaft sui generis etwas Gutes ist. Wohlgemerkt: Die institutionalisierte Partnerschaft! Zum ‚heiligen‘ Kondom tritt hier die Vorstellung vom ‚heiligen‘ Paar.“

Tatsächlich jedoch sind eine entscheidende Untergruppe für die Weitergabe von HIV-Neuinfektionen mittlerweile Menschen in festen und ‚treuen‘ Partnerschaften, ohne dass sie das wirklich sind. Auch Steffens’ Einlassung kann daher auf Basis einer intuitiven Angst vor nicht domestizierter Sexualität verstanden werden. Nur dort, wo die Sexualität bereits durch die Partnerschaft (vermeintlich) eingedämmt ist, ist der Schutz durch Therapie ungefährlich. Die intuitiven Ängste, die das Festhalten am Kondom als alleinigem Präventionsmittel erklären, offenbaren sich in diesem Satz: „Die Erfolge in der HIV-Therapie dürfen aber nicht zu einer neuen generellen Sorglosigkeit beim Schutz vor Infektionen führen.“ Auch ein Mensch, der sich und seine Partner durch regelmäßige medizinische Behandlung schützt, verhält sich keineswegs sorglos, schon gar nicht in einem generellen Sinne, zumal er in den meisten Fällen sehr viel mehr Dinge zu beachten hat und de facto auch beachtet als jemand, der lediglich ein Kondom überstreift.

Infektionsrisiken gehen heute eher von jenen aus, die sich fälschlich für HIV-negativ halten

So wird der erfolgreich behandelte HIV-Positive aber gerade nicht wahrgenommen. Ohne rationale Begründung wird sein kondomloser Sex als „generelle Sorglosigkeit“ und ein damit gefahrvolles Ausleben von Triebhaftigkeit und das wiederum als Bedrohung der gesamten Gesellschaft eingeschätzt. Das tatsächliche Infektionsrisiko geht real jedoch eher von jemandem aus, der sich für HIV-negativ hält, es de facto womöglich schon lange nicht mehr ist, aus einem trügerischen Sicherheitsgefühl aber keine Kondome benutzt. Für ihn hat die Präventionsbotschaft des Kondomgebrauchs weiterhin höchste Relevanz, allerdings nicht mehr für den gut behandelten HIV-Positiven.

Würde man der „Wir machen’s ohne“-Kampagne die Möglichkeit geben, ihre angestrebte Wirkung zu entfalten, nämlich vermeintlich HIV-Negative zu regelmäßigen Tests zu bewegen, würde das in Verbindung mit einer konsequenten Behandlung HIV-positiver Mensch sicherlich am wirkungsvollsten helfen, die Zahl der Neuinfektionen zu senken. Doch genau hier liege das Problem, wie Nagel konstatiert. Es braucht einen Paradigmenwechsel: „Das Problem ist die Vorstellung, auf der sicheren Seite zu stehen und nichts tun zu müssen, wenn ich mich für HIV-negativ halte oder es tatsächlich bin. Vermeintlich ist nur der Positive in der Pflicht zu handeln. Dieser naheliegende, aber dennoch falsche Gedanke ist eines der Grundübel der ganzen Diskussion. Die Botschaft, dass ein HIV-Positiver nicht mehr unmittelbar, sondern nur noch indirekt durch seine Behandlung eine Präventionsverantwortung trägt, verstößt gegen die Intuition. Was durch die ergänzend zum Kondomgebrauch hinzukommende Präventionsbotschaft des ‚Schutzes durch Behandlung‘ erforderlich wird, ist eine Umkehrung des Denkens: Plötzlich sind diejenigen die ‚Gefährlichen‘, die bisher immer die ‚Guten‘ waren. Und das geht nicht in die Köpfe.“

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